Menschen etwas beizubringen ist eine der erfüllendsten, sinnstiftendsten und beglückendsten Aufgaben, die ich mir vorstellen kann. Ich unterrichte für mein Leben gern, auch wenn es mich manchmal in den Wahnsinn treibt. Die Relevanz von Bildung steht mir dieser Tage einmal mehr sehr deutlich vor Augen. Denn unter Bildung verstehe ich nicht nur Wissen oder nur Können, sondern viel mehr, auch wenn Kenntnisse und Fähigkeiten zur Bildung dazugehören. Aber Bildung ist mehr als die Summe ihrer Teile.

Der vielbeschworene Tweet ist hinreichend besprochen. Obwohl ich mich im ersten Moment, der Erinnerung an meine eigene Schulzeit verhaftet, stark damit identifizierte, habe ich mich im Verlauf der Diskussion doch davon abgewandt. Steuern, Miete und Versicherung lernt man dadurch am besten, dass man im Leben damit konfrontiert wird – nicht theoretisch in einer trockenen Unterrichtsstunde. Aber was vermittelt einem die Schule dann? Und was die Universität? Was ist die ominöse Bildung, die der Bildungspolitik ihren Namen verleiht? Warum heißt es beispielsweise nicht Wissenspolitik?

Jedes Jahr erkläre ich meinen Erstsemestern, dass sie als Studierende der Geisteswissenschaften in den wenigsten Berufen später mit Fachwissen punkten können. Natürlich gibt es die klassischen Geisteswissenschaftlerkarrieren, in denen man das Fachwissen aus Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft oder Philosophie wirklich benutzen kann. Was aber geschieht mit den vielen Absolventen, die in der freien Wirtschaft landen? PR und Marketing, Unternehmensberatung, Eventmanagement – man liest doch immer, dass diese Branchen auch Geisteswissenschaftler brauchen. Sicherlich aber nicht, weil die den Unterschied zwischen einer ionischen und einer dorischen Säule erklären können oder die Hälfte aller Shakespeare-Sonnette auswendig wissen.

Ich will meinen Studierenden beibringen, zu denken. Sie sollen Strukturen erkennen können, kreative Lösungsvorschläge für Probleme erarbeiten, sie sollen sich selbstständig und intensiv mit einem Thema auseinandersetzen können und darüber nachdenken, wie sie dieses Thema interessant einem Publikum vermitteln können – und zwar auch dann, wenn sie mit dem Thema auf den ersten Blick nicht viel anfangen können. Vor allem sollen sie lernen, Fragen zu stellen. Erschreckenderweise muss ich feststellen, dass genau das meinen Studierenden immer schwerer fällt. Sie suchen nach klaren Antworten, eindeutigen Situationen, sie wollen ihre Wissenschaft schwarz und weiß, richtig und falsch. Eigene kontroverse Fragen an den Gegenstand zu formulieren, interessiert sie kaum. Sie kennen die Lust am fachlichen Disput nicht, die Freude, die es macht, ein abstraktes Problem von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten, Perspektiven anzutesten, abzugleichen, in Bezug zueinander zu stellen. Sie wollen die eine, richtige Interpretation. Meine Aufgabe ist es, ihnen beizubringen, dass die Vielfalt der Lesarten, die Unendlichkeit der Deutungsmöglichkeiten etwas wunderschönes ist und viel mehr Spaß macht als die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen – der einen Antwort.

Meine Überzeugung ist es, dass in der Auseinandersetzung mit den richtigen Fragen echte Bildung entsteht. Die richtigen Fragen sind es, die uns zwingen, zu argumentieren. Niemand wächst daran, dass er eine vorgefertigte, „richtige“ Antwort auswendig lernt. Ich versuche, meinen Studierenden zu vermitteln, dass sie nicht mit jedem Text, den sie bei mir lesen, einverstanden sein müssen, dass sie nicht jede Methode in der Zukunft zu benutzen gezwungen sind – dass sie Methoden aber erst ablehnen dürfen, wenn sie sie in ihren Grundlagen verstanden haben. Einen philosophischen Grundgedanken zu verurteilen, weil man ihn nicht versteht, ist leicht. Zu argumentieren, warum man ihn nicht für schlüssig oder anwendbar hält, ist ungleich viel befriedigender.

Es ist diese Art von Bildung – die Fähigkeit zur kritischen, vielfältigen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand -, die auch in der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Tagesgeschehen von Relevanz ist, in dem radikale Islamkritiker und mehr oder weniger versteckte Antisemiten ihre Meinungen unter jeden zweiten Nachrichtenbeitrag schreiben. Gedankengut macht die Runde, das wir seit 70 Jahren deutlich widerlegt zu sehen hofften und das sich offenbar dennoch bisher nicht ausmerzen ließ. Das ist schlimm und macht mir Angst. Wie ist damit umzugehen?

