bruecken_schlag_worte

Brückenschläge und Schlagworte

Kategorie: Travel (Seite 12 von 15)

Erste Eindrücke von Riga und der Gauja-Nationalpark

Im Bus nach Riga werden wir auf deutsch dazu aufgefordert, unsere Dokumente vorzuzeigen, und als wir dann losfahren, macht der Busfahrer die Ansagen auf litauisch, russisch und deutsch. Wiebke vermutet, dass er nur für uns deutsch spricht, darauf wäre ich gar nicht gekommen; aber es ist schon immer erstaunlich, wenn im Ausland jemand so gutes Deutsch spricht. Englisch ist mir zum Kommunizieren im Ausland viel lieber, schließlich handelt es sich dabei meist auf beiden Seiten um eine Fremdsprache, das ist nur fair. Zu erwarten, dass jemand Deutsch kann, kommt mir immer ein bisschen vermessen vor. Zu erwarten, dass jemand Englisch kann, kommt mir ziemlich selbstverständlich vor. Logisch ist das nicht.
In Riga holt uns Martin am Busbahnhof ab. Wiebke kennt ihn durch unser gemeinsames Ehrenamt. In seiner geräumigen Altbauwohnung macht er uns erstmal eine Riesenportion Bratkartoffeln. Abends kommt eine ganze Menge Freunde von ihm vorbei: noch ein anderer Deutscher und eine Horde Letten. Es wird eine gemütliche Studentenparty, die sich über netten Gesprächen und dem ein oder anderen Bier bis in die frühen Morgenstunden hinzieht. Wiebke und ich schlafen irgendwann angezogen auf dem Sofa ein, als ich aufwache hat uns einer der Jungs zugedeckt und die letzten Gäste feiern in der Küche immer noch. Ich denke an meine frühen Studentenjahre, lächle in mich hinein und schlafe wieder ein.
Am nächsten Morgen schläft Martin noch, als wir ein paar Sachen in unseren kleinen Tagesrucksack packen und uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Durch die Altstadt laufen wir zuerst zu Coffee Inn, einer Art baltischem Starbucks mit phantastisch cremigem Käsekuchen und gutem Kaffee. Dort holen wir uns ein kleines Frühstück und suchen dann den Bahnhof. An einer Strassenecke fragt Wiebke den jungen Mann neben uns an der Ampel. Er spricht nur gebrochen Englisch, aber er sagt gleich bereitwillig: „Train station? I go there, I show you.“ Er fragt uns dann auch gleich sehr interessiert, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Ich bewundere es, wenn Menschen Kontakt in einer Sprache suchen, die sie nicht so gut können. Wenn ich mich in einer Sprache nicht sicher fühle, bin ich meistens sehr unsicher und geradezu schüchtern. Der Kerl ist von einer so angenehmen, unaufdringlichen Freundlichkeit, dass die Sprachbarriere gar nicht ins Gewicht fällt. Er zeigt uns Patronenhülsen, die er auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in der Nähe entdeckt haben will. Seine Augen leuchten vor Begeisterung über diesen Fund. Er hilft uns beim Ticketkauf und bringt uns bis zum Gleis, wo er sich sehr höflich verabschiedet.
Im Zug nach Cesis (dt. Wenden) essen wir unsere Brote. Die Vegetation draussen erscheint mir sehr baltisch: sandige Böden, Nadelwälder, Gräser und Strandhafer. Je weiter wir aber ins Landesinnere vordringen, desto mehr Laubbäume bestimmen auch die Landschaft. Es ist mir vertraut, und es berührt mich mehr, als die litauische Landschaft es bisher getan hat.
Am Bahnhof in Cesis versuchen wir, den Fahrplan zu entschlüsseln, aber er ist sehr kryptisch. Eine ältere Dame sitzt mit ihrem vielleicht sechsjährigen Enkel auf der Bank daneben und spricht uns auf lettisch an. Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir nicht nach Riga wollen, sondern nach Sigulda, und auch erst in ein paar Stunden, aber sie spricht kein Englisch – plötzlich beginnt ihr kleiner Enkel meine langsam gesprochenen Sätze mit einer unglaublichen Routine zu übersetzen. Erstaunlich. Vielleicht häufen sich hier die Reflexionen über Sprache, weil ich wieder in einem Land bin, in dem ich die Landessprache kein bisschen verstehen, geschweige denn sprechen kann. Es ist ein anderes Reisen, man muss viel mehr nachfragen, weil man weniger nebenbei aufschnappen kann. Manche Schriftzüge auf Denkmälern photographiere ich, um später jemanden fragen zu können, was dort steht. Und trotzdem entgeht mir so vieles. Ich beschliesse in allen drei Ländern dieser Reise, dass ich die Sprache lernen möchte. Hätte man doch nur mehrere Leben zur Verfügung, um all das unterzukriegen, was man gerne machen möchte.
Wir laufen durch einen hübschen kleinen Park an einem See entlang, ohne den Stadtplan zu entfalten, und wie es in einer so kleinen Stadt zu vermuten war, taucht sie plötzlich auf ihrem Hügel thronend vor uns auf, die Burg von Cesis.

Unten am Parkteich führt ein kleiner Treppenabsatz zum Ufer, der von zwei weissen Statuen gesäumt ist, die sich in Richtung der Burg verneigen. Weiter oben am Hang gibt es eine Freitreppe, auf deren Geländer kleine weisse steinerne Engel Musikinstrumente spielen, als wollten sie den, der die Treppe beschreitet, mit Glanz und Gloria zur Burg geleiten. Alles erinnert ein bisschen an eine Kulisse für Schwanensee. Im Nieselregen wandern wir in unseren leuchtend blauen Regencapes einmal die Burgmauer ab. Graue Feldsteine, rote Backsteine und auf dem Turm des neuen Schlosses die lettische Fahne.

1988 wehte sie zum ersten Mal in ganz Lettland wieder hier. Auch gestern auf der Party ging es darum: Lettland hat gelitten, bevor es seine Unabhängigkeit wieder erlangt hat, und Wiebke findet, dass man den älteren und alten Menschen hier ihr hartes Leben ganz anders ansieht als noch in Litauen. Vielleicht lag es an Vilnius, das sehr herausgeputzt ist. Und mich fasziniert wieder Lettland, wieder ein Land, das eine Schwere mit sich trägt und trotzdem eine lebendige, fröhliche Gegenwart zu gestalten vermag.

Abends fahren wir nach Sigulda. Martin hat uns hier eine Unterkunft bei seinem Freund Karlis besorgt. Er zeigt uns noch auf dem Weg vom Bus ein paar herrliche Ausblicke über das Gauja-Tal, in dem sich der Fluss, eben die Gauja, in der Abendsonne friedlich dahinschlängelt.

Anschliessend gibt es Abendbrot in der Wohnung seiner Eltern in der kleinen Küche. Wir unterhalten uns lange mit seiner Mutter, die Geschichtslehrerin ist, am Baltischen Weg teilgenommen hat und deren Mann 1991 bei den Barrikaden in Riga im Kampf um die lettische Unabhängigkeit teilgenommen hat. Sie erklärt uns, was es mit der Singenden Revolution auf sich hat, im Rahmen derer im Baltikum durch das Singen von traditionellen patriotischen Liedern denr Sowjetmacht der Kampf angesagt wurde. Karlis hat uns schon ein bisschen darüber erzählt, er sagt viel, dass mit militärischen Mitteln ja nichts auszurichten gewesen sei. Aber wieviel schöner ist es auch, wenn ein Land behaupten kann, durch Musik zur Unabhängigkeit gekommen zu sein. Blut hat es bei den Barrikadenkämpfen in allen drei Ländern genug gegeben. Wir schlafen in einem Zimmer in der Zweiraumwohnung, die Familie zu dritt in dem anderen. Die osteuropäische Gastfreundschaft, die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, ich kann mir so etwas in Deutschland kaum vorstellen.

