Bald lebe ich schon vier Jahre in der großen Stadt. Außer in der Stadt, in der ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin, habe ich noch nirgends so lange gelebt. Auslandsaufenthalte, Studienortswechsel und Reisen haben mein Leben zerrissen und auf das Zauberhafteste wieder zusammengesetzt zu einem bunten Flickenteppich unterschiedlicher Heimaten auf Zeit. Sie sind alle Teil meines Lebens, keine wil ich missen. Und doch muss ich gestehen, dass sie mit jedem Umzug schwerer zu beantworten war, die Frage danach, wo ich eigentlich hingehöre.

Ich habe fast immer empfunden, dass ich dort hingehörte, wo ich gerade war. Wenn mir mein Zuhause zu klein wurde, habe ich ein neues gesucht, und diese Getriebenheit hat mich nie gestört. Als ich aber vor vier Jahren in das große herrliche graue Ungeheuer Berlin zog, da hatte ich nur den einen Wunsch: Ankommen. Zugehörig sein. Ein Zuhause finden.

Zum ersten Mal war nicht von Vornherein klar, dass ich meine Bücher nach spätestens drei Jahren wieder in ihre Kisten packen und in einer anderen Stadt in ein anderes Regal stellen würde. Ich kaufte mir ein Sofa und einen großen Kleiderschrank, ohne darüber nachzudenken, wie ich die Möbel in absehbarer Zeit quer durch die Republik würde transportieren können. Wenn ich Löcher in die Wände bohrte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, dass ich sie beim Auszug, der ja schon fast um die Ecke lugte, wieder zugipsen müsste. Bei meinen Eltern, in der einzigen Stadt, die in meinem Leben immer „Zuhause“ geheißen hat, egal, wo sonst gerade mein Lebensmittelpunkt war, holte ich jede Menge angestaubtes Zeug vom Dachboden und nahm es mit in meine neue Wohnung, die mein nächstes Zuhause werden sollte. Ein Zuhause auf unbestimmte Zeit. Nicht nur ein vorübergehendes Zuhause, und viel mehr als nur eine Station auf dem Lebenslauf.

Mir persönlich liegt der Begriff „Zuhause“ mehr als der der „Heimat“. Heimat ist mir zu romantisch, zu sehr Heimatfilm und Heimatmusik, Heimat müffelt ein bisschen nach Lederhosen, Sauerkrat und anderen nationalen oder regionalen Stereotypen. Zuhause ist räumlich eingeschränkter – man kann etwa das Bundesland, aus dem man stammt, als Heimat bezeichnen, während das Zuhause vielleicht eher dem tatsächlichen Elternhaus vorbehalten ist. Zuhause schmeckt danach, sich auf dem Sofa unter die Wolldecke zu kuscheln und unter der Dusche ungehemmt und laut zu singen. Heimat assoziiere ich mit Regionalität, mit klaren räumlichen Angaben. Zuhause ist ein Gefühl. Zuhause ist Zugehörigkeit.

Und hat nun Zugehörigkeit etwas mit dem Raum zu tun, in dem man sich aufhält – oder mit der Zeit, die man an diesem Ort verbracht hat? Ich habe auf meinen Reisen Orte besucht, an denen ich mich sofort heimisch gefühlt habe, obwohl ich zuvor niemals dort gewesen war. Ich habe auch Jahre in Städten verbracht, die mir vertraut wurden, aber die den Status eines Zuhause nie wirklich erreicht haben, weil ich dort immer fremd blieb. Ich habe auch in der großen Stadt gemerkt, dass ich nicht automatisch an diesen Ort gehöre, nur weil ich hier schon lange lebe. Man kann es lernen, an einem Ort zu wohnen, sich auszukennen und zurechtzufinden. Zugehörigkeitsgefühl aber ist etwas, das einem nur geschenkt werden kann. Man kann es nicht erzwingen.

Meine Sehnsucht nach Ankunft ist größer geworden. Und ich bin angekommen in Berlin. Ich bin nicht in dem Maße getrieben wie früher, ich spüre in mir nicht den Drang nach Aufbruch um des Aufbruchs willen, es ist nicht die Neugier auf neue Orte, andere Erfahrungen. Ich muss nicht mehr wissen, wie es sich anfühlt, sich eine neue Stadt ganz zu erschließen, denn das weiß ich schon. Ich suche nicht mehr nach neuen Heimatfetzen für meinen Lebensflickenteppich. Aber ich suche noch nach Zugehörigkeit. Ich suche ein Zuhause.

Und Zuhause ist ein Gefühl.

Vielleicht suche ich einfach keine Orte mehr. Vielleicht suche ich Menschen.

Vielleicht habe ich schon einen gefunden.