Die Rückfahrt in die Danziger Innenstadt ist wunderbar, die Sonne ist hervorgekommen und scheint mir ins Gesicht, der Fahrtwind und eine leichte Gischt um meine Nase geben mir das Gefühl, zuhause zu sein – wie in Hamburg. Als das Krantor wieder in Sicht kommt, freue ich mich auf das Hostel und ein bisschen Ruhe. Jedoch, der Abend wird länger als vermutet – als ich ins Bett gehe, wird es draußen schon wieder hell. Es ist phantastisch, wie viele interessante und unterschiedliche Menschen man in Hostels kennen lernt, wie der Kontakt mit diesen Menschen den eigenen Horizont immer und immer wieder erweitert und wie unkompliziert Menschen, die einander bis vor Kurzem fremd waren, anteil aneinander nehmen.

Kleine Schmuckgalerien und Straßenstände mit Bernsteinschmuck säumen das schmale Gässchen mit Kopfsteinpflaster. Hier kann man mit einem Kaffee durchaus die Zeit vergessen. Gerne bliebe ich länger, aber ich habe noch Pläne. Nach einem kurzen Besuch im Günter Grass Museum fahre ich heute nach Oliwa.

Ich streichle den weißen alten Stamm. Er fühlt sich warm und sehr lebendig an, dabei sieht er so trocken und geisterhaft aus.
Direkt an den Park anschließend finde ich den Kirchhof der Kathedrale. Oliwa hat eine lange Geschichte als Sitz eines großen Klosters – ein Hort des polnischen Katholizismus und besonders spannend und spannungsreich im Verhältnis zum preußischen, protestantischen Danzig. In seiner Geschichte hat Oliwa mehrmals zu Danzig gehört, um dann wieder eigenständig zu werden. Immer noch muss die Kathedrale wohl ein wichtiger Identifikationspunkt für die Einwohner sein.
Ich stehe noch am Eingang und schalte mein Handy aus, da sehe ich schon, wie voll es in der Kirche ist. Ich hoffe erst auf einen Gottesdienst, aber es kommt fast noch besser. Es spielt jemand Orgel – und was für eine Orgel! Sie ist wunderschön und riesenhaft, mit dunklem Holz und kitschigen Engelchen, die Instrumente halten. Es erklingt die Bach Toccata und Fuge in d-moll (BWV 565). Zu den Höhepunkten beginnen sich an der Orgel vier Zimbelsterne zu drehen, und die Engel bewegen ihre Posaunen und Trompeten auf und ab. Ich finde das ein bisschen amerikanisch, aber der Organist ist wirklich gut und die Stimmung in der unfassbar schmalen, langen, hohen Kirche ganz besonders. Nach dem Stück löst sich die Masse aus ihrer kurzfristigen relativen Verzauberung, und auch ich streife noch ein bisschen durch das Kirchenschiff mit den ungewöhnlichen Maßen. An einer Wand hängt eine Tafel, auf der das Vater Unser auf Kaschubisch steht. Es liest sich lustig, es kommt mir vor als verhielte es sich zu Polnisch in etwa so wie Platt zu Hochdeutsch.
Ich wage mich wieder in den Regen und klettere noch auf den Pachołek, den Pollerhügel. Wenn das Wetter schön ist, muss die Aussicht atemberaubend sein, aber auch so gefällt mir der Blick auf die wolkenumrahmten Hügel und Freudenthal, Dolina Radości. Schließlich laufe ich noch ein ganzes Stück durch die kleinen Oliwaer Straßen, von denen viele mit herrlichen Lindenbäumen gesäumt sind, um die Stelle zu finden, an der das Haus des Professors Hanemann aus Stefans Chwin gleichnamigem Roman (in deutscher Übersetzung: „Tod in Danzig“) stehen soll – kein besonders lohnenswerter Ausflug, dort ist ein Mischgebiet, und das Haus gibt es gar nicht. Durchgefroren und klamm fahre ich wieder in die Innenstadt, ich habe mir wohl eine kleine Erkältung geholt. Im Hostel haben Vroni und Lea schon für mich mitgekocht. Noch ein Abend in ausgelassener Reiseheiterkeit liegt vor mir.