Am nächsten Morgen schüttet und giesst es, dass man kaum vor die Tür gehen mag. Wir nehmen den Bus zur Ordensburg von Turaida, die wir am Abend zuvor schon leuchtend rot in der Ferne auf der anderen Seite des Gauja-Tals entdeckt haben.

Das Gelände ist gross, wegen des Regens können wir es nicht so ausführlich erkunden, wie wir es gerne würden. Wir halten uns deshalb in den Gebäuden der Burg auf, in denen Ausstellungen über die Geschichte der Livländischen Schweiz, in der wir uns befinden, aufklären. Der Blick, ins Land vom Burgturm zeigt schwarze, dampfende Wälder, aus denen dicke Nebelschwaden aufsteigen wie in einem Märchen über einen bösen Zauberer. Die Gauja macht unter uns einen grossen, mächtigen Bogen und ist von fast bleierner Farbe, schwer und beruhigend.

Später, von der Brücke im Tal aus nach dem Abstieg übver die glitschigen Holzstufen, ist die Gauja rot von Eisen, aber sie soll sehr sauber sein. Wir nehmen den Sessellift zurück auf die Höhen von Sigulda. Die Sonne scheint wieder, die Regencapes sind im Rucksack verstaut. Wir besuchen das Neue Schloss mit seinen bunten Farben und die dahinterliegende Schlossruine mit ihrer riesigen Sommerbühne und den hübschen kleinen Aussichtspunkten, die wieder den Blick auf die rote Ordenbsurg von Turaida freigeben.

Sigulda ist ein malerischer Ort voll von Geschichte und von Geschichten. Wir hätten gerne noch etwas mehr Zeit im Sonnenschein gehabt. Zu früh müssen wir zurück zum Bus, der uns wieder in die Grossstadt Riga bringen soll.

Die zwei Tage in der freien Natur, sie waren sehr wichtig für uns. Unsere Körper erholen sich von der Schreibtischarbeit, unsere blassen Gesichter haben etwas Farbe und wir sind froh, dass sich unser Eindruck von Lettland nicht auf Riga beschränken wird. Karlis hat gesagt, dass wir in Sigulda ein Stückchen vom „wahren Lettland“ kennen lernen. Nicht zuletzt dank der privaten Geschichtsstunden bei seiner Mutter mag das wohl stimmen.

Vilnius

Nach einer erfrischenden Dusche laufen Wiebke und ich zurück in die Stadt und immer der Nase nach die hübschen kleinen Straßen hinauf und hinunter. Der Himmel ist weit und blau über den niedrigen Häuserreihen, und die Altstadt scheint sich kilometerweit zu erstrecken – sie gehört zu den grössten Altstädten in Europa. Der Glockenturm der Sankt Johannis Kirche an der Universität strebt majestätisch gen Himmel, und der kurze Blick in den grossen Innenhof eröffnet eine herrliche Aussicht. Hier zu studieren muss sich schon sehr erhaben anfühlen.Wir laufen zur Kathedrale und setzen uns auf ein Mäuerchen auf dem Vorplatz, um uns gegenseitig aus unseren Reiseführern vorzulesen.

Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.

Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.

Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.

Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:

Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.

Der vollständige Text der Verfassung steht hier.

Nach dem Abendessen  sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.

Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.

Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.

Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.

Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.

Olsztyn und Ankunft in Vilnius

In Olsztyn habe ich ein bisschen Zeit, bevor Wiebke ankommt. Ich frage eine ältere Dame am Hauptbshnhof nach dem Bus in die Stadt. Wir kommen ins Schnattern, innerhalb von Minuten hat sie mich zu sich nach Hause eingeladen und mich mit ihrem Bekannten Marek verheiratet. Marek ist 30, Hochschulprofessor und reizend, sagt sie. Zwar könne er kein Deutsch, aber mein Polnisch würde schon reichen. Ich solle ihr ein Photo von mir schicken, die Adresse hätte sie mir ja schon gegeben, sie würde dann alles in die Wege leiten. Sehr amüsant.

Der Markt ist wunderbar, nicht ganz so herausgeputzt wie in anderen Städten. Die Bürgerhäuser tragen teils grauen Putz, teils entschieden sozialistisch-realistische Ornamente, aber das alte Rathaus und die Bibliothek in der Mitte des Platzes glänzen. Rechts ab geht es zur Burg, deren roter Backstein in der Sonne leuchtet. Einen Blick werfe ich auch in den Dom, gerade ist Gottesdienst. Das Vater unser, Ojcze nasz, bete ich mit. Am selben morgen habe ich es noch in Szczytno beim schnellen Blick in die dortige evangelische Kirche mitgesprochen. Mit wie viel mehr Prunk der katholische Gottesdienst in dem riesigen Backsteindom gegenüber dem kleinen weißgelben Kirchlein von morgens daherkommt… Ich gehe beim Friedensgruß. Vor dem Dom läuft ein kleines Mädchen herum und reicht allen die Hand.

Schließlich hole ich Wiebke am Westbahnhof Olsztyn Zachodni ab. Wir essen noch einen Happen auf dem kleineren Platz zwischen Hohem Tor und Markt, dann geht es zum Hauptbahnhof und zum Bus. Nach Suwałki verläuft alles ohne Zwischenfälle, wir verschnacken so die Zeit.

In Suwałki haben wir von 23 bis 2 Uhr Aufenthalt. Ich frage den Herrn an der Bahnhofsaufsicht, ob mit unseren Onlinetickets alles in Ordnung ist und wo der Bus fährt. Er zeigt auf ein rotes Haltestellenhäuschen direkt an der Hauptstraße. Etwas skeptisch Blicke ich auf die etwa 20 schicken, asphaltierten Bussteige des Busbahnhofs. Da sollte der Bus halten, erklärt der Herr, tut er aber nie. Wir müssten jetzt aber ja 3 Stunden warten. Wissen wir. Nun ja, wenn was sei, er sei am Schalter. Wir machen es uns auf einer Bank gemütlich. Alle zwanzig bis dreißig Minuten kommt unser Bahnhofsschutzengel heraus, stellt sich mit seiner Zigarette zu uns und macht einen kurzen Schnack mit mir. Wiebke lässt sich dann hinterher von mir übersetzen, worum es ging: Suwałki ist angeblich die sauberste Stadt Polens, und auf der Hauptstraße fahren täglich 4000 LKWs Richtung Russland und Litauen; Inzwischen gehen wohl mehr Polen nach Deutschland als nach England, er selbst war noch nicht da, aber vielleicht kommt er mal, zum Spargelstechen.
Es wird kälter, ich wickle mich in meinen Rock, Wiebke zieht eine Strumpfhose unter. Da kommt die SMS: 50 Minuten Verspätung. Zwar bin ich begeistert von der Technik, die mich informiert, nicht aber von der Aussicht, noch bis 3 Uhr früh warten zu müssen. Über uns scheppert die Bahnhofsuhr, wenn die Zahlen im digitalen Format umspringen. Die Uhr zeigt auch die Temperatur, aber wie 21 Grad fühlt es sich wahrlich nicht an. Als der Bus endlich zwischen den LKWs auftaucht, sind wir doch sehr froh und schlafen auf unseren Sitzen im Oberdeck sofort ein.
Fast verschlafen wir gut vier Stunden später denn auch den Hauptbusbahnhof in Vilnius. Erst auf Nachfrage bei unseren Sitznachbarn merken wir, dass wir da sind und müssen dann etwas eilig aussteigen. Die Sonne scheint, wir laufen mit unseren Rucksäcken durch das Tor der Morgenröte und weiter zu Ernst & Young, wo wir unsere Gastgeberin Ieva treffen. Sie läuft mit uns durch die Stadt nach Hause zu ihrer niedlichen Altstadtwohnung. Schon auf dem Weg wird mir klar, was der stete Hinweis auf die „barocke Pracht“ in den Reiseführern meint. Es ist geradezu erschlagend, so bunt und sauber und verspielt, wenn auch immer wieder schlichtere Renaissancebauten die schillernden Häuserreihen um ein ruhiges Element bereichern. Zwei Tage hier liegen vor uns, die Sonne scheint und es ist Urlaub.

