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Brückenschläge und Schlagworte

Istanbul erleben

In Taksim laufen wir die große Promenade entlang. Auch Julia bemerkt es – hier sind wir etwas abseits der großen Touristenströme in Sultanahmet, hier sind wir im normalen Leben angekommen. Für mich ist Sultanahmet wie Berlin Mitte, und Taksim ist wie Kreuzberg. Die İstiklal Caddesi, die Unabhängigkeitsstraße hinunter stehen schöne alte Häuser, zum Teil im Jugendstil. Es gibt keine Autos, hier verkehrt nur die Straßenbahn, und auch die kommt selten vorbei.


Wir machen Halt an der Antonius Basilika. Jetzt, nachdem ich nachgelesen habe, weiß ich, dass es tatsächlich eine römisch-katholische Kirche ist. Das habe ich nicht zwangsläufig bemerkt, von innen sieht sie auch ein bisschen aus wie griechisch-orthodoxe Kirchen. Wir zünden Kerzen an und treten danach wieder in den schattigen Innenhof, den ein großer steinerner Torbogen von der Straße trennt. Einmal mehr so offensichtlich: Der Unterschied zwischen der stillen Demut einer Kirche und der lebendigen Andacht einer Moschee.

Am Galatsaray Meydanı scheint eine politische Kundgebung stattzufinden. Polizisten und Polizistinnen stehen aufgereiht, die Männer vorn, die Frauen hinten, in voller Montur, dabei ist die Gruppe der Demonstranten ziemlich überschaubar. Ich wüsste wirklich gerne, worum es da geht. Aber zu viel gibt es um uns zu sehen, um sich lange damit aufzuhalten. Da sind zum Beispiel die vielen älteren und jüngeren Männer, die große Pakete auf dem Rücken transportieren – Waren für die vielen kleinen Läden in den Seitenstraßen. Zum Tragen benutzen sie lustige Vorkehrungen, die wie Autokindersitze aussehen. Die werden auf den Rücken geschnallt, und darauf werden Pakete von mitunter aberwitziger Größe montiert. Auf dem Weg zurück nach Tophane gibt es außerdem Apotheken, deren Schaufensterdekoration eigentlich nur aus Viagra-Packungen besteht, und schließlich wunderbare Läden mit Kunst und Musikinstrumenten, oh, die vielen vielen Musikinstrumente…
Mit dem frisch gepresstem Orangen- und Granatapfelsaft könnte ich stundenlang vor den Läden stehen und gucken, am liebsten auch kaufen, aber ich kann das meiste ja nicht selbst spielen. Julia und ich kaufen uns stattdessen weite gemütliche Hosen und ich lege mir endlich eine Nargile, eine Shisha zu. Schon jetzt freue ich mich darauf, dass das schöne Stück mich nach meiner Rückkehr nach Berlin bei jedem Blick daran erinnern wird, dass es Istanbul gibt. Das bedeutet für mich: dass es Lebensfreude gibt. Istanbul ist die gestaltgewordene Lebensfreude. Und auf Taksim trifft das besonders zu.

