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Brückenschläge und Schlagworte

Grenzüberschreitungen

Längst schon wollte ich diesen Blogpost schreiben, aber wie so oft im Leben musste erst etwas passieren. Warum verschleppen wir Dinge so lange, bis sie uns keine Wahl mehr lassen? Wahrscheinlich, weil sie Schmerzen bereiten. Die Worte formen sich nur schwer in meinem Geist. Sie wollen nicht so recht heraus, sind sperrig und hölzern. Aber vielleicht müssen sie diesmal wehtun, so weh wie die Gedanken, denen sie eine Form zu geben versuchen.

Vor fünf Jahren bin ich etwas mehr als vier Monate allein mit dem Rucksack durch Europa gefahren und bereiste dabei folgende Länder jeweils mindestens einmal mit einem Aufenthalt von mindestens vier Nächten, die meisten aber länger: Österreich, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Albanien, Griechenland, Mazedonien, Bulgarien, die Türkei und Kosovo. Diese Monate gehören nicht nur zu den prägendsten und lehrreichsten, sondern auch zu den schönsten meines Lebens. Ich habe jeden Tag Sehnsucht nach dieser Gegend mit ihren unverwechselbaren Klängen, Düften und Geschmäckern und ihren freundlichen und herzlichen Menschen. Ich hörte zum ersten Mal in meinem Leben den Muezzin singen und verliebte mich in den Klang, so wie ich zuhause den Klang der Kirchenglocken mag. Ich diskutierte mit Serben über den Kosovokonflikt und in der Herzegowina über Krieg und Flucht. Ich lernte.

Es ist nicht ganz leicht, es zu überschlagen, aber ich habe in jenen vier Monaten 29 Grenzübertritte gezählt. Selbst wenn man bedenkt, dass ich die gesamte Reise auf dem Landweg bestritten habe, sind das ziemlich viele – ca. 7 pro Monat. Das liegt natürlich zum Teil daran, dass ich einige Länder mehrmals besuchte oder durch sie hindurchfahren musste, um ins nächste Land zu kommen. Es gibt aber auch die absurderen Gründe – zum Beispiel, dass Bosnien diesen lustigen 12km breiten Zugang zum Mittelmeer hat, der Kroatien in zwei teilt, so dass man auf dem Weg von Zagreb nach Dubrovnik durch Bosnien hindurch muss. Oder die Tatsache, dass man von Mazedonien nach Kosovo reisen kann, aber dann nicht direkt weiter nach Serbien fahren darf, sondern erst zurück nach Mazedonien muss (das hat natürlich etwas damit zu tun, dass Serbien die Eigenstaatlichkeit Kosovos nicht anerkennt).

Mich hat das Überschreiten der Grenzen damals fasziniert. Ich liebte es, meinen Pass vorzuzeigen, obwohl ihn ein grauenhaftes Photo ziert, und ich liebte das Geräusch des donnernden Stempels auf dem Papier. Ich liebte auch den Moment, in dem ich merkte, dass es keine Grenzkontrollen gab, dass man einfach so in ein anderes Land fahren konnte. Mir kam das vor wie ein wunderschöner Vertrauensbeweis und eine sich ständig wiederholende kleine Liebeserklärung an ein freies, offenes Europa.

Es gab eine einzige Grenzüberschreitung, die nicht reibungslos verlief, von Bulgarien nach Mazedonien – also beim Verlassen der Europäischen Union. Den Grenzern gefiel der Stempel aus Albanien in meinem Pass nicht. Mitreisende versicherten mir, dass den Leuten an der Grenze so langweilig sei, dass sie manchmal Ablenkung in solchen Zwistigkeiten suchten, es sei reine Schikane. Aber es war Schikane, die auf ethnischer Ausgrenzung und Vorurteilen gegenüber der albanischen Minderheit in Mazedonien fußte, und das stimmt mich bis heute traurig. Dennoch: Alle anderen 28 Grenzübertritte waren friedlich und spannend, manchmal aufregend und manchmal beglückend ereignislos.

Auch zwischen Ungarn und Slowenien. Auch zwischen Slowenien und Kroatien.

Am Freitagabend wurde Paris angegriffen, und obwohl der Triumphbogen und der Eiffelturm noch stehen, war es ein symbolischer Angriff – auf den Freitagabend, auf den Fußball, auf die Musikkultur. Gestern Abend begann der militärische Rückschlag, von dem ich nicht begreife, welchen Erfolg er verspricht. Eine Freundin schreibt nach den Anschlägen auf Twitter:

Aber das ist nicht der Moment, in dem ich weinen muss. Ich habe bisher noch nie wegen terroristischer Anschläge geweint, bei 9/11, Norwegen, London, Madrid und Charlie Hebdo konnte ich mich irgendwie innerlich abgrenzen. Diesmal nicht. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Aber ich weiß, dass mir die Tränen kommen bei dem Gedanken, dass ich vielleicht einmal, in der Zukunft, meinen Kindern von der Zeit erzählen muss, als es in Europa noch offene Grenzen gab und sie sich nicht werden vorstellen können, was das bedeutet und wie sich das für mich angefühlt hat. Und es geht mir nicht um den Luxus des Reisens. Es geht mir darum, dass es notwendig ist, dass wir uns begegnen. Wir müssen uns kennen lernen, wir müssen Vorurteile abbauen, wir müssen uns mit Menschen unterhalten, die anders sind als wir, damit wir ohne Angst denen in Not helfen können.

Ich fürchte mich vor einer Welt der geschlossenen Grenzen, weil mir nichts so sehr geholfen hat, ein besserer Mensch zu werden, wie meine eigenen Grenzüberschreitungen.

 

2 Kommentare

  1. „…meinen Kindern von der Zeit erzählen muss, als es in Europa noch offene Grenzen gab und sie sich nicht werden vorstellen können, was das bedeutet und wie sich das für mich angefühlt hat.“

    Da waren dann meine Tränen. Wundervoller Beitrag, auch wenn das Adjektiv so überhaupt nicht zum Thema passen mag.

  2. Guten Tag,
    ja, offene Grenzen, immer gerne.
    ich frage mich, weshalb ich mein Haus abschliesse? Habe ich Angst vor Fremden? Will ich alleine sein?
    Jeder kann kommen doch ich lasse nicht jeden hinein…

    herzlich Norbert

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