Szczytno (Ortelsburg) und Pasym (Passenheim)

Im Hotel in Szczytno spricht die Rezeptionistin hervorragendes Deutsch. Meine Mutter macht sie auf den Geburtsort im Pass meines Vaters aufmerksam – sie lächelt und sagt routiniert freundlich: „Ja, ich sehe schon.“ Wahrscheinlich passiert ihr das ständig, und nur bei Menschen, in deren Pass eben „Ortelsburg“ steht und nicht etwa „Szczytno“. Wir machen uns in aller Kürze frisch, ziehen unsere Regenjacken über, obwohl es inzwischen nicht mehr pladdert, sondern nur noch droeppelt und gehen am Ufer des Jezioro Domowe Male, des kleinen Haussees eine Kleinigkeit essen – gutes polnisches Essen, das mir ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert: Pieroggi für mich, Watrobki für meinen Vater.
Nach dem Essen brechen wir gleich auf durch den Ort am Rathaus und den Burgfundamenten vorbei zum Grossen Haussee (Jezioro Domowe Duze). Meine Eltern, die 1993 schon einmal hier waren, kommentieren, wie viel hübscher die kleine Hauptstrasse geworden ist, wie viel sie an der Burg restauriert und renoviert haben und wie ansprechend der Stadtstrand gestaltet worden ist. Dann laufen wir in westlicher Richtung am Ufer entlang durch einen hübschen Park, der mir gemessen an der Größe des Stadtzentrums riesig vorkommt. Und ziemlich schnell schon sagt meine Mutter: „Ist das nicht das Haus?“ und mein Vater sagt langsam und unaufgeregt: „Das ist das Haus.“

Wir kommen von der Rückseite darauf zu, es ist grau verputzt und ziemlich unspektakulaer. Meine Eltern sind sich nicht einig, wo vor 19 Jahren der Weg am Haus vorbei entlangführte; meine Mutter ist sich sicher, dass es den Weg von damals links am Haus vorbei nicht mehr gibt, während mein Vater den Weg, der rechts zum Haus und weiter zur Strasse führt, als denselben von damals wiedererkennen will, obwohl er von viel Gestrüpp befreit sei. Ich schenke meinem Vater da etwas mehr Vertrauen. Wir laufen zur Strasse hoch. Von vorne ist das haus wunderschön aus rotem Backstein mit viel weissem Stuck. Durch die Treppenhausfenster über der Haustür sieht man ein weisses altmodisches Holzgeländer. Rechts oben, Dachgeschosswohnung. Da ist es.
Die Haustür steht offen. Nun steigen wir also tatsächlich die Treppe hoch und wollen dort klingeln. Als meine Eltern das letzte Mal hier waren, haben sie sich nicht getraut, diesen Schritt zu gehen, ohne Polnischkenntnisse und so kurz nach der Wende. Ich habe ein bisschen Angst und weiss gar nicht so richtig was nun passieren wird. Wir stehen vor der Wohnungstür, ich finde, dass mein Vater klingeln muss, reden kann dann ja ich. Also drückt mein Papi auf den Klingelknopf der Wohnung, in der er zur Welt gekommen ist. Erst passiert nichts. Kinder plärren hinter der Tür. Ich stehe zwischen meinen Eltern und frage mich eigentlich die ganze Zeit, wie diese Situation für andere Menschen ist – für meinen Vater, für meine Mutter und für die Bewohner dieser Wohnung. Dann hören wir doch Schritte. Ein junger Mann in seinen 30ern mit nacktem, etwas untersetztem Oberkörper steht vor uns und guckt uns reichlich perplex an. Ich fange sofort an zu reden und habe das Gefühl ich spreche polnisch wie am dritten Kurstag. Ich entschuldige mich für die Störung, erkläre, dass mein Vater hier vor 70 Jahren geboren ist und frage ob wir vielleicht mal ganz kurz die Wohnung angucken können. Im Hintergrund sehe ich in dem langen schmalen Badezimmer eine Frau zwei Kinder in der Duschwanne baden. Was für ein schlechter Zeitpunkt… Mein Vater sagt zu mir auf deutsch: „Oder morgen!“ Ich wiederhole auf polnisch: „Oder morgen.“ Und ergänze: „Oder später.“ Der junge Mann, winkt ab – er wirkt genervt, aber nicht böse, nicht genervt aus grossen kulturhistorischen Beweggründen heraus, sondern nur, weil er gerade die Kinder ins Bett bringen und wahrscheinlich Sportschau gucken will – und sagt: „Nein nein, bitte reinkommen“ mit einem starken östlichen Akzent, er sagt „Proszę wajść“, nicht „wejść“, und irgendwie beruhigt mich das. Wir stehen also im Flur dieser Wohnung, drehen uns einmal um die eigen Achse, um in alle Zimmer zu sehen, meine Eltern sprechen ein wenig über damals und heute und wie schön die Wohnung jetzt ist, das Ganze dauert ungefähr anderthalb Minuten, ich bedanke mich für uns und wir gehen wieder.

Draussen gehen wir zurück zum Wasser und machen uns auf den Weg einmal rund um den See. Meine Eltern reden schon über die anderen Häuser, über die Pläne für die nächsten Tage und dann noch kurz darüber, dass die Wohnung gar nicht so klein ist, wie mein Vater dachte. Ich bin noch bei dem jungen Mann, der dort wohnt. Was hat er wohl von uns gedacht? Meine Eltern fragen sich das anscheinend nicht. Meine Mutter bezeichnet ihn als nicht besonders kooperativ. Ich verstehe irgendwie gut, was sie meint, aber finde es dennoch ein bisschen unfair, können wir doch davon ausgehen, dass er mit diesem Teil der Geschichte nichts anzufangen weiss und dass er uns immerhin dann doch ziemlich freundlich in die Wohnung eingeladen hat. Natürlich hat er nicht seinerseits Dinge gefragt oder gesagt, aber warum sollte es ihn auch interessieren, was wir dort wollen und wer wir sind. Ich frage meinen Vater, ob er irgendetwas Besonderes fühlt an diesem Ort. Er spricht über sein Verständnis von Heimat; davon, dass Heimat von persönlichen Erinnerungen und von Menschen her entsteht, und dass er weder das eine noch das andere hier hat. Ich hake nach: Auch jenseits von Heimat, fühlt es sich nicht irgendwie anders an hier zu sein als anderswo? Mein Vater hat Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten, fast habe ich das Gefühl, er denkt, dass er sich rechtfertigen muss, wenn er nichts Außergewöhnliches empfindet. Und da verstehe ich, dass man dieses Erlebnis nicht zwanghaft mit Bedeutung aufladen kann. Mit manchen Orten spürt man eine besondere Verbindung. Mit anderen nicht. Man vermutet natürlich, dass ein Ort, mit dem eine reale Bindung besteht, zu denjenigen gehört, die Gefühle hervorrufen. Aber warum sollte das zwangsläufig so sein? Mein Vater findet Szczytno schön. Es fühlt sich nicht an wie ein Zuhause. Zwei Sätze, die auch auf mich zutreffen. Wir sollten vielleicht nicht krampfhaft nach mehr suchen.