Ich sehe zunehmend, dass rassistisches, antiislamisches oder antisemitisches und insgesamt menschenverachtendes Gedankengut die Ereignisse, von denen uns in den Nachrichten berichtet wird, prägt. Wenn ich den öffentlichen Diskurs verfolge, sehe ich aber auch den Umgang mit Anhängern solcher Ideologien. Der beliebteste Stempel ist der der Dummheit. Und damit habe ich aus mehreren Gründen Schwierigkeiten. Erstens sind diejenigen, die solche Positionen vertreten und gerade nicht dumm sind, mit Sicherheit die gefährlichsten unter den Anhängern. Zweitens ist das kategorische Etikettenkleben zwar einfach, aber es löst die Probleme nicht.

Ein gutes Beispiel ist ein Artikel in der Online-Ausgabe des Magazins Vice – eine Plattform, die ich grundsätzlich sehr schätze, weil sie komplizierte Sachverhalte verständlich aufarbeitet – der sich mit dem ARD-Kommentar von Anja Reschke zum Auschwitz-Gedenken beschäftigt. Reschke argumentiert in dem Videokommentar für die Relevanz einer Erinnerung und zeigt die Gefahren und den Hohn des Vergessens auf, und sie unterscheidet zwischen Schuld und Verantwortung. Damit provoziert sie viele ideologisch höchst fragwürdige Kommentare auf Facebook. „Wir haben die Reaktionen auf den Holocaust-Kommentar der ARD nach Dummheit sortiert„, lautet die klangvolle Überschrift des Vice-Artikels, und er tut eben das, was er im Titel verspricht, beginnend bei den „weniger dummen“ Kommentaren und abschließend mit „Dummheitsfaktor: volksverhetzend“.

Die ersten, „weniger dummen“ Kommentare werden noch argumentativ kommentiert – es werden Logikfehler und Inkonsequenzen aufgezeigt, wodurch die Absurdität der Kommentare deutlich wird. Je rassistischer und antisemitischer die Äußerungen aber werden, desto hilfloser sieht sich ihnen gegenüber aber offensichtlich der Redakteur. Da wird der Verfall Deutschlands beklagt, abstruse Verschwörungstheorien (natürlich mit den USA und Israel in der Hauptrolle) werden entfaltet und der Holocaust wird an allen Ecken und Enden relativiert. Welche Erläuterung gibt der Redakteur hier? Keine. Nur ein Urteil. Und das finde ich problematisch.

„Das ist offensichtlich schon sehr, sehr dumm. Die Leute, die so was schreiben, gehören fest ins Lager entweder der Pegida, der AfD oder der NPD.“

Wer solche Dinge schreibt, den stört es nicht, in irgendeinem Lager mit rechtsradikalem Gedankengut verortet zu werden oder ob ihn jemand der Dummheit bezichtigt. Es ist leicht, anzuklagen, und von mir aus sind diese Kommentare auch wirklich dumm. Aber wer ist die Zielgruppe eines solchen Artikels? Sind es die Leute, die solche Gedanken ohnehin schon verurteilen und sich dem Urteil der Dummheit anschließen – oder sind es nicht vielleicht die, denen wir aufzeigen müssen, warum solche Gedanken falsch sind?

Schuldige anzuklagen ist wichtig, aber ist es nicht vielleicht sogar wichtiger, ein paar Fragen zu stellen: Woher kommt das? Wie ist möglich, das Menschen im Deutschland des 21. Jahrhunderts so denken? Wie können wir aufklären, und wie können wir verhindern, dass sich solche Gedanken verbreiten? Dazu muss man sich auch die Frage stellen: Wie ist meine eigene Perspektive auf diese Dinge entstanden? Ich glaube nicht, dass es meine Intelligenz ist, die mich dazu führt, Rassismus, Antisemtismus und Verweigerung des Gedenkens an den Holocaust für falsch, gefährlich und inakzeptabel zu halten. Womöglich ist es aber meine Bildung. Nur weil man klug ist, weiß man noch nicht, was richtig ist, und nur weil man nicht klug ist, hat man noch keine moralisch verwerflichen Ansichten.

Natürlich kann man mit manchen Menschen und mit manchen „Argumenten“ nicht streiten. Ich sehe ein, dass es nicht immer sinnvoll ist, den Dialog zu suchen, weil man bestimmten Meinungen damit auch eine Plattform gibt, die sie nicht haben sollten. Ich glaube aber, dass man den Menschen mit einer klugen Dekonstruktion ihrer Ansichten eher beikommen kann als damit, dass man sie einfach unter dem Label „dumm“ abhakt. Und deswegen ist es wichtig, dass wir Menschen aus*bilden*. Sie sollen lernen, zu denken.