Von Tophane nehmen wir die Tram zurück nach Sultanahmet und steigen am Gülhane-Park aus. Schon am vorigen Tag habe ich Julia gebeten, mit mir auf blühende Bäume, Störche und Schwalben zu achten, damit ich meiner Martenica gerecht werde. Das ist mein kleines, rotweißes Armband, dass mir meine Kollegin gemäß einem bulgarischen Brauch zum Märzanfang geschenkt hat – rot steht für Gesundheit und rote Wangen, weiß für hohes Alter und weißes Haar. Wenn man einen Frühlingsboten sieht, muss man es abnehmen und darf sich etwas wünschen. Als wir nun den Gülhane Park betreten, schaut Julia nach oben und sagt nur: „Schau mal!“ Ich will es erst gar nicht glauben. Nicht nur ein Storch. Viele!! In Nestern und im Fluge! „Das gibt’s doch nicht…“ kann ich nur sagen. Ich verstecke, wie es sich gehört, meine Martenica unter einem Stein und darf mir etwas wünschen.
 In einigen Beeten blühen schon hunderte von Primeln, andere sind noch einbisschen karger, aber das Gras ist schon grün und saftig und die Sonne scheint so schön warm. Wir laufen bis vor an den Rand des Parks und genießen den atemberaubenden Blick über den Bosporus. Hinter uns liegen die mächtigen Mauern des Topkapı Palasts. Wenn ich Mehmed II. gewesen wäre, hätte ich hier auch meine Residenz gebaut. Noch eine ganze Weile setzen wir uns auf eine Parkbank und schauen zu, wie das bunte Leben an uns vorbeizieht. Mich überkommt wieder eine tiefe Friedlichkeit. Und dann beginnt der Ruf zum Gebet von neuem. Dieses Mal ist es, als läge uns die ganze Stadt zu Füßen und schickte ihren Gesang zu uns herauf in den Park. Langsam schwillt das Geräusch an, bis man kaum noch einzelne Stimmen voneinander unterscheiden kann und die Stadt dissonant summt und brummt wie Fans in einem Fußballstadion. Wenn man sich aber konzentriert, hört man doch die charakteristische Melodieführung heraus. Ab und zu gibt es Pausen, aber dann setzt mit heller Stimme stets noch wieder jemand ein, und die anderen antworten. In mir schmilzt alles. Nun bin ich tatsächlich wieder hier. Und es ist immer noch die große Liebe.

Abends gehen wir in Sultanahmet essen – für mich gibt es Hühnchen şiş und sütlaç, den guten türkischen Milchreis. Das erste Mal habe ich den in Serbien gegessen, dort heißt er Sutlijaš. Diese Lehnwörter aus dem Türkischen in den Sprachen auf dem Balkan sind doch wirklich lustig. Julia isst ein Ćevapčići-ähnliches Kalbfleisch-Gericht. Das Restaurant liegt sehr prestigeträchtig direkt am Eingng zum Gülhane Park, dementsprechend geht es dort ein bisschen touristisch zu, aber für die Lage ist es doch wirklich sehr ruhig und angenehm, und das Essen schmeckt auch.

Anschließend gehen wir direkt um die Ecke in ein kleines Shisha-Cafe. Es kuschelt sich in mehreren Terassen direkt an die 600 Jahre alte Palastmauer des Topkapı Palasts. Wir bestellen Tee und eine Shisha mit Apfeltabak. Der Kellner baut die hübsche Pfeife an unserem Tisch auf und zieht auch für uns an. Ich übernehme von ihm, und der weiche süße Rauch mit der feinen Anisnote füllt meine Lungen. Es raucht sich ganz anders als Zigaretten, und es transportiert ein ganz anderes Lebensgefühl – viel mehr Genuss, weniger Gewohnheit. 

Das Cafe ist gut besucht, aber nicht zu voll. Duman, der Kellner, bringt noch drei Tee, die wir nicht bestellt haben. „One is for me,“ grinst er fröhlich, ehrlich. Ich bin nicht skeptisch dabei wie noch am Flughafen. Duman setzt sich ein bisschen zu uns. Wir kriegen noch viel mehr Tee ausgegeben an diesem Abend und machen uns viel später auf den Weg nach hause, als wir beide vermutet hätten. Duman zuzuhören, wie er verschiedene Nationalitäten imitiert, macht zu viel Spaß. „The Japanese“ – er greift sich meinen Photoapparat und macht in 10 Sekunden 20 verrückte Bilder, ohne auf den Bildschirm zu schauen. „The French“ – er nimmt sich eine Serviette aus dem Spender, faltet sie ordentlich und legt sie um sein Teeglas. Nicht einmal der kleine Skorpion hinter Julia an der Wand kann uns wirklich beunruhigen. Ein langer Tag voller kleiner Wunder liegt hinter uns – und ein weiterer vor uns.

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