Am naechsten Tag fahren wir nach Pasym, nach Passenheim, und schauen das kleine entzückende Städtchen an, das zugegebenermassen mehr Charme hat als Szczytno. Die Kirche kuschelt sich malerisch an den See, das Tudor-Rathaus steht mitten auf dem kleinen Marktplatz und die Blumen blühen so schön. Wir legen uns an den kleinen Stadtstrand und als ich schließlich in das grüne Wasser springe und unter dem strahlenden blauen Himmel auf die schwarzen schweigenden Wälder am anderen Ufer zuschwimme, kann ich das Bild vom ewigen Ostpreußen ein bisschen verstehen. Vieles an dieser Landschaft erinnert mich an Brandenburg und Vorpommern, es ist eben die nordmitteleuropäische Ostsee-nahe Seenlandschaft, und trotzdem scheint es mir hier besonders ursprünglich zu sein. Wieviel Romantik lege ich wohl da hinein? Immerhin denke ich, dass dieses herrliche Fleckchen Erde nicht Ostpreußen heißen muss, um so schön zu sein, sondern als Warmia i Mazury ebenso bezaubernd ist.

 

Warszawa – Warsaw – Warschau

Die Sonne hängt tief als gleißende weiße Scheibe am Himmel. Es liegt ein sonderbarer fahler Dunst über den brandenburgischen Feldern, von dem ich den Eindruck habe, dass er sich schwer auf die vereinzelten Baumgruppen senken müsste, um dort als heller Kreidestaub die Äste zu zieren wie Frost. Je weiter wir nach Osten vordringen, desto wärmer und glühender wird der Sonnenball. Der Zug müffelt komisch, alt. Ich bin dieses Jahr so viel geflogen, ich bin gar nicht mehr an das langsame Reisen gewöhnt, dass mich die Entfernung wirklich spüren lässt. Nach Warschau. Nach Warschau.
Meine früheste Assoziation mit Warschau stammt aus dem ersten Polenurlaub meines Lebens. Ich bin 8 Jahre alt und fahre mit meiner Familie in einem winzigen Auto, im Interesse der Geschichte behaupte ich, es war in einem Polski Fiat, durch die Masuren, und an den Schildern auf der Landstraße steht es immer wieder: Warszawa. Warschau, erklären meine Eltern. Komisch, wieso gibt es zwei Namen für den gleichen Ort? 
Viel später entdecke ich die Stadt neu, zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Niederschlesien habe ich hier ein Training. Ich finde die Stadt grau und zunächst auch nicht mehr als einfach nur grau. Und sehr kalt, es ist Ende Januar. Aber sie soll sich mir doch noch anders erschließen: als Ort der Geschichte, die lebt und atmet bei jedem Schritt, den man in ihren Straßen tut.

Warschau war mir dennoch nie so nah wie Krakau. Aus dem Hauptbahnhof tretend fällt der erste Blick auf den Kulturpalast mit seiner imposanten Größe, der so grau ist und so ideologisch aufgeladen. Er ist nicht von der feinen und viel konventionelleren Ästhetik, die mir in Krakau an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Dafür ist es vielleicht die authentischste polnische Stadt für mich. Dreckig. Laut. Ehrlich. Geprägt von einer schrecklichen Vergangenheit, aus deren Asche sich eben kein Phönix erheben konnte, sondern eher sowas wie eine Krähe. Die ist vielleicht nicht so bunt, aber wenn man sie sich genau anschaut, erkennt man, wie elegant und wie erhaben sie sich halten kann.

Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik. 

Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.

Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.

So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.

London – City of London, East End, Hyde Park und South Bank

Manchmal hat man seltsame Gründe dafür, einen bestimmten Ort sehen zu wollen. Ich wollte zum Beispiel immer nach Prag. Ich hatte nämlich mit etwa 9 Jahren mal ein Lustiges Taschenbuch, in dem es eine Comic-Adaption von Franz Kafkas „Verwandlung“ mit Donald Duck als Gregor Samsa gab, und dieser Comic begann mit den Worten: „Prag – die goldene Stadt an der Moldau“. Vor meinem inneren Auge sah ich goldene Dächer und einen goldenen Fluss und goldenen Sonnenschein und wollte unbedingt nach Prag. Dieser Wunsch erfüllte sich im Jahr 2007. Nach London wollte ich auch schon sehr lange. Aber nicht wegen der Dinge, von denen ich schon berichtet habe. Ich wollte immer nur zur St. Paul’s Cathedral. Wegen des Disneyfilms „Mary Poppins“, in dem Mary Poppins Jane und Michael das Lied von der uralten Vogelfrau vorsingt, die jeden Morgen auf den Stufen der Kathedrale sitzt und Vogelfutter verkauft.
Eigentlich will ich an diesem Morgen in die Westminster Abbey zum Gottesdienst. Aber dort ist Wachschutz und alles ist voll von Menschen in seltsamen Uniformen, die diese künstlichen steifen Bewegungen machen und häufig eher lustig als ehrfurchterweckend aussehen. Man kommt nur mit einer Karte in den Gottesdienst. Ich pese über verschiedene U-Bahnhöfe und komme etwas außer Atem an der St Paul’s Cathedral an. Der Gottesdienst dort ist noch nicht losgegangen, aber es wird Zeit, deswegen ist mein erster Eindruck des imposanten Bauwerks nicht von der langsamen Freude des Entdeckens geprägt, die ich mir ausgemalt habe. Stattdessen eile ich die Stufen hinauf und lasse mir einen Gottesdienstzettel in die Hand drücken, um dann, endlich langsam, das Kirchenschiff zu durchqueren und schließlich unter der Kuppel zu stehen – und mir schießen die Tränen aus den Augen. Ich bin völlig überwältigt. Ein Kirchendiener fragt mich: „Alright?“ Ich stammle: „It’s so beautiful!“ Der Gottesdienst ist von einer wunderbaren Feierlichkeit, die Kirchenlieder getragener, mächtiger als zuhause, die Predigt dagegen von einer so anmutigen Mischung aus philosophischer Tiefe und lebensnaher Fröhlichkeit, dass ich fast noch einmal weinen muss. Es geht um Gleichheit, und ich gehe glücklicher aus dem Gottesdienst hinaus als ich es vorher war, und wieder ein bisschen idealistischer. Vielleicht mag ich das an der Kirche. Sie nimmt mir den Zynismus, den mir der Alltag aufzwingt.

Ich sitze nach dem Gottesdienst noch eine Stunde vor der Kathedrale um dann gemütlich zum Tower Hill hinüber zu laufen. Vor der Tower Bridge lasse ich ein klassisches Touristenphoto von mir machen von einem freundlichen Passanten, und am Tower Hill bestaune ich die uralten mächtigen grauweißen Mauern von außen. Es ist sehr lebendig hier, Eltern mit Kindern, junge Paare, Freundinnen, ältere Herrschaften, alle sitzen und laufen durcheinander, man hört alle zwei Meter eine andere Sprache und Londons ganze Lebendigkeit wird vor der Kulisse des ewigen alten Steins und der 2000jährigen Geschichte nur noch deutlicher.

Ich treffe mich mit Alexa am Trafalgar Square und wir gehen in Soho Kaffeetrinken, um dann ins East End zu fahren. Unterwegs treffen wir den Tod nicht auf Latschen, sondern auf dem Fahrrad – im Schaufenster des Liberty-Kaufhauses.

  

Im East End reizt ein kleiner Markt mit stylischen Klamotten, Taschen und Hüten zum Einkaufen, ich bin aber zu arm. Wir laufen durch die Brick Lane, anscheinend ist hier ein Festival, von überall kommt laute Musik unterschiedlicher Stilrichtungen. Wir gehen in einen phantastischen Plattenladen, der so viel Stil hat, dass Berlin mir dagegen vorkommt wie ein kleines Provinzstädtchen. Anschließend trinken wir Saft in einer Künstlerbar mit Lichtinstallationen und Filmprojektionen an den Wänden. Einer der Filme hat den Titel „Guilty Pleasure“. Der Schriftzug lautet: „My guilty pleasure is letting my girlfriend cut my toe nails. Don’t tell anyone though.“ Darauf folgt eine Animation mit blauen Füßen, einer Schere und riesigen Zehennägeln. Es ist großartig und ein bisschen abgedreht.