Am nächsten Morgen reicht es nur noch für ein weiteres Frühstück in der Mariacka und schon muss ich wieder zum Bahnhof. Danzig hat sich mir viel eher als Gdańsk erschlossen, ich finde die Stadt erstaunlich wenig deutsch – aber ich bin auch Schlesien gewöhnt, das wenig polnische Geschichte hat und eigentlich fast immer deutsch war, während Danzig tatsächlich auf ein wirres Hin und Her zwischen der deutschen und der polnischen Kultur und Herrschaft in seiner Geschichte zurückblickt. Schon wieder ein Ort, an den ich zurückkehren möchte. Wie gut, dass Danzig nicht weit ist von Berlin. Wenn mich das Fernweh packt, kann ich auch kurzfristig ein paar Tage dorthin fliehen. Mir würde es gefallen, wenn ich das Zuhause-Gefühl, das ich in dieser Stadt hatte, auf diese Weise vertiefen kann. Es gibt dort zumindest noch tausend Dinge zu entdecken.

Es ist bezaubernd. Eine Straßenmusikerin singt leichten, sehnsüchtigen polnischen Jazz, der die Stimmung einfängt, als wäre die Musik eigens für diesen Anlass komponiert worden. Auf dem Weg zurück Richtung Hostel sehen wir einen riesiegn Regenbogen. Ich freue mich auf die Entdeckungen der nächsten Tage.
Am nächsten Morgen laufe ich zunächst an der Polnischen Post vorbei, die einen ähnlichen Stellenwert für die Polen einnimmt wie die Westerplatte, wo am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Die dezidiert polnischen Orte wurden damals gezielt angegriffen. Ein Onkel von Günter Grass hat sich bei der Verteidigung der Post engagiert und ist deswegen später standesrechtlich erschossen worden. Ein sozrealistisches Denkmal steht auf dem Platz vor dem eher unscheinbaren und wieder weitgehend hergestellten Gebäude. Es zeigt eine Nike-Figur.
Auf dem Weg hinüber zur Danziger Werft liegen auf dem aufgerissenen Straßenpflaster kleine überreife gelbe Mirabellen und eine Menge giftig roter Vogelbeeren. Es sieht herbstlich aus mit den grellbunten Farben, und das Wetter erinnert auch eher an einen warmen Oktober: nicht zu kalt, aber grau und nieselig. Ich passiere die herrliche riesige Bibliothek, erhasche durch eine Seitenstraße schon einen Blick auf das Tor der Werft und bin ein bisschen aufgeregt. Hier haben die Menschen 1970 gegen Preiserhöhungen protestiert, hier hat die Solidarność-Bewegung ihren Anfang genommen. Rechter Hand erreiche ich den Plac Solidarności – den Solidarnośc-Platz mit seinem überdimensionalen Denkmal in Form einer hohen Säule.

Es wurde schon 1980 errichtet und ist eindrucksvoll in seinem Detailreichtum, der trotzdem der Schlichtheit keinen Abbruch tut. In seiner schmalen schlanken Höhe fügt es sich in die Stadtsilhouette mit den vielen Kränen ein. Auf der einen Seite steht ein Gedicht von Czesław Miłosz:
Który skrzywdziłeś człowieka prostego
Śmiechem nad krzywdą jego wybuchając,
Nie bądź bezpieczny. Poeta pamięta.
Możesz go zabić – narodzi się nowy.
Spisane będą czyny i rozmowy.
Mein Versuch einer nicht ganz linearen deutschen Übersetzung:
Der du einem einfachen Menschen Unrecht getan hast,
ein Lachen über sein Leid auf dem Gesicht,
sei dir nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer wird geboren.
Geschrieben werden die Taten und Worte.
Der Wind braust mir um die Ohren, es ist kalt und ich bin zweifelsohne in Ostsee-Nähe. Vor mir die Wand mit Marmortafeln zum Gedenken an diejenigen, die 1970 durch die Gewalt der Polizei umgekommen sind. Rechts von mir das Tor zur Werft, die früher Lenin-Werft hieß und heute wieder Danziger Werft, Stocznia Gdańska. Mir wird klar, wie wichtig Danzig tatsächlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen ist, wie stark die großen Ereignisse hier verwurzelt sind. In Krakau atmet man auch Geschichte, aber Mittelalter, k.u.k. Monarchie und Avantgarde sind dort präsenter als Zweiter Weltkrieg und Sozialismus. Hier, in Danzig, kommt man weder am einen noch am anderen vorbei. Ich beschließe, später zur Westerplatte zu fahren – davon werde ich später berichten. Erst zieht es mich jedoch in den „Vorort der Dichter“, so mein Reiseführer, nach Wrzeszcz, zu deutsch Langfuhr.
Mit der Straßenbahn ist Wrzeszcz leicht zu erreichen. Ich steige an der Aleja Mickiewicza aus – ach, eine Straße dieses Namens gibt es doch in jeder polnischen Stadt, ich bin froh, ich bin in einem fremden Land, in dem ich mich nicht fremd fühle, und ich bin glücklich, dass ich solche Orte habe. Durch unspektakuläre Straßen laufe ich auf der Suche nach dem einen Ort – da ist es, das Geburtshaus von Günter Grass, in dem auch der Protagonist der Blechtrommel, Oskar Matzerath wohnt.

Ein kurzes Zitat aus der Blechtrommel steht auf einer Plakette am Haus, es ist grau und hässlich verputzt, und trotzdem stehe ich kurz andächtig davor und frage mich, ob mein Großvater vielleicht in einem ähnlichen Haus in Danzig geboren und aufgewachsen ist.
Ein Stückchen die Straße hinunter gibt es einen kleinen Platz. Da sitzt er auf einer Bank, mit stummem Blick und seinem Instrument: Oskar Matzerath höchstpersönlich. Ich setze mich auf eine Zigarette neben ihn. Gesprächig ist er nicht – schade. Ich würde gerne von ihm hören, wo ich noch hinlaufen soll in Wrzeszcz.

Ich schließe meinen Ausflug in die Vorstadt mit einem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche. Leider ist sie zu, ich kann nur durch die Gitterstäbe ins innere schauen. Leise singe ich ein polnisches Kirchenlied. Roter Backstein, herrliche Rundbögen, weiße Wände und ein ganz besonderes Licht. Ich muss nicht zum ersten Mal an Lübeck und Greifswald denken. Die hanseatische Vergangenheit, sie trägt sicherlich dazu bei, dass ich Gdansk schon jetzt lieben gelernt habe.
Die alten Tramschienen, auf denen keine Straßenbahn fährt, gliedern die breite Hauptachse der Fußgängerzone in zwei Seiten, die sich am Theater spalten und jeweils links und rechts am Dom vorbeiführen. Wieder die geliebten Bürgerhäuser, die auf das bunte Treiben herunterschauen. Überall ist Musik. Zwar ist viel modernen Mainstream-Pop dabei, aber es hebt doch die Stimmung, wenn einen Rhythmen und Melodien auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht bleibt Košice für mich deshalb die allerschönste Stadt der Reise – sie hat für mich gesungen, nicht nur auf den Straßen. Ich sitze morgens am Sendlinger-Tor-Platz und trinke Kaffee. Die Sonne scheint, und der Blick auf den roten Backstein des Sendlinger Tors versichert mir, dass ich wieder zuhause bin. Alles ist plötzlich auffallend deutsch. Die Architektur. Die Sprache. Das Verkehrssystem. Die etwas ruppige, aber durchaus freundliche Kellnerin im Dirndl – na gut, die ist vielleicht eher nicht typisch deutsch, sondern vor allem, gewollt, typisch bayrisch. Es sind viel weniger Menschen unterwegs als in den großen Städten des Balkans an ähnlichen Orten. Da fällt mir erst wieder ein, wie es mich am Anfang in Kroatien fasziniert hat, dass anscheinend alle ständig Zeit haben, in Cafés zu sitzen und Zeit totzuschlagen. Hier ist das eher ein Luxus als ein naturgegebenes Lebensgefühl.
Ich kaufe eine Brezel beim Bäcker in der U-Bahn-Station. Der Verkäufer kassiert, dreht sich zu seinem Kollegen um und sagt etwas auf kroatisch. Dann dreht er sich noch einmal zu mir und sagt: „Tschüss!“ und ich antworte: „Prijatno!“ Mir fehlt die Sprache. Sie ist so wunderschön. Meine Zunge und mein Mund haben sich noch nicht wieder ans Deutsche gewöhnt.
In München ist es kalt und regnerisch. In meiner Erinnerung habe ich auf der Reise nur selten schlechtes Wetter gehabt. Wenn ich meine Photos sortiere sehe ich, dass das gar nicht unbedingt stimmt, vor allem am Anfang, im April, ist da viel grauer Himmel. Der Unterschied liegt darin, dass mich schlechtes Wetter dort nie davon abgehalten hat, durch die fremde Stadt zu laufen und alles zu entdecken. Warum sollte ich also in München bei Regen in Julchens Wohnung sitzen und nicht durch die bayrische Hauptstadt schlendern?
Am Marienplatz frühstücke ich Müsli und Chai Latte. Ein teures Vergnügen, aber ich gebe zu, so ein gutes Müsli habe ich mir das ein oder andere Mal statt des Bureks zum Frühstück herbeigesehnt. Es giesst in Strömen. Vor dem Hugendubel steht eine reihe grosser blauer Terassenschirme, die im stürmischen Wind gefährlich schwanken. Plötzlich fallen sie alle um. Menschen, die darunter Schutz vor dem Regen gesucht haben, hoppeln erschreckt zur Seite. Eine Kellnerin rast aus dem zugehörigen Restaurant und versucht, die abtrünnigen Ungeheuer wieder aufzurichten. Die Passanten stehen entweder unbeholfen herum oder ziehen hilflos an den Schirmen, anstatt dass sie der Kellnerin helfen, den Mast gerade zu bekommen. Ich verspüre den Drang, hinüberzurennen und anzupacken, aber vermutlich denken sie in meinem Café dann, dass ich die Zeche prellen will. Ein bisschen unpraktisch kommt mir dieses Land vor. Gedankenverloren streift mein Blick hoch zum Rathaus. Deutschland. Unpraktisch vielleicht. Aber schön. Ehrwürdig.
Der Regen hält an und ich entscheide mich, ins Deutsche Museum zu gehen. Ich bin eigentlich nicht so der Museumsmensch, aber das Deutsche Museum ist ja so eins, wo man, wenn man meinen Eltern glauben darf, „mal gewesen sein muss“. Schon die Eingangshalle ist beeindruckend, und ich freue mich über den saftigen Studentenrabatt. Segelkunst, Flugtechnik, Raumfahrt. Und meine Lieblingsabteilung ist doch wieder, wenig überraschend, eine schöngeistige: Musikinstrumente! Ich könnte stundenlang da sitzen und mir die Cembali und die gitarrenartigen Seiteninstrumente aus aller Herren Länder anschauen. Da ist so viel Seele in diesem Raum! Über den Vitrinen thront eine Orgel, die gerade gestimmt wird. Als sie damit fertig sind, spielt der eine Stimmer kurz „Heilig, heilig, heilig“ an. Das habe ich mit meinem Chor in Greifswald gesungen. Die Orgel spielt nur die ersten paar Takte, aber ich singe leise für mich weiter. Es ist eine getragene, eine demütige Melodie, die nichts mit der stolzen Lebensfreude der Balkanmusik zu tun hat, die mich nun so lange begleitet hat. Ich werde mir die Vergleiche so schnell nicht abgewöhnen können. Dadurch reflektiere ich aber auch die deutsche Kultur wieder ganz anders. Die Schönheit des Balkans habe ich, gerade durch das Schreiben, immer zu benennen versucht und ich denke, das ist mir oft gelungen. Nun sehe ich mich gezwungen, auch die Schönheit Deutschlands zu benennen und das fällt mir wesentlich schwerer. Ich will Deutschland mit den Augen des Reisenden zu betrachten versuchen.
Julchen und ich fahren raus nach Großhelfendorf, um die Familie zu besuchen. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Haus meines Onkels kommen wir an einem Zaun vorbei, hinter dem ein kleines Hasengitter steht. „Wir freuen uns über Löwenzahn“ steht auf einem von Kinderhand gemalten Schild am Zaun. Großhelfendorf ist Dorfidylle. In der Ferne ragen dunkel die Alpen am Horizont auf. Die Felder leuchten in tausend verschiedenen Grüntönen. Bei meinem Onkel im Garten gibt es Apfel- und Pflaumenkuchen zum Kaffeetrinken. Heile Welt. Ich erzähle viel von meiner Reise und je länger ich darüber rede, desto weiter entfernt kommt mir das alles vor. Bin das wirklich ich gewesen, die das alles erlebt hat?
Abends zurück in München zwischen Stachus und Marienplatz stehen Julchen und ich und schauen Straßenmusikern zu. Ich erinnere mich an Istanbul, an Taksim. Auch hier ist eine große Vielfalt, eine große Bandbreite verschiedener Stile und Qualität zu beobachten. Es ist lebendig und schön. Mir gefällt München plötzlich. Ich bin schon öfter hier gewesen, aber richtig warm geworden bin ich mit der Stadt bisher nie. Jetzt, da ich ein bisschen mehr Zeit hier verbringe und ihr nach all den Reiseerfahrungen so viel wohlwollender gegenübertrete, habe ich sie ganz gern. Sie ist sehr sauber und aufgeräumt. Aber warum muss das eigentlich was Schlechtes sein?
Am Sonntag fahre ich mit Rene, Lou und Jesus, die ich in Sofia im Hostel kennengelernt habe, an den Unterfoehringer See. Jesus hat seine Schwester mit ihren Kindern zu Besuch, und es kommen noch mehr Freunde dazu, so dass wir schliesslich eine Gruppe von 11 Leuten mit deutscher, irischer, namibischer, hollaendischer, polnischer und spanischer Beteiligung sind. Ich fuehle mich fast wieder wie auf Reisen. Viele Kinder sind dabei, die Kleinste ist erst 1 1/2 und ein so entzueckendes Kind, dass alle ganz in sie verliebt sind. Wir spielen Knack, Tischtennis und Federball und schwimmen im gruenen See. Gegen Abend leert es sich, als wir zusammenpacken sind kaum noch Menschen da. Es ist so friedlich und die Stimmung um den See ist so sehr wie aus einem Moerike-Gedicht geklaut, dass es mir fast die Traenen in die Augen treibt. Ich bin froh, dass die Gluecksmomente nach der Reise nicht abreissen.
Eine Woche habe ich jetzt noch hier, bevor ich nach Tuebingen fahre und beginne, mich wieder um Dinge zu kuemmern, die etwas mit der realen Welt zu tun haben. Ein letzter Eintrag steht noch aus, in dem ich noch einmal Bilanz ziehen will. Ans Bloggen habe ich mich so sehr gewoehnt, dass ich damit auch nach der Reise nicht aufhoeren will. Es wird also weiter Dinge von mir zu lesen geben. Ueber die neue Blogadresse werde ich beizeiten informieren und ich freue mich, wenn ihr mich weiterhin gerne lest.
Der Bus nach Makarska ist voellig ueberfuellt, an einem Samstag wollen alle ans Meer. Wir verlassen Bosniens sanfte gruene Huegel und erreichen die kargeren, wilderen Berge Kroatiens – und schliesslich faellt mein Blick wieder auf die Adria. Wir fahren ein ganzes Stueck die Kuestenstrasse entlang. Sie ist zauberhaft, waeren da nicht nahe jeder noch so kleinen Siedlung voellig ueberfuellte Straende. Ich erreiche das Hostel ohne Probleme und mache mich gleich auf den Weg zum Strand. Ich finde kaum einen Platz um mein Handtuch abzulegen, ich will es ja noch nicht einmal ausbreiten, aber die Menschen liegen dort dicht an dicht, es finden sich kaum ein paar Quadratzentimeter freie Flaeche. Aber ich muss doch kurz ins Wasser springen. Das tue ich dann auch, und es ist so warm, dass es eigentlich gar nicht erfrischend ist. Ich bin ja jetzt das 10 Grad kalte Wasser der Neretva gewoehnt. Seltsam, denke ich, dass fuer die meisten Menschen an diesem Strand diese Situation das Herzstueck ihres Urlaubs ausmacht. Mir kommt sie im Kontext meiner Reise seltsam deplaziert vor. Makarska ist ein Ort fuer Touristen, kein Ort fuer Reisende.
Ich laufe, noch nass vom Salzwasser, zum Ortskern. Der ist nun wieder wirklich entzueckend, und auch nicht so ueberfuellt, wer weiss wo die Touristen alle zum Abendessen hingehen. Ich finde direkt am Marktplatz ein kleines Buchcafe. Dort sitze ich, trinke Cappuccino und schaue mir den hellen Markt mit den vielen Gebaeuden aus weissem Stein an, der so typisch dalmatinisch ist, dass ich mich in Gedanken an den Beginn meiner Reise verliere – Zadar, Šibenik, Split und Vis, sie ziehen vor meinem inneren Auge vorbei und ich kann nicht glauben, dass das erst oder schon drei Monate her ist.
Den naechsten Tag verbringe ich etwas abseits der schlimmsten Fuelle am immer noch reichlich gut besuchten Strand. Abends kommt Stu aus Schottland im Hostel an, die ich in Mostar kennengelernt habe. Es ist schoen, weiter Gesellschaft zu haben. Am Tag darauf machen wir eine Bootstour nach Brač und Hvar. Es gibt viel kostenlosen Alkohol, Musik aus den Neunzigern – das ganze Boot tanzt, sicher 100 Leute -, herrliche Ausblicke auf huebsche Staedtchen am Ufer und zweimal Landgang: Einmal in Jelsa auf Hvar und einmal in Bol auf Brač. Auf der Rueckfahrt nach Makarska spielt der Kapitaen „Miljacka“ von Halid Bešlić, dem bosnischen King of Folk – das Lied laeuft immer auf Batas Tagestouren in Mostar. Stu und ich fangen an zu tanzen und ich muss natuerlich mitsingen. Ein Crewmitglied hoert mich, nimmt mich an die Hand und bringt mich ins Kapitaenshaeuschen, wo ich den zweiten Teil des Liedes ins Mikrophon singe. Singen macht mich gluecklich.
Richtig warm werde ich mit Makarska nicht. Stus Gesellschaft macht den Aufenthalt dort zu dem, was er ist – lustig und unbeschwert. Ich bin aber nicht traurig, als ich schliesslich im Nachtbus nach Rijeka sitze. In der Abenddaemmerung fahren wir an Split vorbei. Das Licht taucht die Stadt in ein goldenes Licht. In mir schmilzt etwas. Ich fuehle mich so zuhause in den Laendern des Balkans… Ich komme nachts um 4 in Rijeka an und falle einfach nur bei meinen Couchsurfern auf die Couch und schlafe.
Ich couchsurfe eigentlich mit Nina, aber widrige Umstaende haben Nina selbst, ihren Freund Željko, eine Gruppe von fuenf litauischen Couchsurfern, zwei weitere deutsche und einen aus Israel in das Haus von Ninas Kumpel Martin am Stadtrand verschlagen. Da verbringen wir nun die Tage und Naechte im Garten mit Grill, Gitarre und guten Gespraechen.
Am ersten Tag fragt Nina mich, ob ich Lust habe, Paragliden zu gehen. Ihr Kumpel Davor bietet fuer wenig Geld Tandemspruenge im Učka Gebirge an. Sofort sage ich ja. Ich wollte schon immer paragliden. Davor holt mich und die zwei anderen Deutschen nachmittags ab und faehrt mit uns nach Tribalj. Die Fahrt hoch zum Startplatz ist abenteuerlich, die Strasse steil und schmal, das Auto alt und klapprig. Ovo je Balkan… Davors Gleitschirm ist gelb und orange und wunderschoen. Er schnallt mir den Sitz um und hilft mir mit dem Helm. Anlaufen ueber das Felsgeroell am Berghang, Davor dicht hinter mir. „Run! Run run run!“ Ich bemerke kaum, wie wir abheben, es ist sanft und sicher und ueberhaut nicht gruselig. Und dann fliegen wir. Unter uns breitet sich die Kvarner Kueste aus – Meer und Huegel, blauer Himmel und Wind. Ich habe viel mehr Rausch erwartet, es ist so friedlich und ruhig. Wir werden eins mit der Natur, die uns umgibt und nutzen ihre Gaben – den Wind und die Luftstroeme – ohne ihr weh zu tun. Ein meditativer Sport. Ein aesthetischer Sport. Balsam fuer die Seele. Sogar die Landung ist fast weich, und es fuehlt sich surreal an, dass ich vor wenigen Minuten noch auf ueber 1000 Meter Hoehe durch den Himmel geschwebt bin. Aber auch die Erde fuehlt sich jetzt friedvoller an. Die Bergwiese duftet nach Sommer. Das habe ich auf keinen Fall zum letzten Mal gemacht.
Am Tag darauf holt Roni, mein Couchsurfer von meinem ersten Besuch in Rijeka, mich mit dem Auto ab und wir fahren nach Fužine. Es ist als kaeme ich nach Oesterreich. Suesse kleine Haeuser mit Blumenkaesten an den Fenstern und ein See, an dem wir spazierengehen und uns austauschen ueber alles, was in den letzten Monaten passiert ist. Roni bekommt einen Anruf und sagt: „Jesam ovde sa prijatelicom…“ – „Ich bin hier mit einer Freundin…“ Als ich das letzte Mal da war war ich am Telephon noch eine „Couchsurferica“. Jetzt bin ich eine Freundin. Das macht mich gluecklich.
Spaeter liefert Roni mich in Kostrena am Strand bei der ganzen Gruppe um Nina ab. Die Sonne geht gerade unter, und das Abendlicht verwandelt die Adria in einen Teppich aus blauen, grauen, goldenen, orangenen und gelben Farbtoenen, der immer dunkler wird, bis schliesslich das Mondlicht die Sonne abloest und silberweiss auf dem Wasser tanzt. Ein letztes Mal auf dieser Reise springe ich ins salzige Wasser. Ich fuehle mich frei.
Am naechsten Morgen nehme ich den Zug nach Maribor. Auch hier besuche ich nicht Bekannte, sondern Freunde. Mojca und ich sitzen stundenlang auf ihrem Balkon, trinken Wein, Tilen kommt zu besuch und kocht phantastisches Essen, wir malen mit Oelfarben Bilder, schauen, meine Photos an. Es kommt mir gar nicht so vor, als ob ich erst einmal hier gewesen waere und auch nicht als waeren das damals nur zwei Tage gewesen. Slowenien ist schon wieder sehr aufgeraeumt. Die Leute halten hier am Zebrastreifen fuer Fussgaenger an! Voellig verrueckt! Es ist wohl eine gute Einstimmung auf zuhause. Heute vor vier Monaten bin ich in Berlin in den Zug nach Wien gestiegen. Heute abend steige ich in Maribor in den Zug nach Muenchen. Ich fuehle mich nicht am Ende meiner Reise. Ich fuehle mich in der Mitte des grossen Abenteuers, das Leben heisst.
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