Früher hat es mich sehr geärgert, wenn man mir gesagt hat, dass ich manche Dinge erst verstehen würde, wenn ich älter bin. Inzwischen kann ich gut damit leben, dass ich manche Dinge nie verstehen werde. Vor allem aber wächst in mir die Erkenntnis, dass Verstehen nicht immer der Heilsbringer ist, für den ich es halten möchte. Manche Dinge werden nur grausamer, je mehr ich darüber weiß.

Ich bin vielleicht sieben oder acht Jahre alt und denke darüber nach, wie ich kurz zuvor meine Eltern davon sprechen hörte, dass meine Schwestern unterschiedliche Stärken haben. In einem zweisamen Moment frage ich: „Mami, was ist meine Stärke?“ Meine Mutter antwortet ohne nachzudenken. Sie sagt: „Du hast ein gutes Herz.“

Ein paar Jahre später. Ich bin ein Teenager mit den üblichen verschobenen Proportionen; meine Beine zu lang für meinen Oberkörper, mein Lippenstift zu grell für meinen Mund, meine Gedanken zu sehr bei mir selbst. An diesem Tag aber kann ich überhaupt nicht mehr denken. Am Flughafen duftet es nach Abenteuer. Papi kämpft mit den Tränen, Mami kullern sie schon in dichter Folge über die Wangen. Ein Jahr werde ich in der Fremde sein, ein Jahr werden wir uns nicht sehen. Ich drehe mich nicht mehr um, nachdem ich einmal die Bordkarte für die Security hergezeigt habe. Ungerührt tue ich diesen Schritt in ein Leben, in dem ich glaube, meine Mutter nicht mehr zu brauchen.

Dann bin ich 21 und studiere in einer fremden Stadt. Völlig unvermittelt fallen mir eines Tags auf dem Weg zur Uni eine Menge Undankbarkeiten ein. Wie ich mich im Skiurlaub bei meiner Mutter in einem maximalen Zickigkeitsanfall über die Spießigkeit meines Einzelzimmers beschwerte. Wie sie mir am Tag der mündlichen Abiprüfung eine Sektflasche zur Schule brachte, ich die Flasche nahm, um sie mit meinen Freundinnen zu trinken, und meine Mutter mit einem flüchtigen Kuss nach hause schickte. Wie sie mit mir in die fremde Stadt auf Zimmersuche fuhr und ich den ganzen Tag drängelte und nörgelte, weil ich abends daheim auf eine Party gehen wollte. Ich schäme mich mit einem Mal so sehr, dass ich vom Fahrrad steige, mein Handy zücke, meine Mutter anrufe und mich den Tränen nahe bei ihr entschuldige, weil ich sie nicht immer zu schätzen weiß.

Mami versteht. Mami verzeiht. Mami hört sich meine Sorgen im ersten Trennungskummer an, Mami verurteilt meine Fehler nicht. Sie ist stolz darauf, dass ich mehr weiß als sie, wenn auch manchmal etwas wehmütig, dass sie nicht alles versteht, was mein Leben ausmacht. Immer wenn ich sie anrufe, strahlt ihr Stimme durch das Telephon.

Und nun?

Mami steht im Urlaub nachts an meinem Bett und findet das Schlafzimmer nicht mehr, in dem sie mit Papi übernachtet. Mami bricht in Tränen aus, weil sie sich nicht an meinen Geburtstag erinnern kann. Mami hat ihre Brille verlegt und sucht panisch im Kühlschrank, in der Wäschekommode und in Schreibtischschubladen, die seit Jahrzehnten nicht geöffnet waren. Mami findet ihre Einkäufe nicht mehr, fährt ein zweites Mal zum Supermarkt, fährt nach Hause und findet die vollen Einkaufstaschen in der Küche. Mami schluchzt am Telephon so herzzerreißend, dass ich es kaum verstehen kann, wenn sie sagt: „Ich will nicht, dass mir das passiert.“

Es ist an der Zeit, dass ich mich für meine Mami zurücknehme. Ich versuche, zu verstehen, was mit ihr passiert, aber nicht zu hinterfragen, warum es so kommen musste. Es ist jetzt meine Aufgabe, sie so bedingungslos zu lieben, wie sie es mir gezeigt hat.