Wir fahren wieder nach Brixton und gehen bei einem kleinen, vollen Vietnamesen essen. Ich sage zu Alexa, dass in Berlin Inder, Vietnamesen und Thailänder doch häufig ziemlich ähnlich sind. Sie guckt mich entgeistert an. „Those are completely different things!“ sagt sie. Dafür gibt es in Berlin gutes türkisches Essen, denke ich mir. Das Curry schmeckt wunderbar, und ich habe danach große Lust, mir in einem Pub um die Ecke noch ein bisschen Jazz anzuhören. Das Pub hat Ähnlichkeit mit Irish Pubs in Deutschland, mit einer großen hölzernen Theke und bemalten Fenstern, die Jazzmusik will so gar nicht dazu passen, aber auch diese Reibung übt ihren besonderen Reiz aus. Wir kommen mit zwei Jungs an unserem Tisch ins Gespräch, einer von beiden macht Stand-up Comedy und redet auch so. Normalerweise, versichert mir Alexa, passiert sowas in London nie, die Leute kümmern sich lieber um sich selbst. Ich erzähle, dass in meinem Reiseführer steht, man solle keine fremden Menschen anlächeln, sie würden einen nur für verrückt halten. Der Comedian sagt: „If it was me, I’d be so grateful, it’d mean that you want to talk! I’d be like: What are your five favorite — food items??“ Der Cider schmeckt gut, und ich bin glücklich, als wir uns durch die sternklare Nacht auf den Weg nach Herne Hill machen.

 
Am nächsten Morgen frühstücken Alexa und ich zusammen Weetabix, dann muss sie zur Arbeit. Ich packe noch gemütlich meine Sachen, nehme einen leisen und fröhlichen Abschied aus der hübschen Straße in Herne Hill und fahre zur Victoria, schließe mein Gepäck ein und nehme den Bus zum Hyde Park. 
Der Park ist so weit und groß, dass man sich tatsächlich fast in ihm verlieren kann. Ich sitze am Serpentine Lake und betrachte die Morgen-Jogger, die Spaziergänger und ein lustiges Pärchen mit ungefähr 12 Hunden. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, es ist ein bisschen kühl und schon herbstlich. Langsam gehe ich über die Brücke zu den Kensington Gardens. Dort steht ein Schild: „DANGER! Shallow water. Do not jump  from the bridge.“ Jemand hat Teile der Schrift weggekratzt, statt „DANGER“ steht sort nun „ANGEL“. Mir gefällt’s. Ich folge dem Ufer des Sees nach Norden und staune über die Fauna, da sind viele verschiedene Enten, Schwäne, von denen einige grau sind und viel schöne als die weißen, Kormorane und Reiher, die unbeeindruckt und stocksteif auf den Planken im Wasser stehen. Am Peter Pan Denkmal bleibe ich kurz stehen. Ich  möchte auch nicht erwachsen werden. Wenn ich reise, ist es leichter, Kind zu bleiben mit einer unbändigen Neugier und Begeisterungsfähigkeit.

 
Von Paddington fahre ich nach Hammersmith, wo ich mich mit Steve zum Mittagessen treffe. Wir sind letztes Jahr zusammen in Montenegro und Albanien gereist. Ich kenne ihn nur mit Shorts und T-Shirt, plötzlich steht er mir mit blauem Nadelstreifenanzug gegenüber. Es braucht keine Minute Eingewöhnungszeit und es ist, als hätten wir uns gestern erst gesehen. Reisen verbindet auf eine ganz besondere Art. Die Sonne scheint, so schön auf den kleinen Platz vor der Deli, das Essen schmeckt und wir sprechen von unseren Leben, die so unterschiedlich sind und von unseren Reiseträumen, die sich so ähneln. Viel zu schnell müssen wir uns wieder verabschieden. 

Nachdem ich vorhin einen verrückten Umweg auf mich genommen habe, weil ich dachte, dass nur die Hammersmith and City tube nach Hammersmith fährt, bin ich auf dem Rückweg mit der District Line in kürzester Zeit wieder in der Innenstadt. Ich fahre bis Embankment und laufe auf die Südseite der Themse hinüber. Herrliche Aussichten tun sich auf, aber die Sonne steht hinter den Houses of Parliament und ich kann sie nur gegen die Sonne photographieren.

 
Also beschließe ich, die Atmosphäre einfach zu genießen und höre eine halbe Stunde den Straßenmusikern zu, die Johnny Cash spielen und singen mit einer Gitarre, einem Cello und einer Kiste, auf der einer Töne produziert wie andere es nicht einmal auf einem vernünftigen Schlagzeug könnten.

Schließlich muss ich doch einmal wieder zum Bus und zum Flughafen fahren. Etwas hat mich nach England gezogen, bevor ich diese Reise unternommen habe, und etwas zieht mich weiter dorthin. Es ist so ganz anders als die melancholisch-entspannte, fröhlich-ausgelassene, tragische und herzliche Schönheit des Balkans. Vielleicht war es Zeit für mich in ein Land zu kommen, das nicht so viele offene Wunden zeigt. Und es ist wirklich wunderbar, einen Ort wie London zu entdecken, den man aus Liedern, aus Texten oder Erzählungen präsent hat, ohne ihn zu kennen. Meine kugelrunden  neugiereigen Kinderaugen sind wenigstens noch nicht, auch und gerade auch im Blick auf London nicht, vollends erwachsen geworden.

Bristol

Morgens fahre ich von Herne Hill zur Victoria Station und steige in die Bahn nach Bristol. England zeigt sich mir von seiner schönsten Seite, mit Sonnenschein und kleinen Schleierwölkchen am Himmel. Kurz vor Bristol fahren wir durch Bath. Ich hänge so sehr an der Fensterscheibe, dass ich meine, sie müsste unter meinem Blick zerspringen. Wunderschön erheben sich die Kathedrale und die vielen steinernen Häuser aus der grünen Landschaft. Wenn ich das nächste Mal hier bin, steige ich hier aus, so viel ist sicher.

Als der Zug in Bristol Temple Meads einfährt, sind die Aussichten aus dem Fenster zunächst weniger spektakulär – aber dann steige ich aus und drehe mich vor dem Bahnhofsgebäude um. Alexa hat mir schon erzählt, dassTemple Meads aussieht wie eine kleine Version der Houses of Parliament, und sie hat nicht untertrieben.

Mit dem Bus fahre ich nach Clifton, wo meine Konferenz stattfinden wird. Ich finde das Haus ohne größere Schwierigkeiten – und es ist wunderbar! Mein Zimmer hat einen flauschigen Teppichboden, einen Schreibtisch, ein gemütliches Bett und einen phantastichen Blick über einen großen Garten mit uralten mächtigen Bäumen, die sich schon in herbstliches Gewand kleiden. Ich mache mich gleich wieder auf den Weg, um ein bisschen herumzulaufen.
Steile Hügel geht es immer weiter abwärts, der Nase nach die schönsten Straßen entlang. Mir kommen viele Kinder und Jugendliche in Schuluniformen entgegen, auch das rührt mich irgendwie an und erinnert mich an Jugendbücher, die in englischen Internaten spielen. Es gefällt mir, alle sehen so schick aus. Ich sehe schließlich Wasser und Schiffe, und es riecht ein bisschen nach Hafen. Auf einer kleinen Terasse eröffnet sich mir ein Blick, der mir eine neue Seite von England zeigt – neben grüner sanfter Weite und der Geschäftigkeit im imposanten, geschichtsträchtigen London finde ich hier nun die Industrieromantik einer Hafenstadt.
Natürlich muss ich einmal ganz nach unten laufen, aber es gibt dort nicht allzu viel zu sehen, also muss ich den steilen Berg wieder hochsteigen, und das ist wirklich anstrengend in der ziemlich warmen Herbstsonne. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass Menschen in Bristol alle ziemlich dünn und ziemlich fit sein müssten, wenn die hier ständig auf und abklettern müssen. Ich lande in einer Ladenstraße und kaufe mir in einem urigen Eisen- und Gemischtwarenladen einen Adapter, denn ich habe vorher völlig vergessen, dass die Steckdosen hier anders sind. Man hat sich ja schon so daran gewöhnt, dass man sich auf eine Reise nicht mehr vorbereiten muss, das ist wie mit dem Euro. Als ich vor zwei Jahren in die Ukraine fuhr, fiel mir erst im Flugzeug ein, dass ich noch nicht einmal wusste, wie die Währung dort heißt. Das ist mir mit England immerhin nicht passiert. Ich finde es grundsätzlich spannend, in einem Land zu sein, in dem mir einige Dinge aus Film und Literatur bekannt ist, und die dann tatsächlich in der Realität vorzufinden. Marks and Spencer zum Beispiel, und WHSmith.
Nach der Kraxelei finde ich, dass ich mir ein Getränk verdient habe. Ich betrete also einen Coffeeshop und bestelle mir ein Mangoshake. Der freundliche Kellner hinter der Theke kassiert und fragt, während er meine Bestellung zubereitet: „And how are you this afternoon?“ und lächelt mich freundlich an. Ich bin ein bisschen überrascht. In London waren die Leute im Service zwar höflich, aber doch sehr distanziert und professionell. „I’m good, I’m enjoying being away from home,“ antworte ich. „Where’s home?“ – „Germany.“ – „Really?? I didn’t catch that, I thought you were from Canada!“ Wenn mich Englischmuttersprachler für eine Muttersprachlerin halten, gehört das zu meinen liebsten Komplimenten. Ich strahle. 
Draußen vor dem Cafe sitze ich mit meinem Notizbuch und versuche, meine Eindrücke in eine Form zu bringen, da fährt ein Big-Issue-Verkäufer auf seinem Fahrrad vorbei und möchte mir eine Ausgabe verkaufen – das ist so etwas wie in Berlin der Straßenfeger oder in Hamburg Hinz & Kunzt. Ich habe am Tag zuvor schon eine Big Issue in London gekauft und lehne dankend ab, komme aber dennoch mit dem jungen Mann ins Gespräch. Nach fünf Sätzen fragt auch er: „Are you from Canada?“ Das trägt durchaus zu meiner guten Laune bei. Er erklärt mir innerhalb von fünf Minuten, was ich mir alles in Bristol anschauen muss, spricht ein paar ziemlich verquere Sätze deutsch mit mir und verlässt mich mit einem herzlichen Händedruck. Sehr offen scheinen mir die Leute hier zu sein. Ich zücke mein Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Ein uralter Herr mit Rauschebart geht langsam an mir vorbei, bleibt stehen, sagt: „Talking to the world, are ye. Well, don’t forget about the little green men!“ Er deutet mit seinem Gehstock nach oben. „They’re watching!“
Abends beginnt das Konferenzprogramm mit einem kleinen Theaterstück. Eine australische Historikerin hat in Albanien Interviews mit Menschen geführt, deren Eltern vom Hoxha-Regime umgebracht worden sind. Sie spielt mit einem Kollegen eines der Interviews nach. Eine dunkle, traurige Performance, die mich tief beeindruckt. Am nächsten Tag beginnen die Vorträge und die erste Tageshälfte ist sehr geschäftig. Nachmittags finde ich dann aber nochmals Gelegenheit, mir die Stadt anzuschauen. Ich laufe durch den Brandon Hill Park in Richtung Zentrum.
Ich bin ja immer eher für plattes Land als für Hügel und Berge, aber wie sich diese Stadt so an die Hänge schmiegt, das ist wirklich bezaubernd. Ich laufe zum College Green, an dem die Kathedrale steht. Ich bin hier schon an so vielen Gebäuden vorbeigekommen, die aussehen wie Kirchen und dann doch keine sind – das Unihauptgebäude, die Stadtbibliothek, ein Krankenhaus – dass ich bei der Kathedrale schon kurz überlege, ob sie das nun wirklich sein kann. Im Innern gibt es dann aber keine Zweifel mehr. Das Kirchenschiff ist von Säulen begrenzt, die in hellen Blau- und Goldtönen gehalten sind, aber wenn man um den Chor herumgeht, erinnert die Farbgebung eher an den Bremer Dom – kräftig und warm. Hier hätte ich wirklich gerne einen Gottesdienst besucht, aber das habe ich am Sonntag in London auch noch vor. 
Draußen auf dem Rasen schließe ich eine kurzlebige Freundschaft mit einer Horde Dreizehnjähriger, die alle gleichzeitig versuchen, mir zu erzählen, ob sie schonmal in Deutschland waren, da jemanden kennen oder nicht vielleicht doch die USA viel spannender finden als das europäische Ausland. Dann mache ich mich auf den Weg zum Kern der Altstadt hinüber, weil mir die Zeit bereits davonläuft. Viel zu kurz nur kann ich mich am Wasser und an den Speichergebäuden erfreuen, eine kleine Kopfsteinpflasterstraße zum nächsten Wasserstreifen hinunterlaufen und ein bisschen am Fluss in der Sonne sitzen. Wenn ich in England aufgewachsen wäre, wäre Bristol sicherlich eine Stadt gewesen, in der ich hätte studieren wollen. Klein genug, um alles schnell zu kennen und es nirgendwohin weit zu haben, groß genug, um etwas bieten zu können, und gesegnet mit einem entzückenden Stadtbild. 

Nach dem Abendessen gehen wir mit ein paar anderen Teilnehmern noch auf eine schnelle Abendrunde zur berühmten Clifton Suspension Bridge. Sie gilt als Wahrzeichen der Stadt und wird am Abend herrlich angestrahlt. Mit viel Gelächter und Hilfe unserer Handys versuchen wir auf dem Weg durch den dunklen Park den Weg ein bisschen zu erleuchten, aber als wir schließlich die Brücke vor uns liegen sehen, werden wir alle fast ein bisschen andächtig ruhig.


Ich hätte die Brücke gern auch im Tageslicht bestaunt, aber am folgenden und letzten Konferenztag ist das Programm zu dicht, um noch Ausflüge in die Stadt zu machen. Ich bin jedoch froh, dass ich ein bisschen Gelegenheit hatte, neben London auch eine kleinere englische Stadt kennen zu lernen – Bristol hat mir große Lust gemacht, das Land intensiver zu bereisen.

London – St. James’s Park, Westminster und Trafalgar Square

Mein Blog hieß zwar bis vor Kurzem „Unterwegs nach Osteuropa“, aber ich kann es unmöglich bleiben lassen, meinen ersten England-Aufenthalt zu beschreiben. Namen sind Schall und Rauch, und meine geneigte Leserschaft möge es mir verzeihen, wenn ich Osteuropa in Zukunft um den Rest der Welt erweitere. Gleichzeitig ist es schwierig, über einen Ort wie London zu schreiben, den so viele so viel besser kennen als ich. Während meines Aufenthalts bemerke ich jedoch, dass ich dankbar dafür bin, London jetzt zum ersten Mal und ganz neu zu entdecken – um es mit Matisse zu sagen: Man darf nicht verlernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Das geht mir leicht von der Hand in London, ich staune und habe das Gefühl, dass ich von morgens bis abends kugelrunde große Augen mache, die gar nicht genug sehen können von all dem, was mich umgibt.

Chaotische Tage liegen hinter mir, als ich in London aus dem Flieger klettere. 48 Stunden vorher war ich noch in Zagreb und stand in der heißen Morgensonne vor dem imposanten Bahnhofsgebäude. Nun fährt mich ein Bus durch eine sanfte grüne Landschaft, die ich sofort bereit bin, unglaublich englisch zu finden. Schuld sind Jane-Austen- und, oh Schreck, Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen. Der Cockney-Akzent des Busfahrers trägt  ebenfalls zu meiner guten Laune bei. Mein amerikanisches Englisch kommt mir fehl am Platz vor, aber umso lieber höre ich darauf, was die Menschen um mich herum erzählen – nicht wegen der Inhalte, nur wegen des Klangs. Die Umgebung wird schließlich städtischer, wir müssen schon auf Londoner Stadtgebiet sein und ich habe es gar nicht bemerkt. Wir fahren durch Hempstead, überall stehen hebräische Schriftzüge an den Läden, viele jüdische kleine Läden und Delis und das London Jewish Cultural Center ziehen am Fenster vorbei. Jüdische Viertel haben für mich bisher irgendwie hauptsächlich nach Osteuropa gehört. Weiter geht die Fahrt, nun richtig in die Stadt hinein – Baker Street, Marble Arch, endlich Victoria Train Station. Ich steige aus und bin ein bisschen aufgeregt. Langsam wird mir klar, dass ich wieder eine neue Grenze überschritten habe. Ich bin zum ersten Mal in einem neuen Land. Wie ich dieses Gefühl liebe!

Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich  am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.

Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.

Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.

Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.

Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.

Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.

Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.

Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.

Dubrovnik und Korčula

Ein Erlebnis in Dubrovnik habe ich vergessen zu erwähnen, und es ist es wert, erwähnt zu werden, denn es war so anders als alle meine Eindrücke von Tourismus und überfüllten Straßencafes. Ich habe mich in die kleinen Nebenstraßen der nördlichen Altstadt zurückgezogen, die schattiger sind als der Stradun, die große Prachtstraße in der Mitte der Altstadt. Es ist angenehm kühl und es gibt tatsächlich kleine schmale Treppen, auf denen kein Mensch in lautem Englisch die Stille stört. Das genieße ich, und mache mich nur unwillig wieder auf den Weg Richtung Menschenmassen. Da finde ich, und hier hatte ich sowieso noch hingehen wollen, das Museum war photo limited, in dem Kriegsphotograhie ausgestellt wird.
Im Untergeschoss ist eine temporäre Ausstellung zum arabischen Frühling mit eindrucksvollen Bildern aus Libyen, Ägypten, Bahrain und Jemen. Ich suche aber eigentlich nach den Photos aus den Kriegen auf dem Balkan seit 1991. Sie sind oben in einer digitalen Slideshow. Kinder. Weinende Kinder. Schreiende Kinder.  Schlafende Kinder. Tote Kinder. Tote Mütter. Weinende Mütter. Rennende Mütter. Rennende Soldaten. Stolze Soldaten. Lachende Soldaten. Schreiende Soldaten. Soldaten vor brennenden Häusern. Soldaten in Panzern. Soldaten kurz vorm Abfeuern. Soldaten mit Fahnen. Frauen mit Fahnen. Männer mit Fahnen. Kinder mit Fahnen. Der albanischen Fahne. Der jugoslawischen Fahne. Der Fahne des Islam. Zerfetzte Fahnen voller Blut. Menschen voller Blut. Blutige Körperteile. Arme. Gesichter. Beine. Hände.Hände die beten. Menschen die beten. Menschen die weglaufen. Menschen die schießen. Menschen die Gräber ausheben. Die weinen. Die sterben.
Da betet einer vor einem verbeulten Kreuz in einer ausgebombten Kirche.
Da liegt einer ohne Kopf vor seinem Gemüsestand.
Da hat sich einer im Wald aufgehängt.

Verstehen kann ich das alles nicht wirklich.

Es ist Zeit für Leichtigkeit. Ich fahre mit dem Shuttle nach  Korčula. Dort liegen unbeschwerte Tage vor mir. In der kleinen Gasse, die zu unserer Pension führt, sind die Granatäpfel reif, gründe Mandarinen, die innen orange, saftig und lecker sind, hängen von den Sträuchern, und über einem Tor wächst eine Frucht, die von außen aussieht wie eine längliche Aprikose, aber sich weich und hohl anfühlt wie ein Gummiball und innen aussieht wie eine Maracuja. Ulli kommt einen Tag später an, wir gehen Shrimps und Muscheln essen und Wein trinken und  kommen langsam in der heißen Sommersonne und in der reinen Urlaubsstimmung an. Am ersten ganzen Tag wollen wir den Strand suchen – daraus wird eine eher unfreiwillige zweistündige Wanderung nach Lumbarda. Umwege führen uns ins Dickicht am Rand der Schnellstraße, zu inoffiziellen Müllhalden, kleinen Steinhäuschen, kleinen Tomatenfeldern und verlassenen Ruinen mit stylischen Grafitti. Kurz nach dem Ortseingang nach Lumbarda trinken wir Cappucino in der Sonne am Ufer und breiten uns anschließend an einem Steinstrand aus. Ruhe kehrt ein.
Später in der Woche fahren wir mit dem Wassertaxi nach Lumbarda und landen jetzt am offiziellen Strand. Das Wasser scheint mir hier noch klarer und türkiser zu sein, die Sonne noch wärmer und der Sommer noch ewiger. Wir haben zwei deutsche Mädels im Gepäck, die Ulli im Zug kennengelernt hat und die zufällig in der gleichen Pension untergekommen sind. Mit ihnen erkunden wir auch abends die Stadt. Im alten Stadttor steht eine Klapa und singt so herzzerreißend schön, dass ich mich nicht trennen kann. Die Mädels laufen weiter, ich rauche in der Kühle des Tores eine Zigarette und gehe auf in den Klängen der dalmatinischen Musik.

So fließen die Tage dahin mit Sonne, Strand, Gesprächen und Lektüre weniger anspruchsvoller Bücher. Ich merke jetzt, wie wichtig das war. Als ich schließlich auf die Fähre nach Split steige, bin ich froh, dass noch sechs Stunden Sonne, Wind und Wasser auf mich warten, bis ich in Split ankomme und mich der Nachtzug wieder Richtung Norden und Richtung Alltagsrealtität bringt.

Trebinje und Dubrovnik

Am naechsten Tag fahre ich mit dem Bus nach Trebinje. Oestlich von Sarajevo beginnt fast sofort eine wunderbare Landschaft – hier sind sie, die gruenen Huegel Bosniens, die ich im Herzen getragen habe. Enge Schluchten, weite Taeler, kleine Staedtchen mit Moscheen oder orthodoxen Kirchen praegen die Landschaft, ich fahre durch die Republika Srpska, man sieht es spaetestens daran, dass die Strassenschilder zum grossen Teil nur in Kyrilliza sind.
Am spaeten Nachmittag erreiche ich Trebinje im suedlichsten Teil der Hercegovina. Meine Couchsurfing-Gastgeberin holt mich an der Bushaltestelle – vielmehr: dem Parkplatz, auf dem der Bus haelt – ab. Sie ist eine deutsche Freiwillige, die hier fuer ein Jahr in einer Einrichtung fuer Behinderte arbeitet. Nach einem kurzen Schnack breche ich gleich wieder auf in die Stadt.

Auf der schoenen Bruecke ueber die Trebisnica schaue ich ins klare Wasser und geniesse die Abendsonne. Neben mir bleibt ein Passant stehen und sagt etwas zu mir, ich verstehe ihn nicht und sage auf bosnisch, dass ich die Sprache nicht kann, und er fragt zurueck, welche Sprache ich denn kann. Deutsch, sage ich, und er antwortet, dass er aus Villingen-Schwenningen kommt. Ausgerechnet, da muss ich schon lachen. Er sei vor vielen Jahren dorthin gegangen als Gastarbeiter und besuche jetzt als Fruehrentner ueber den Sommer seinen Bruder. Ueberhaupt nicht aufdringlich, einfach nur sehr nett und lustig ist das Gespraech, und nach einigen Minuten mache ich mich dann auf den Weg weiter in die Altstadt.
Sie ist klein, schattig, gruen und wunderschoen. Ohne richtig erklaeren zu koennen, warum, erinnern mich die Gebaeude gleichermassen an kroatische Kuestenstaedte und an die anderen mir bekannten Orte in der Hercegovina. Eigentlich muesste ja hier der serbische Einfluss groesser sein. Ueberall die weissen alten kuehlen Steine, und viele viele Baeume. Ich habe den Eindruck, dass hier Palmen, Kastanien und Zypressen nebeneinander wachsen, eine lustige Kombination. Die Kastanien sind vor allem dominant auf dem huebschen Trg Slobode, der Freiheitsplatz. Ich setze mich auf eine Bank und schaue die froehliche Lebendigkeit um mich herum an. Der Platz ist groesser und offener als ich es aus Mostar oder Sarajevo kenne, dadurch hat er nicht die kuschelige Gemuetlichkeit dieser Staedte, aber die Weite, die hier herrscht, ist angenehm, und unter dem Schatten der maechtigen alten Baeume vergisst man die Hitze. Ein Vater spielt mit seinem vielleicht drei Jahre alten Sohn Fussball. Ich strahle den kleinen Jungen an. Der Vater versucht auch mit mir zu reden, immerhin kann ich ganz kurz auf bosnisch bzw. hier heisst das wohl serbisch erklaeren, wo ich herkomme und dass ich zum Urlaubmachen hier bin. Sehr offen sind die Leute hier.
Ich laufe zum Stadtpark hinueber. Ueberall stehen Denkmaeler von Jovan Ducic, dem wichtigsten Sohn der Stadt – ein serbischer Dichter und grosser serbischer Patriot. Im Stadtpark ein denkmal fuer die Opfer des Zweiten Weltkriegs mit sozrealistischer Aesthetik, mir gefaellt das ja.
Zurueck in Richtung des Flusses steht noch ein Denkmal, eine grosse Saeule mit dreieckigem Grundriss, eine Seite ist weiss, eine rot, eine blau, auf dem knubbeligen Sockel steht in kleinen goldenen kyrillischen Buchstaben: Branilacima Trebinja 1991-1996, den Verteidigern von Trebinje. Im ersten Moment frage ich mich kurz, ob die drei Seiten fuer die drei Ethnien stehen, denke dann aber gleich: wohl kaum. Viel zu aufgeklaert. Und dann sehe ich auch, dass das Denkmal so serbisch ist, dass es einen beinahe aufbringen koennte, blauweissrot und christlich. An den Ecken des Sockels laeuft Wasser aus dem Stein, als wuerde er weinen. Die Saeule steht vor einer Mauer, oben auf der Mauer steht ein kleines orthodoxes Kreuz, vor der Mauer stehen sechs schwarze Granittafeln mit den Namen der Toten, einige sind gerade 20 Jahre alt geworden. Die Sonne geht langsam ueber der selbst aus der Ferne so kitschigen orthodoxen Kirche auf dem Huegel ueber der Stadt unter, die Luft wird rosa flimmernd und es ist sehr friedlich. Ich bin sehr froh, dass ich hergekommen bin.

Am naechsten Tag fahre ich morgens mit dem Bus nach Dubrovnik. Ich wollte letztes Jahr so oft herfahren, ich kann gar nicht glauben, dass es dieses Mal klappen soll. Der Busfahrer kommt mir bekannt vor. Ich habe kurz den Eindruck, es koennte derjenige sein, der mich letztes Jahr von Split nach Mostar gefahren hat und mit mir was trinken gehen wollte, dieser hier ist jedenfalls auch kurz davor mir ein aehnliches Angebot zu machen, laesst mich aber dann doch in Ruhe. Im Bus sitzt ausser mir nur ein aelterer Herr. An der Grenze werden wir ewig aufgehalten, weil mein Mitpassagier Medikamente dabei hat, die angeblich in Kroatien verboten sind. Ich halte das fuer eine Massnahme der Grenzer gegen Langeweile, an diesem uebergang passiert bestimmt nie was Spannendes. Dafuer ist der Blick auf die Adria geradezu atemberaubend.

In Dubrovnik muss man vom Busbahnhof mit dem Stadtbus zur Altstadt fahren. Voellig erschoepft komme ich im Hostel an, die Stadt ist schon auf den ersten Blick wunderschoen, aber fuerchterlich ueberfuellt. Ich liege wieder einen Tag flach, irgendwie habe ich mich ein bisschen uebernommen. Am naechsten Tag gehe ich morgens auf den kleinen Markt und es riecht so gut nach Lavendel. Ueberall wird er in kleinen dekorativen Saeckchen verkauft. Ich bleibe stehen und schnuppere in die Luft. Sofort sagt ein Verkaeufer: „You want? My wife make! Good price!“ Ich schaue mir seine Ware kaum einen Bruchteil von einer Sekunde an, da hat er schon die Plastiktuete in der Hand, in die er meinen Einkauf packen will. Sofort suche ich das Weite – aus Prinzip. Ich schaele mich durch die Massen von Tourgruppen mit ihren Reiseleitern, die Regenschirme oder Schilder hochhalten, damit sich die Gruppe nicht verliert. Unter den Arkaden  vor der Orlando-Statue steht eine Musikgruppe – eine junge Frau mit Geige und zwei Maenner mit Gitarre und einer wunderschoenen Querfloete aus schwarzem Holz. Sie spielen barocke Musik, die wunderbar zu der Stadtkulisse passt. Ich setzte mich hinter die Musiker auf den kalten weissen Stein in den Schatten und finde etwas von dem Zauber, der diese Stadt auszeichnet und dessen Ruf ihr vorauseilt. Das Stueck ist zu Ende und es ist, als gaebe es ein lautes Knacken oder das Zersplittern von Glas in meinem Kopf – die Musiker spielen Memories aus Cats, kitschiger geht es kaum. Sicherlich muessen sie die Beduerfnisse der Touristen bedienen, aber mir kommt Dubrovnik in diesem Moment vor wie Disneyland. Ein Spielplatz fuer Erwachsene, und ein Klischee. Sehnsuchtsvoll denke ich an die dalmatinischen Staedte, die ich letztes Jahr ausserhalb der Saison besucht habe. Im April muss es hier wunderbar sein. Weiss die Steine, rot die Daecher, maechtige Stadtmauern und eine fluechtige Erinnerung an Bombennaechte in den Neunzigerjahren – ich schaffe es nicht, das alles aus dem Sumpf von ueberteuerten Restaurants und Unterkuenften, kitschigen Souvenirs und aufdringlichen Verkaeufern herauszuholen. Es bleibt eine vage Ahnung von der Faszination, die Dubrovnik auf viele Besucher ausuebt.
Die Tage in Dubrovnik fliegen auf diese Weise ein bisschen an mir vorbei, ich kann mich nicht ganz auf die Stadt einlassen, ob das an meiner Gesundheit liegt oder nur daran, dass es mir einfach zu touristisch ist, kann ich nicht sagen. Auf dem Weg zum Tourist Office, das mir meinen Shuttle nach Korcula stellt, freue ich mich wahnsinnig auf Ulli und auf ruhige Inseltage.

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »