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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: water (Seite 8 von 9)

Lahemaa

An meinem Geburtstag wache ich morgens auf, drehe mich im Hostelbett, schlage langsam die Augen auf und mir gegenüber sitzt Wiebke, in der Hand ein Obsttörtchen mit einer brennenden Kerze und grinst mich an. Mich überfällt ein großes Gefühl von Dankbarkeit, Glück und Liebe, für diese Freundin und für alle Menschen, die auf dieser Reise um mich sind. Ich strahle. Im Common Room des Hostels hängt an der Tür ein Zettel, dekoriert mit einer Traube von Luftballons, darauf steht: „Happy birthday, Mariella!“ Ich könnte die ganze Welt umarmen. Man sollte an jedem Morgen Grund haben, sich so zu freuen – und wenn gerade kein Grund in Sichtweite ist, sollte man sich an Dinge erinnern, die einem einen Grund geben. Denn das Leben ist herrlich, heute besonders.
Um 10 müssen wir an der kleinen Touristeninfo sein. Dort wartet bereits eine kleine Menschenmenge, die sich ebenfalls für den Ausflug in den Lahemaa-Nationalpark angemeldet hat. Wir werden in zwei Gruppen zu je acht Personen aufgeteilt und in Minivans verladen. Unser Guide stellt sich vor: „My name is Yevgeniy, but that’s difficult to say for many people, so just call me JJ.“ Jewgenij, denke ich, das klingt aber nicht estnisch. Wenig später sagt er beiläufig, dass es vielleicht interessant sei zu wissen, dass er Russe sei. Einige Fragen kommen daraufhin aus der Gruppe – ob er die estnische Staatsbürgerschaft habe? Natürlich, er habe die russische nicht. Was er von Putins Politik halte? Das habe nichts weiter mit ihm zu tun, schließlich wohne er nicht in Russland und für ihn sei etwa die Politik der Europäischen Union von weitaus größerer Bedeutung als die Russlands. Trotzdem fühlt er sich als Russe. Ich überlege, ob er jetzt ein estnischer Russe ist oder ein russischer Este. Ich frage ihn, ob er zuhause nur Russisch spricht. Ja, aber seine Eltern seien so klug gewesen, ihn auf die estnische Schule zu schicken, so dass er beide Sprachen gleich gut spricht. Ich muss lachen. Mit den seltsamen Vokalen im Estnischen und der Menge an Konsonanten im Russischen, sage ich zu ihm, muss er ja in der Lage sein, fast jeden Laut zu produzieren, den europäische Sprachen so hergeben. Er grinst verlegen.
Die Autofahrt führt uns zuerst durch eine große Plattenbausiedlung mit riesigen grauen Hochhäusern. JJ beschreibt sie als eine Art Russenghetto, und er spricht von den Vorurteilen gegenüber der russischen Minderheit in Estland. Die Kriminalität in dieser Gegend, sagt er, folgt nicht aus der Nationalität, sondern es handelt sich um ein soziales Problem. Die Menschen hier können oft kein Estnisch, sie haben einen niedrigen Bildungsstand, finden keine Arbeit. Ich freue mich sehr, dass wir einmal die russische Perspektive auf die ethnische Spaltung des Landes bekommen. JJ ist sicher nicht der typische Russe, er ist nicht einer von denen, auf denen die Vorurteile basieren, er ist einer, der die Vorurteile zerstreuen kann. Er äußert sich naturgemäß sehr differenziert zu den Belangen der Russen in Estland, und es ist spannend ihm zuzuhören.
Es geht an der Autobahn zum Jägala Juga, dem größten natürlichen Wasserfall Estlands. Es ist Hochsommer, deswegen führt er nicht so viel Wasser und füllt nur die Hälfte der Kalksteinkante. Das sieht lustig aus, ein bisschen abgebrochen.
Wir bleiben hier nur kurz, um anschließend im Nationalpark ein Stück durch den Wald zu spazieren und uns eine alte sowjetische Wasserkraftanlage anzuschauen, die dort unbenutzt vor sich hinmodert. Die schweren Betonplatten sind moosüberzogen, eine Industrieruine am Grunde des tiefen, dichten Waldes und ein eindrucksvolles Denkmal estnischer Geschichte. Hier erzählt JJ auch noch einmal etwas über die Sowjetzeit, und er sagt etwas, von dem ich nicht behaupten kann, dass ich damit uneingeschränkt einverstanden bin, was mich aber dennoch zum Nachdenken bringt: „Hitler was a horrible man, but in my personal opinion, he killed people he thought were his enemies, and he did it in public. Stalin killed his own people, and he did it secretly.“ So einfach ist es natürlich nicht, und Vergleiche soll man sowieso nicht anstellen. Es zeigt vielleicht nur umso eindrücklicher, wie in diesem Teil Europas historisches Leid gewichtet wird.
Der Kontrast zur nächsten Station könnte nicht größer sein. Wir machen Halt an einem der alten deutschen Herrenhäuser in Sagadi. Was Epp gestern über die deutsche Bevölkerung gesagt hat, hier gewinnt es Gestalt: Die Deutschen waren zuhause vielleicht arm, hier waren sie Herren über wunderschöne Anwesen.
Am Eingangstor sind zwei Platten mit Inschriften auf Deutsch in den rosa gestrichenen Stein eingelassen – Bitten für die Altvorderen und für die Nachkommen, aus dem späten 18. Jahrhundert, in altmodischer, feierlicher Sprache. Sie erinnern mich an die Grabinschriften auf Friedhöfen in Niederschlesien – aber hier findet sich deutsches Erbe mal nicht auf einem Friedhof, nicht im Zusammenhang mit Krieg oder Vertreibung oder Unrecht, sondern einigermaßen unschuldig. Oder denke ich das nur, weil ich nicht genug über die Geschichte der Baltendeutschen weiß? Zumindest rühren mich diese Tafeln irgendwie. Wir schreiten in der Gruppe durch den Garten des Anwesens. Wunderschöne Blumen, ein hübscher, etwas verwilderter Gartenteich, und die Sonne wagt sich vorsichtig durch die graue Wolkendecke. Architektonisch bildet die Pracht des Herrenhauses wirklich einen Kontrast zu dem, was ich bisher in Tallinn am eindrucksvollsten fand – den hübschen kleinen Holzvillen in Catherinenthal. Wir schauen uns das Haus nicht von innen an, vermutlich hätte mich das auch völlig aus dem Bewusstsein, in Estland zu sein, herausgerissen.
Weiter geht es mit dem Auto über Võsu, eine der größeren Siedlungen im Park mit etwa 500 Einwohnern, nach Käsmu: ein entzückendes kleines Fischerdorf auf der östlichen Seite der gleichnamigen Halbinsel. Hier gibt es im kleinen See-Museum Mittagessen – frischen Lachs mit Pellkartoffeln und einer herrlichen Joghurt-Dill-Sauce. Ich habe vielleicht noch nie so guten Fisch gegessen. Dazu stehen große Karaffen mit Blaubeersaft auf dem Tisch, in dem die Früchte obenauf schwimmen, und zum Nachtisch Butterkuchen. Die Tafel ist entzückend hergerichtet mit blauweißem Porzellan und einer hübschen Tischdecke, und durch das Fenster, das mit blauen Glasflaschen dekoriert ist, hat man einen traumhaften Blick auf die Bucht, die jetzt unter einem strahlend blauen Himmel leuchtet.
Wir bekommen auch eine kleine Führung durch das Museum mit ein bisschen Seemannsgarn und hübschen Anekdoten zur Geschichte der Fischerei in Käsmu. Anschließend schauen wir uns draußen noch um. Ein kleiner Leuchtturm aus Holz schmiegt sich malerisch in die sanften Hügelchen am Ufer, und dann steht da noch ein abgerissener Aussichtsturm. Wiebke und ich klettern hoch. Der Blick ist einfach bezaubernd schön, die Sonne lacht, und ein leichter Wind weht uns um die Nase. Das Meer… Ich kann mir nicht helfen, Berge können mit dem Meer einfach nicht mithalten.
Schon wieder müssen wir in den Van klettern. Bei der nächsten Station habe ich ein bisschen die Orientierung verloren, aber ich vermute, dass wir zwischen Virve und Hara in dem Gebiet sind, dem gegenüber die kleine Hara-Insel liegt, die früher Militärgebiet war. Am Strand tut sich vor uns erneut eine Industriruine auf. JJ erklärt, es handle sich dabei um eine Demagnetisierungsanlage für U-Boote. Es dauert ein bisschen, bis ich das Prinzip verstanden habe. U-Boote können über das Magnetfeld, das sie erzeugen, geortet werden. Die Sowjets haben deshalb ihr U-Boote an diesem Ort mit Hilfe von Elektrizität so präpariert, dass sich das magnetische Feld unter Wasser verändert und sich nicht mehr von dem der Umgebung unterscheidet. Natürlich ist die Anlage inzwischen seit vielen Jahren nutzlos und verfällt ebenso wie die Wasserkraftanlage im Wald. Über Scherben und verrostete, abgebrochene Stahlträger klettern wir auf dem Rest des Gebäudes und auf der Mole herum.
Wir schauen auch einmal kurz in eine der früheren Hallen hinein. JJ weist uns darauf hin, dass sich diese zwei Inschriften auf den Trägern direkt gegenüberstehen:
Raucherbereich
Nicht rauchen!
Über sowas kann ich mich königlich amüsieren. Ich komme wieder mit JJ ins Gespräch. Es geht um die Sowjetzeit, die ich bisher hier im Baltikum ja einhellig aus einer Perspektive geschildert bekam: Als Okkupation, als Zeit der Unterdrückung und des Leids. JJ ist der erste, der, wenn auch vorsichtig, davon Abstand nimmt und sagt, dass er durchaus glaubt, dass nicht alles schlecht war. Seine Großeltern erzählten zum Beispiel durchaus auch von schönen Momenten aus der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Eine Perspektive, die ein „estnischer Este“ sicherlich niemals über die Lippen bringen würde.
Unsere letzte Station ist der Viru-Sumpf am südwestlichen Ende des Parks. Ein Pfad aus Holzplanken führt über den weichen, bemoosten Grund, der fest aussieht, es aber an den meisten Stellen nicht ist. Am hölzernen Aussichtsturm verlässt uns JJ, um uns mit dem Auto auf der anderen Seite des Sumpfes wieder abzuholen. Nach dem Blick vom Turm über die weite Fläche aus Wald, Seen und Moorwiesen ziehen Wiebke und ich auf einem Steg unsere Badesachen an und springen in einen der eisenhaltigen kleinen Teiche mit dem rotorangenen Wasser, das sehr gesund sein soll. Das Wasser ist nicht gerade warm, aber es ist angenehm, und ich ziehe so meine Bahnen und bin gefangen von der Landschaft um mich herum. Die Farben sind von großer Intensität – der Himmel, der gleichzeitig hell und tief ist, die verschiedenen Grüntöne des Sumpfes, und das Wasser, in dem meine Haut eine orangebraune Tönung annimmt.
Wir kommen wieder in Tallinn an, die Stadt wirkt plötzlich laut und urban nach der großen Ruhe in Lahemaa. Im Rathaus gibt es ein kleines Mittelalterrestaurant, wir essen Elchsuppe und Blätterteigpasteten und trinken einen herrlichen Rotwein. Danach ziehen wir noch durch mehrere Cafes und landen schließlich im Kehrwieder am Marktplatz, wo die heiße Schokolade zwar teuer ist, aber dick und sämig wie flüssiger Schokoladenpudding. In meiner geburtstäglichen besinnlich-glücklichen Stimmung sprechen wir über Ziele, über Träume und Pläne. Mir scheint heute alles möglich, alles gut, und ich bin froh, dass Wiebke da ist, um diese Stimmung mit mir zu teilen. Bevor wir ins Hostel zurückkehren, liegen wir noch auf dem Harjuhügel auf einer der Holzliegen und schauen in den Sternenhimmel auf der Suche nach den angekündigten Sternschnuppen. Sie wollen sich uns nicht zeigen, vermutlich ist hier in der Stadt die Lichtverschmutzung zu groß. Es stört mich nicht. Der Tag war so wunderschön, dass er mir wie die Erfüllung eines Wunsches vorkommt, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn hatte.

Szczytno (Ortelsburg) und Pasym (Passenheim)

Im Hotel in Szczytno spricht die Rezeptionistin hervorragendes Deutsch. Meine Mutter macht sie auf den Geburtsort im Pass meines Vaters aufmerksam – sie lächelt und sagt routiniert freundlich: „Ja, ich sehe schon.“ Wahrscheinlich passiert ihr das ständig, und nur bei Menschen, in deren Pass eben „Ortelsburg“ steht und nicht etwa „Szczytno“. Wir machen uns in aller Kürze frisch, ziehen unsere Regenjacken über, obwohl es inzwischen nicht mehr pladdert, sondern nur noch droeppelt und gehen am Ufer des Jezioro Domowe Male, des kleinen Haussees eine Kleinigkeit essen – gutes polnisches Essen, das mir ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert: Pieroggi für mich, Watrobki für meinen Vater.
Nach dem Essen brechen wir gleich auf durch den Ort am Rathaus und den Burgfundamenten vorbei zum Grossen Haussee (Jezioro Domowe Duze). Meine Eltern, die 1993 schon einmal hier waren, kommentieren, wie viel hübscher die kleine Hauptstrasse geworden ist, wie viel sie an der Burg restauriert und renoviert haben und wie ansprechend der Stadtstrand gestaltet worden ist. Dann laufen wir in westlicher Richtung am Ufer entlang durch einen hübschen Park, der mir gemessen an der Größe des Stadtzentrums riesig vorkommt. Und ziemlich schnell schon sagt meine Mutter: „Ist das nicht das Haus?“ und mein Vater sagt langsam und unaufgeregt: „Das ist das Haus.“

Wir kommen von der Rückseite darauf zu, es ist grau verputzt und ziemlich unspektakulaer. Meine Eltern sind sich nicht einig, wo vor 19 Jahren der Weg am Haus vorbei entlangführte; meine Mutter ist sich sicher, dass es den Weg von damals links am Haus vorbei nicht mehr gibt, während mein Vater den Weg, der rechts zum Haus und weiter zur Strasse führt, als denselben von damals wiedererkennen will, obwohl er von viel Gestrüpp befreit sei. Ich schenke meinem Vater da etwas mehr Vertrauen. Wir laufen zur Strasse hoch. Von vorne ist das haus wunderschön aus rotem Backstein mit viel weissem Stuck. Durch die Treppenhausfenster über der Haustür sieht man ein weisses altmodisches Holzgeländer. Rechts oben, Dachgeschosswohnung. Da ist es.
Die Haustür steht offen. Nun steigen wir also tatsächlich die Treppe hoch und wollen dort klingeln. Als meine Eltern das letzte Mal hier waren, haben sie sich nicht getraut, diesen Schritt zu gehen, ohne Polnischkenntnisse und so kurz nach der Wende. Ich habe ein bisschen Angst und weiss gar nicht so richtig was nun passieren wird. Wir stehen vor der Wohnungstür, ich finde, dass mein Vater klingeln muss, reden kann dann ja ich. Also drückt mein Papi auf den Klingelknopf der Wohnung, in der er zur Welt gekommen ist. Erst passiert nichts. Kinder plärren hinter der Tür. Ich stehe zwischen meinen Eltern und frage mich eigentlich die ganze Zeit, wie diese Situation für andere Menschen ist – für meinen Vater, für meine Mutter und für die Bewohner dieser Wohnung. Dann hören wir doch Schritte. Ein junger Mann in seinen 30ern mit nacktem, etwas untersetztem Oberkörper steht vor uns und guckt uns reichlich perplex an. Ich fange sofort an zu reden und habe das Gefühl ich spreche polnisch wie am dritten Kurstag. Ich entschuldige mich für die Störung, erkläre, dass mein Vater hier vor 70 Jahren geboren ist und frage ob wir vielleicht mal ganz kurz die Wohnung angucken können. Im Hintergrund sehe ich in dem langen schmalen Badezimmer eine Frau zwei Kinder in der Duschwanne baden. Was für ein schlechter Zeitpunkt… Mein Vater sagt zu mir auf deutsch: „Oder morgen!“ Ich wiederhole auf polnisch: „Oder morgen.“ Und ergänze: „Oder später.“ Der junge Mann, winkt ab – er wirkt genervt, aber nicht böse, nicht genervt aus grossen kulturhistorischen Beweggründen heraus, sondern nur, weil er gerade die Kinder ins Bett bringen und wahrscheinlich Sportschau gucken will – und sagt: „Nein nein, bitte reinkommen“ mit einem starken östlichen Akzent, er sagt „Proszę wajść“, nicht „wejść“, und irgendwie beruhigt mich das. Wir stehen also im Flur dieser Wohnung, drehen uns einmal um die eigen Achse, um in alle Zimmer zu sehen, meine Eltern sprechen ein wenig über damals und heute und wie schön die Wohnung jetzt ist, das Ganze dauert ungefähr anderthalb Minuten, ich bedanke mich für uns und wir gehen wieder.

Draussen gehen wir zurück zum Wasser und machen uns auf den Weg einmal rund um den See. Meine Eltern reden schon über die anderen Häuser, über die Pläne für die nächsten Tage und dann noch kurz darüber, dass die Wohnung gar nicht so klein ist, wie mein Vater dachte. Ich bin noch bei dem jungen Mann, der dort wohnt. Was hat er wohl von uns gedacht? Meine Eltern fragen sich das anscheinend nicht. Meine Mutter bezeichnet ihn als nicht besonders kooperativ. Ich verstehe irgendwie gut, was sie meint, aber finde es dennoch ein bisschen unfair, können wir doch davon ausgehen, dass er mit diesem Teil der Geschichte nichts anzufangen weiss und dass er uns immerhin dann doch ziemlich freundlich in die Wohnung eingeladen hat. Natürlich hat er nicht seinerseits Dinge gefragt oder gesagt, aber warum sollte es ihn auch interessieren, was wir dort wollen und wer wir sind. Ich frage meinen Vater, ob er irgendetwas Besonderes fühlt an diesem Ort. Er spricht über sein Verständnis von Heimat; davon, dass Heimat von persönlichen Erinnerungen und von Menschen her entsteht, und dass er weder das eine noch das andere hier hat. Ich hake nach: Auch jenseits von Heimat, fühlt es sich nicht irgendwie anders an hier zu sein als anderswo? Mein Vater hat Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten, fast habe ich das Gefühl, er denkt, dass er sich rechtfertigen muss, wenn er nichts Außergewöhnliches empfindet. Und da verstehe ich, dass man dieses Erlebnis nicht zwanghaft mit Bedeutung aufladen kann. Mit manchen Orten spürt man eine besondere Verbindung. Mit anderen nicht. Man vermutet natürlich, dass ein Ort, mit dem eine reale Bindung besteht, zu denjenigen gehört, die Gefühle hervorrufen. Aber warum sollte das zwangsläufig so sein? Mein Vater findet Szczytno schön. Es fühlt sich nicht an wie ein Zuhause. Zwei Sätze, die auch auf mich zutreffen. Wir sollten vielleicht nicht krampfhaft nach mehr suchen.

Am naechsten Tag fahren wir nach Pasym, nach Passenheim, und schauen das kleine entzückende Städtchen an, das zugegebenermassen mehr Charme hat als Szczytno. Die Kirche kuschelt sich malerisch an den See, das Tudor-Rathaus steht mitten auf dem kleinen Marktplatz und die Blumen blühen so schön. Wir legen uns an den kleinen Stadtstrand und als ich schließlich in das grüne Wasser springe und unter dem strahlenden blauen Himmel auf die schwarzen schweigenden Wälder am anderen Ufer zuschwimme, kann ich das Bild vom ewigen Ostpreußen ein bisschen verstehen. Vieles an dieser Landschaft erinnert mich an Brandenburg und Vorpommern, es ist eben die nordmitteleuropäische Ostsee-nahe Seenlandschaft, und trotzdem scheint es mir hier besonders ursprünglich zu sein. Wieviel Romantik lege ich wohl da hinein? Immerhin denke ich, dass dieses herrliche Fleckchen Erde nicht Ostpreußen heißen muss, um so schön zu sein, sondern als Warmia i Mazury ebenso bezaubernd ist.

 

Die Elbe

Manchmal muss man für die großen Glücksmomente nicht in die weite Welt fahren. Der Elbstrand in Blankenese – für ein Hamburger Deern wie mich gibt es fast keinen schöneren Ort auf der Welt.
Schon als kleines Mädchen gab es die obligatorischen Spaziergänge mit der Familie an der Elbe. Als ich mit zehn oder elf Jahren zum ersten Mal freiwillig mit Freundinnen am Wochenende zum Spazierengehen an der Elbe verabredet war, fand ich mich wahnsinnig erwachsen.
Wenn ich heute in Hamburg bin, muss ich den großen grauen Fluss immer wenigstens einmal  begrüßen. Als ich damals nach Tübingen zog und mir Sorgen machte, dass mir das Wasser fehlen würde, wurde mir gesagt: „Aber dort ist doch der Neckar!“ Der Neckar ist reizend, aber er ist kein echter Fluss für mich, eher ein hübsches Bächlein. Die Elbe bei Blankenese ist ein Strom; ein gewaltiges. mächtiges Monstrum, dass sich vor mir dahinwälzt und meine Gedanken mit sich tragen kann, wenn ich einen freien Kopf haben möchte. Im Sommer liegt sie als glitzernder glatter Spiegel da. Im Winter ist sie manchmal vereist, kantig und hart. Zu jeder Jahreszeit gibt es Wellengang, wenn einer der großen Pötte mit Containern vorbeifährt, und beim richtigen Wind sieht man die Segelschiffe ihre hübschen bunten Spinnacker spannen.
Mit dreizehn begann es, dass man jedes Jahr das Osterfeuer am Elbstrand feierte. Wenn man in Blankenese wohnte, traf man an diesem Ostersamstagabend alle Menschen, die man kannte, unten an der Elbe. Das Zusammenspiel vom Feuer auf dem Strand und dem Wasser daneben war schon damals eine ganz besondere Erfahrung.
Und nun also dieses neueste, wunderschöne Erlebnis von der Elbe. Es kann keinen zauberhafteren Ort geben, um eine neugeschlossene Ehe zu feiern, als diesen – zauberhaft wahrhaftig, denn es lag ein Zauber über diesem Abend. Für mich war es ein Zauber aus leichter Melancholie, kindlichem Staunen und großer großer Liebe – zwischen allen Menschen dort und zu diesem traumhaft schönen Platz am Strand. Und als eine meiner ältesten Freundinnen im Brautkleid und einer meiner ältesten Freunde als ihr Bräutigam im Anzug vor mir standen; und einer meiner ältesten Freunde neben mir sein Feuer anzündete; und als ich anfangen durfte zu singen für diese Menschen, da war ich viel aufgeregter als sonst, wenn ich vor Publikum singe, denn es hat so unendlich viel mehr bedeutet. Ich kann mich nicht mehr an die Zeit erinnern, in der ich die Braut nicht kannte, und an diesem Abend durfte ich ihr sagen, was ich ihr für ihr Leben wünschte, und Feuer und Musik wurden eins. Zur Aufnahme dieses Hochzeitsgeschenks, das dort am Strand spontan entstanden ist, geht es hier: Fire spinning and live singing

Istanbul genießen

Die Zeitumstellung von Samstag auf Sonntag stellt uns vor schwierige Aufgaben. Julia und ich wissen nämlich beide nicht, ob unsere Handys automatisch umstellen oder nicht, und fragen uns deshalb, auf welche Zeit wir den Wecker stellen sollen. Ohnehin ist es ein ziemliches Chaos damit – am Freitag beim Hinflug eine Stunde vor, Samstag Nacht eine Stunde vor, Montag beim Rückflug wieder eine Stunde zurück. Trotzdem bin ich nicht wirklich müde, als wir am Sonntagmorgen aufbrechen. Es ist eine seltsame Angelegenheit mit der Zeit in dieser Stadt. Sie vergeht anders als anderswo, viel langsamer. Jedesmal, wenn ich auf die Uhr sehe, habe ich das Gefühl, es müssten viele viele Stunden vergangen sein, und meistens ist es höchstens eine. Ich bin darüber immer wieder erstaunt und dankbar. Es heißt ja, dass ich noch mehr Zeit übrig habe, um sie hier zu genießen.
Mit der Tram fahren wir nach Kabataş zum Fähranleger. Eigentlich wollten wir auf die Prinzeninseln, aber die Fähren gehen zu ungünstigen Zeiten. Stattdessen überlegen wir nach Asien überzusetzen, aber wir verstehen das Bezahlsystem nicht und plötzlich ist die Fähre weg. Lange ärgern wir uns darüber nicht, zu schön ist das Wetter und zu herrlich die leichte Brise am Ufer des Bosporus. Wir beschließen, am Ufer nach Norden Richtung Ortaköy zu laufen. Vorbei am Dolmabahçe Sarayı, der von starkem Wachschutz umgeben ist, gelangen wir erstmal nach Beşiktaş.
 Eine schlichte kleine Strandpromenade lädt zum Teetrinken ein, und das tun wir denn auch. Hier spricht der Kellner nur wenig englisch, wir verständigen uns mit den Händen. Ich kann keine Touristen mehr erkennen. Ganz normale Leute laufen an uns vorbei, sitzen neben uns und trinken Tee und schauen auf das Wasser. Nach den zwei starken türkischen Çay ist mir ein bisschen schwummrig, auf dem Weg weiter kaufe ich mir schnell im Starbucks einen Keks – nicht einmal hier wird englisch gesprochen. Irgendwie untergräbt das so nett das Prinzip eines großen internationalen Unternehmens.

In Ortaköy war ich bisher nur bei Nacht, wenn sich die bunten Lichter von der Bosporus-Brücke  im Wasser spiegeln. Ich verbinde mit dem Ort eine besondere Magie. Emre, mein Couchsurfing-Gastgeber hat damals mit ein paar wenigen Worten alles gesagt: „Ah, Istanbul. Great place.“ Mit einem stillen, andächtigen Lächeln und in einem langsamen, bedächtigen Tonfall ausgesprochen klang das wie die größte Liebeserklärung, die ein Mensch einer Stadt machen kann. Als wir nun an der vielbefahrenen Straße Ortaköy immer näher kommen, bin ich wieder ziemlich aufgeregt. Die Bosporus-Brücke erscheint hoch über der Straße wie ein absurdes Stück Zukunft aus einem Science Fiction Film. Als wir nach rechts Richtung Ufer einbiegen, stoßen wir zuerst auf einen kleinen Basar. Er ist angenehmer zu entdecken als der Großen Basar in Sultanahmet. Hier wird man nicht aggressiv umworben, sondern kann auch mal einfach an einem Stand stehenbleiben und gucken. Wir haben inzwischen ziemlichen Hunger, mit drei Kilometern war die Wanderung von Kabataş hierher zwar nicht weit, aber die frische Luft und die Sonne machen großen Appetit.

Wir kaufen uns Kumpir, die leckeren Backkartoffeln, deren Fleisch mit Käse und Butter noch in der Schale zu einem sämigen Kartoffelbrei aufgeschlagen wird und die dann mit Salaten gefüllt werden. Es herrscht ein reges Gewusel um uns, und trotzdem gibt es genug freie Plätze auf den Bänken und Steinstufen am Ufer vor der Moschee, die leider wegen Sarnierung eingerüstet ist. Über uns brausen die Autos nach Asien, und vor uns schlagen leichte Wellen an.
Plötzlich applaudieren die Leute um uns herum und schauen auf die kleine Plattform hinter uns. Da steht ein junges Paar umringt von Menschen und umarmt sich – ein Heiratsantrag. Wir gucken zu, wie sie sich Ringe anstecken. Sie küssen sich nicht, sie halten sich nur fest, und auch das nicht lange, schon werden sie von allen Seiten von ihren Freunden beglückwünscht. Beide strahlen aus dem tiefsten Innern. Trotzdem halten sie eine Distanz, die Julia und mir ein wenig seltsam vorkommt. Sie hat wohl mit der Öffentlichkeit dieses Antrags zu tun, das allein ist vermutlich schon etwas ganz besonderes. Und Ortaköy ist für diese Geste wirklich ein geeigneter, ein wunderschöner Ort, dessen Romantik dennoch nicht so sehr auf der Hand liegt, dass ein Antrag allzu kitschig wirkt. 

Wir schlendern zurück nach Kabataş. Bei Beşiktaş flattern selbstgemachte gelbe Drachen im Wind und stürzen wieder gen Boden. Wir kaufen uns ein Eis. Am Fähranleger zeigt das Thermometer 24 Grad. Ich denke darüber nach, dass es sich so anders anfühlt, mit Julia hier zu sein. Sie sieht Dinge, die ich nicht sehe. Und ihr gefallen andere Dinge als mir. Vielleicht ist es so, dass man jeden Ort, den man zur Gänze erleben will, einmal mit und einmal ohne Gesellschaft erkunden sollte.

Mit der Tram fahren wir wieder nach Eminönü und laufen mehr oder weniger der Nase nach zur Süleymaniye Moschee. Dort war auch ich noch nie. In den kleinen Gassen, gibt es wieder die absurdesten Dinge zu erstehen. Julia kauft hübsche türkische Teegläser mit Untertassen und kleinen Löffeln. Vor vielen Läden stehen große Säcke mit Tabak in unterschiedlichsten Farben. Ein bisschen stelle ich mir vor, dass es so früher in Hamburg in der Speicherstadt ausgesehen haben könnte, nur mit einer größeren Warenvielfalt. Der Muezzin beginnt zu rufen, und wir verlassen das dichteste Getümmel, um über eine kleine Treppe auf eine Straße zu gelangen, die schon von der Mauer des Moschee-Areals begrenzt wird. Hier erstehe ich in einem kleinen Laden noch eine neue Džezva, wie sie auf dem Balkan heißen, oder türkisch: Cezve. Das sind die Kannen, in denen der türkische Kaffee gebrüht wird. Dann klettern wir über eine kurze Treppe in den Vorhof der Moschee. Wir genießen für einen Moment die atemberaubende Aussicht und betreten dann das wunderschöne Gebäude.

Im Gegensatz zur Blauen Moschee wird in dieser um das Tragen eines Kopftuchs gebeten, und die Schuhe müssen natürlich auch ausgezogen werden. Wir betreten das riesenhafte Gebäude, und rechts von uns sitzen in den kleinen abgetrennten Ecken die Frauen und beten – richtig, der Muezzin hat ja gerade erst gerufen. Ganz vorn am Mihrab stehen die Männer. Die Besucher sitzen auf dem Boden. Wir sind mitten ins Gebet geraten, dürfen aber offensichtlich bleiben. Mein Herz schlägt schneller. Ich habe das schon so lange gerne einmal miterleben wollen. Im Schneidersitz mache ich es mir auf dem Teppich bequem. Mein Kopftuch rutscht ein bisschen, ich muss es immer wieder zurechtzuppeln. Das macht mich ein bisschen nervös. Aber schließlich ist der Gesang des Imam von vorne so beruhigend, die Stimmung so friedlich und besonnen, dass auch ich die Ruhe finde, im Moment anzukommen.

Ich befinde mich in einer merkwürdigen Schwellensituation zwischen Beobachten und Mitmachen. Da gibt es so viele Eindrücke, so viele Fragen – warum hängen die kreisförmigen riesenhaften Leuchter so tief, dass man sich an ihnen den Kopf stoßen müsste, wenn man stünde oder liefe? Wie funktioniert dieses System von Stehen, Knien und Verbeugen zu dem Gesang, das dort vorne passiert? Wie fühlen sich die Frauen damit, dass zwischen ihnen und den Männern etwa 50 Meter Distanz liegen, und ihre Räume sogar mit sichtdurchlässigen spanischen Wänden versehen sind? Ist es das Takbir, „allahu akbar“, das ich im Gesang immer und immer wieder ausmachen kann, oder bilde ich mir das ein, weil es die einzigen arabischen Wörter sind, die ich kenne? Neben all diesen Fragen aber ist da die Spiritualität des Augenblicks, die mich zur Ruhe bringt und mich mit Gedanken der Demut und Dankbarkeit erfüllt. Wie glücklich bin ich, dass es diesen Ort, diese Stadt und diese Gefühle gibt!

Abends gehen wir noch einmal Shisha rauchen in dem gleichen kleinen Cafe wie am Abend zuvor. Wir lernen zwei deutsche Mädchen kennen, unterhalten uns den ganzen Abend und bleiben wieder viel länger als geplant. Duman fährt heute nicht nur Tee auf, sondern auch leckeres Gebäck, und er überlässt und eine Shisha kostenlos. Als der Laden fast leer ist kommt er mit einer Tüte an unseren Tisch, lässt uns unsere Teegläser leer trinken, und gießt uns Raki ein. Er bittet uns aber, die Gläser mit den Händen so zu umschließen, dass keiner sehen kann, was darin ist – wegen der Nähe zum alten Sultanspalast und den großen Moscheen Sultanahmets darf er hier keinen Alkohol ausschenken. Aber wer kann eine so fröhliche Einladung schon abschlagen, und er nimmt ja von uns kein Geld dafür. Wir lachen viel und ausgelassen. Weil die letzte Tram schon lange gefahren ist, nimmt Duman uns auf dem Heimweg im Taxi mit und verlangt auch dafür kein Geld von uns. Zwar machen wir uns unterwegs kurz Sorgen, in welche Richtung das Taxi uns bringt, denn es muss in einer riesigen Kurve Sultanahmet umfahren, aber wir landen wohlbehalten an der uns bekannten Straßenecke. Duman verabschiedet uns beide mit einer herzlichen Umarmung. Und meine Skepsis gegenüber hilfsbereiten Menschen ist endgültig gewichen.

Am nächsten Morgen kommen wir noch auf einen letzten türkischen Kaffee und Tee im Shisha-Cafe vorbei, bevor wir zum Flughafen müssen. Tagsüber herrscht eine andere Stimmung – aufgeräumter. Erst jetzt bemerke ich, dass die gepflasterte Straße vor den Terassen voller kleiner bunter Plastik-Mundstücke für die Shishas liegt. Und auch die Kunstgalerie gegenüber kann ich ich jetzt erst richtig schätzen. „Don’t think“ steht dort an der Wand. Ein schönes Motto, wenn man dazu tendiert, die Dinge manchmal zu viel zu reflektieren. Ich habe in den letzten drei Tagen mehr gefühlt und getan als gedacht. Vielleicht liegt darin das große Potential dieser Stadt. Sie erlaubt es mir zu fühlen. Julia und ich sind uns beide einig: Wir waren nicht zum letzten Mal hier.

In Istanbul ankommen

Vor zwei Jahren schrieb ich: 

Istanbul und ich, das ist die ganz große Liebe. 

Die Aussicht auf ein Wiedersehen ist dementsprechend aufregend. Wie begegne ich dieser Stadt nun? Wird alles wieder, wie es war? Will ich das überhaupt? Lernen wir uns ganz neu kennen oder verfolgen wir alte Muster miteinander? Es ist als hätte ich tatsächlich Schmetterlinge im Bauch.
Meine Cousine Julia und ich fliegen gemeinsam von München. Alles geht irrsinnig schnell, ich weiß kaum, wie mir geschieht. Plötztlich sind wir schon da, haben unser Gepäck vom Band genommen und suchen in der Ankunftshalle des Flughafens Atatürk nach unserem Shuttleservice. Aber es gibt die Agentur nicht, die in unseren Reiseunterlagen angegeben ist. Von allen Seiten werden uns Taxis in die Stadt angeboten, aber wir haben unseren Shuttle schon bezahlt. Von einer anderen Agentur leiht uns ein Angestellter mit etwas muffligem Gesicht sein Handy und wir rufen die Notfallnummer an – keiner antwortet. Wir suchen weiter, und ein zweiter junger Mann kommt uns zu Hilfe. Er ruft selbst bei der Nummer an und hat mehr Glück, auf türkisch spricht er mit jemandem und zeigt uns dann den Weg, und dann geht wieder alles ganz schnell. Die Autofahrt in die Stadt mit dem herrlichen Blick auf das Marmarameer ist im Nu vorbei. Kaum habe ich Zeit, darüber nachzudenken, wie skeptisch ich eben am Flughafen den jungen Männern begegnet bin, die uns ihre Hilfe angeboten haben. Mein Alltag in Deutschland scheint mich zynisch zu machen. Ob Istanbul mir die Chance gibt, wieder ein bisschen vertrauensseliger auf das Leben zu blicken?
Das Hotel liegt in Laleli – was für ein herrliches Wort, weich und fließend wie die türkische Sprache überhaupt. Die Gegend ist allerdings nicht besonders türkisch, stattdessen stehen an den Schaufenstern der zahllosen Boutiquen überall Angebote in kyrillischer Schrift – „Wir nehmen auch Rubel“ – und sogar die Straßenverkäufer preisen uns ihre Waren auf Russisch an. Das Hotelzimmer ist klein, einfach und sauber, alles was man braucht. Uns hält es dort nicht lange, wir laufen gleich los. 
An der Universität vorbei geht es auf verschlungenen Pfaden durch kleine Gässchen mit absurdem Verkehr hinüber nach Eminönü – immer Richtung Wasser. Hier hängen in den Schaufenstern ganze ausgeweidete Tiere, der frische Orangensaft wird auf der Straße gepresst, Männer laufen Arm in Arm umher und grüßen sich gegenseitig mit Küsschen und bekopftuchte Frauen bieten Teegläser zum Verkauf. Es gibt unfassbar hässliches Spielzeug, gefälschte Markenartikel und riesige Plastikbeutel mit kleinen Metallteilen, vermutlich zur Herstellung von Schmuck und Gürteln. Julia bemerkt, dass es hier wohl keinen Großhandel gibt, und es scheint wirklich so, als ob die Türken hier in diesen winzigen Lädchen ihren Bedarf an Materialien für ihre eigenen Produkte decken. Ich genieße das Chaos und das pralle Leben, das hier herrscht, und etwas in mir beginnt langsam, sich zu öffnen.
Schließlich erreichen wir die Brücke vom Goldenen Horn, die Galata-Brücke. Der erste Blick auf das türkisblaue Wasser – mein Herz geht wieder ein bisschen auf. Es ist mir diesmal so vertraut, wie die vielen Angler oben auf der Brücke stehen und ihre Angelruten in die Fluten auswerfen. Julia kauft sich einen Döner im Brot, und dann wandern wir langsam über die Brücke nach Beyoğlu. In den zerschnittenen Plastikkanistern, die die Angler neben sich stehen haben, tummeln sich die Fische. Einer windet sich auf dem bloßen Asphalt, der Angler wirft ihn routiniert in seinen Kasten. Tierfreundlich ist das nicht. Ich denke an Taksim und daran, wie dort der frische Fisch in den Auslagen angepriesen wird und so schmackhaft aussieht. Ein unangenehmer Widerspruch.
Auf der Nordseite des Goldenen Horns trinken wir eine Cola in einem Fischrestaurant. Die Möwen kreisen gierig über und neben uns, prächtige Vögel, riesig und elegant. Auf der Mauer stehen ein großer Wasserkanister und eine Flasche mit Seife zum Händewaschen nach dem Fischessen. Wer braucht schon Messer und Gabel, wenn er mit den Fingern essen kann? Eine wohlgenährte junge Katze liegt faul neben uns in der Sonne. Buntes Treiben auf dem Wasser und am Ufer, und gleichzeitig eine große Friedlichkeit. Und dann – ich stoße innerlich einen Jubelschrei aus – ruft der Muezzin zum Gebet. Über das Goldene Horn klingt es von den Minaretten in hin und her. Ich habe mich mehr auf diesen Klang gefreut, als Worte beschreiben können.
Wir laufen dann unten an der Brücke zurück, wo sich ein Restaurant neben das andere reiht. Hier ist schlendern und wandern keine Option mehr; wir eilen, als versuchten wir, uns zu retten. „Lady! Lady! You like the drink? Sit here! I make the drink!“ „You like fish? Lady! Sit! Fresh fish!“ Ich grinse. „No, no. No, no.“ den ganzen Weg entlang. Julia sagt noch höflich „No, thank you!“ Das ständige Werben ist zwar auch ein bisschen anstrengend, aber es amüsiert mich noch immer. Irgendwie gehört es hierher. 
Wieder in Sultanahmet trinken wir in den kleinen Seitenstraßen am Gülhane Park einen Apfeltee und einen türkischen Kaffee. Auch hier werden wir umworben, und hier kommen sie von beiden Seiten gleichzeitig und reden auf uns ein. „Lady, my beautiful roadside terrace, good drink, nice and cold, tea coffee fish!“ „Lady, lady, my garden, my beautiful garden!“ Spontan gehen wir nach links, hier gilt es sich schnell zu entscheiden oder gar nicht – der Gewinner grinst, der Verlierer sagt durchaus gutmütig zu seinem Konkurrenten „I fuck you! I fuck you!“ Mein Kaffee schmeckt nach Fremde und Heimat gleichzeitig. Die bunten Lampen mit den vielen kleinen Glassteinchen baumeln lustig an der Markise, und über die Straße wächst eine knorrige Ranke, die noch kein Grün zeigt. Als es kühler wird, machen wir uns wieder auf den Weg.
Blaue Moschee – Sultanahmet Camii

Bergauf geht es ins Herz von Sultanahmet auf den Platz zwischen Ayasofia und Blauer Moschee. Julia war noch nie in einer Moschee. Ich denke an die Moscheen in Bosnien und Albanien, die ich besucht habe, auch an die in Berlin – alle so unterschiedlich, alle von orientalischer, fremder und wunderbarer Schönheit. So wie die Blaue Moschee ist keine andere gewesen, schon wegen der Größe. Wir werfen einen kurzen Blick hinein. Sehr kurz, denn nach wenigen Minuten werden wir aufgefordert zu gehen, es ist Gebetsstunde. Dennoch: Der weiche Teppich, die Farbenpracht und das lebendige Gewusel geben mir das Gefühl einer fröhlichen Andächtigkeit zurück, das ich auch vor zwei Jahren hier empfunden habe.
Burger King Moschee
Nicht gerade auf dem schnellsten, aber vielleicht tatsächlich auf dem schönsten Weg – vorbei an dem Gebäude, das wir die Burger King Moschee taufen – laufen wir ins Hotel zurück und gehen früh schlafen. 
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück auf der verglasten Dachterasse des Hotels nehmen wir die Tram nach Tophane und laufen an der Straße bis Findikli – hier habe ich vor zwei Jahren am Ufer des Bosporus jeden Morgen Börek und Kaffee gefrühstückt, bevor ich zur Stadterkundung aufgebrochen bin. Wir lassen uns die Sonne auf die Nase scheinen und schauen nach Asien hinüber. Als wir richtig aufgewärmt sind, laufen wir langsame die steile Straße hinauf, nicht ohne bei meinem damaligen Stammbäcker Börek zu kaufen. Er zergeht auf der Zunge, so zart ist er. Der Geschmack des Reisens. Oben gelangen wir an den Taksim Meydani. Schon wieder schlägt mein Herz höher. Etwas an Taksim rührt an bestimmte Orte in meiner Seele, die für ein ganz bestimmtes, überwältigendes Glücksgefühl reserviert sind. Und sie öffnen gerade wieder ihre Türen.

Mostar, Stolac, Kravice, Pocitelj und Sarajevo

In Split am Flughafen empfaengt mich die Hitze, die ich den Sommer ueber in Berlin vermisst habe. Palmen stehen vor der Ankunftshalle. Die Luft flimmert. Ich teile mit zwei Australierinnen ein Taxi in die Innenstadt und springe fast uebergangslos in den Bus nach Mostar.
Die kroatische Kueste ist mir vertraut mit ihrer sich sanft schlaengelnden Strasse, den vereinzelten Glockentuermen in den kleinen Siedlungen und dem Blick auf ueberfuellte Straende. Verkarstete Berge liegen zu meiner linken, die Adria zur rechten. Noch vor der bosnischen Grenze wird der Himmel langsam dunkler, die Nacht senkt sich auf die Landschaft herab. Nach einer Busfahrt, die mir laenger vorkommt als im letzten Jahr, scheucht mich der Busfahrer in Mostar aus dem Bus. Ich habe diesen Busbahnhof noch nie gesehen. Ich mache mir kurz Sorgen, dass ich in der falschen Stadt ausgestiegen bin. Ein Geisterbahnhof, er sieht aus als waere er noch nicht ganz fertig gebaut, als wuerde hier eigentlich niemals ein Bus halten. Lebendig ist nur die Tankstelle an der Strasse. Ich fasse mir die zwei schwedischen Maedels, mit denen ich mich im Bus unterhalten habe, laufe vor zur Tankstelle, zeige dem Tankwart meinen Mostarstadtplan im Lonely Planet und frage auf bosnisch, wo wir sind. Unbestimmt zeigt er auf eine Gegend im kroatischen Teil der Stadt. Ich frage nach der Altstadt. „Taxi…“ lautet die Antwort. Ich bitte ihn, ein Taxi fuer uns zu rufen, weil wir keine bosnischen Telephone haben, und fuenf Minuten spaeter kommt auch eins. Ich nenne die Adresse von Majdas Hostel, der Taxifahrer weiss gleich bescheid. Die Schwedinnen sagen ihre Adresse, der Taxifahrer kennt sie nicht. Viel spaeter wird mir klar, dass das Hostel der Schwedinnen auf der bosniakischen Seite der Stadt liegt, der Busbahnhof ist neu, er wird auf der kroatischen Seite gebaut, damit Busse aus Kroatien und aus der vornehmlich kroatisch bevoelkerten Umgebung nicht mehr bis in den bosniakischen Teil fahren muessen. Ich bin wieder in die politische Sphaere eingedrungen, die Mostar heisst.
Im Hostel gibt es ein grosses Hallo und herzliche Begruessungen. Wie nicht anders erwartet: Ich fuehle mich, als sei ich nie weg gewesen. Der erste ganze Tag vergeht in entspannter Traegheit. Bosanska kahfa, an den Moscheen in der Altstadt vorbeitroedeln, in kurzes Bad in der reissenden Neretva, um der Hitze zu entfliehen. Abends gehen wir ein Bier trinken auf einer der kleinen Terassen ueber dem Fluss, die den wunderschoenen Blick auf die Bruecke freigeben. Dahinter ist eine Islamschule fertig restauriert, die letztes Jahr noch nicht da war. In meinem Kopf ersetze ich die Klaenge der Balkanmusik durch Bombenlaerm und Kriegsgeraeusche. Alles an diesem Ort ist herzzerreissende Schoenheit und abgrundtiefe Traurigkeit zugleich.
Am naechsten Tag fahre ich mit Brent, Else und Nick aus dem Hostel nach Stolac. Es muss im Krieg voellig dem Erdboden gleichgemacht worden sein, und man sieht deutlich mehr Kriegsschaeden als in Mostar – Einschussloecher an den Waenden, mitunter Haeuser von denen nur noch die Waende stehen. In den Ruinen hinter der Moschee liegen, wie in Vukovar, noch die Bosenfliesen in einem rotweissen Karomuster, ein intakter Fussboden in einem vollstaendig zerschossenen Haus.
Wir klettern ueber verschlungene Pfade einen eindeutig inoffiziellen Weg hoch zur Burg. Eine Herde Ziegen versteckt sich vor der brennenden Hitze in einem der alten Wachtuerme. Sie maehen uns klaeglich an. Weiter nach oben durch das Gestruepp, immer hoeher, bis wir im obersten Burghof ankommen. Hier steht ein ueberdimensionales Steinkreuz, davor ein grosser steinerner Altar. Mich erinnert die Szene an die Chroniken von Narnia und die Szene, in der der Loewe Aslan sich auf dem steinernen Tisch opfert. Die Steine sind neu, und der Putz auch, eindeutig sind diese Dinge hier erst nach dem Krieg hingesetzt worden, um kroatische Besitzansprueche zu demonstrieren. Immerhin ist die Moschee im Tal in sehr gutem Zustand und von aussen entzueckend mit einem kleinen gepflegten Friedhof voller bluehender Rosen. Leider ist sie geschlossen.
Wir fahren durch die Umgebung, schauen uns die grossen Grabsteine der bosnischen Kirche an, die von eben dieser christlichen Bewegung des Mittelalters zeugen. In Mostar gibt es ein altes ausgebombtes Einkaufszentrum, das noch immer ruinoes in der Innenstadt steht und dessen Aussenwaende ebensolche Zeichnungen aufweisen, wie wir sie hier auf den Grabsteinen finden. Die bosnische Kirche ist durchaus Teil der genuin bosnischen Identitaet.
Die bosnische Kirche soll auch Blagaj bereits als heiligen Ort genutzt haben, wo wir ebenfalls noch Halt machen. Heute steht dort die herrliche Tekke, in der ich letztes jahr so viele ruhige friedliche Stunden zugebracht habe. Sie wird durch tuerkische Geldgeber restauriert und man kann nicht hinein, aber die Quelle der Buna ist ein Naturereignis wie eh und je. Dennoch kommt mir der Ort irgendwie entweiht vor durch den Baulaerm, und ich habe auch den Eindruck, dass mehr Restaurants dort geoeffnet haben und alles etwas touristischer geworden ist. Bata versichert mir spaeter, dass dort genauso viele Gebaeude stehen wir letztes Jahr und es schon immer genauso touristisch war wie jetzt. Aber mir wird trotzdem etwas wehmuetig, als ich dort stehe und auf die Tekke hinuebersehe.
Der Weg zurueck nach Mostar fuehrt durch eine trostlose Landschaft. Auf der einen Seite verbrannte Erde, auf der anderen karges Heideland. Ich habe Bosnien gruener in Erinnerung. Ob der lange heisse Sommer die Gegend so ausgetrocknet hat? Ich bin froh, wieder in Mostar anzukommen, die gruene Neretva im Blick. Abends gehen wir mit Hostelgaesten essen. Im Restaurant hoere ich eine Gruppe am Nebentisch aufbrechen, einer der jungen Maenner sagt: „Ajde!“ Mein Herz huepft. Ich bin tatsaechlich wieder auf dem Balkan.
Ich fahre noch einmal mit auf die wunderbare Tagestour, die Bata anbietet. Sie ist etwas anders als im letzten Jahr und umfasst nur noch zwei Orte, darunter die wunderbaren Wasserfaelle in Kravice, an denen wir viel Zeit verbringen. Bata bringt uns diesmal etwas abseits von der Fuelle der Badegaeste in abgeschiedenere Gegenden. Ich springe von einem elf Meter hohen Kliff in das gruene Wasser und schreie dabei laut. Es ist befreiend.
Die zweite Station heisst Pocitelj, und die Schoenheit des Ortes geht mir wieder ans Herz. Die anderen Reisenden erklimmen einen der Festungstuerme der mittelalterlichen Stadt, ich bleibe unten, schaue auf die Moschee hinueber und sehe zu, wie das letzte bisschen Sonnenlicht hinter den Bergen verschwindet.
Am naechsten Morgen geht der Zug in aller Fruehe nach Sarajevo. Ich fuehle mich nicht ganz gesund, habe Magenprobleme und bin sehr muede, ich habe die letzten drei Naechte sehr schlecht geschlafen, weil die Klimaanlage so kalt eingestellt war. In Sarajevo angekommen checke ich im Hostel ein und gehe in dem kleinen Innenhof hinter dem Taubenplatz eine bosanska kahfa trinken. Anschliessend beschliesse ich, mich im Hostel ein bisschen hinzulegen. Nach zwei Stunden wache ich auf, mir ist eiskalt, ich zittere, aber ich fuehle mich heiss an, ich glaube ich habe ein kleines Fieber. Ich gehe direkt schlafen – aus einem schoenen Tag in Sarajevo wird so nichts, aber ich kenne die Stadt ja und bin froh, wenigstens ein bisschen das besondere Flair der tuerkisch gepraegten Innenstadt aufgesogen zu haben. So werde ich hoffentlich wenigstens fit sein fuer die lange Busfahrt nach Trebinje am naechsten Tag.

Kreta

Aufstehen um 3 Uhr nachts. Taxi zum Flughafen um 4. Für diese Reiseplanung sind eindeutig meine Eltern verantwortlich. Es ist noch stockduster, als wir – das sind meine Eltern, meine Schwester Malaika und ich – das Abflugterminal erreichen. Nach dem Check-In haben wir noch viel Zeit. Ich suche einen Raucherbereich und finde einen vielleicht sechs Quadratmeter großen Glaskasten. Von außen sehen die Raucher darin aus wie Fische in einem Aquarium. Von innen ist es eine ganz fidele Gesellschaft, die sich hier versammelt hat. Ein Mann mittleren Alters von sicherlich 1,95m Körpergröße betritt den Glaswürfel kurz nach mir, und der Unterhaltungsfaktor steigt schlagartig. Er erklärt der ganzen Mannschaft mit einem südeuropäischen Akzent – italienisch vielleicht? – im Brustton der Überzeugung, dass wir Raucher mit der Tabaksteuer den Terrorkampf finanzieren und außerdem für die Rettung der deutschen Wirtschat verantwortlich sind, weil wir früher sterben und den Staat daher keine Rente kosten. Die Begegnung hebt meine Laune enorm, die Müdigkeit weicht einem stillen Amüsement und der Vorfreude auf Griechenland.
In Heraklion angekommen wird mir meine ambivalente Einstellung zum Fliegen klar. Ich mag das seltsame Ziehen im Bauch, wenn der Flieger abhebt. Mir ist immer, als bliebe ein Stück von mir am Boden, und ich stelle mir gerne vor, dass ich das zurücklasse, was mich gerade belastet. Mich fasziniert es, wenn ich aus dem Fenster schaue und Wolken nicht über mir, sondern unter mir sehe. Aber ich mag das Ankommen nicht. Es ist mir zu schnell, zu plötzlich. Mit Bus und Bahn kann ich erfassen, wie ich eine Distanz zurücklege. Ich bringe Abstand zwischen mich und den Ort, von dem ich aufgebrochen bin. Wenn ich in ein Flugzeug steige, verbringe ich nur ein paar Stunden in einem hermetisch abgeriegelten Raum und bin dann auf einmal da wo ich hin will, in der Regel ganz wo anders. Das überfordert mich ein bisschen. Ich habe jedoch hier in Heraklion gegen einen massiven Unterschied zum verregneten Hamburg nichts einzuwenden: Die Sonne scheint und es ist geradezu brüllend heiß. Am Busbahnhof ziehe ich mir die Jeans aus, die ich unter meinem Rock getragen habe.

Über Vrisses fahren wir mit dem Bus nach Chora Sfakion. Weiße und lila Bougainvilleas fallen ausladend von Balkons und Flachdächern an Häuserwänden herunter, um sich auf dem staubigen Boden auszubreiten wie Teppiche. Am diesigen Horizont liegen die Berge wie voreinandergeschichtet in schwarzen Silhouetten. Sie sehen aus wie das Titelbild zu einem Phantasy-Roman. Endlich das Meer – weit und blau, wie es nur das Mittelmeer ist. Von Chora Sfakion an der Südküste Kretas nehmen wir die Fähre nach Loutro.

Wir sind in einer entzückenden Pension untergekommen, in der meine Eltern schon einmal vor zwei Jahren waren. Sie liegt an demjenigen Ende der Bucht, die am weitesten vom Fähranleger entfernt ist. Wir stapfen die Uferpromenade entlang und laufen dabei quasi durch jedes einzelne Restaurant in dem kleinen Örtchen hindurch. In Loutro gibt es keine Straße und keine Autos. Nur weiße Häuser mit blauen Türen und Fensterrahmen kuscheln sich an den Hang, verbunden von Treppen mit unregelmäßig hohen Stufen und kleinen Kopfsteinpflastergässchen. Von unserem Balkon können wir alles überblicken, was es hier gibt. Das ist vor allem: Meer. Auf der Fährfahrt war das Meer auf der Landseite preußisch blau, seewärts war es silberglitzernd. Nun vom Balkon aus ist es zum Strand hin türkis oder dunkelgrün, zum Horizont hin funkelt es rosarot dem Sonnenuntergang entgegen.
Meine Schwester Martina kommt einen Abend später in Loutro an. Nun sind wir komplett. Am Morgen darauf wandern wir zu fünft eine Stunde an der Küste entlang zum Strand von Glyka Nera. Ich wundere mich über seltsame Knollen im Boden, auf die ich ständig aus Versehen drauftrete und die aussehen wie getrocknete Rosenblüten.
Mami erklärt mir, dass es sich dabei um Meerzwiebeln handelt und zeigt mir eine, die schon keimt. Ihr Stengel schnellt ehrgeizig empor und sieht mit seiner lustigen Spitze aus wie ein kleines Minarett. Am Weg wächst auch Lavendel, den ich zwischen den Fingern zerreibe. Ich muss an Piran in Slowenien denken, wo der Duft von frischer Pfefferminze überall durch die kleinen Straßen zog. Abgesehen von dieser spärlichen Vegetation ist die Landschaft ausgesprochen karg. Die Steilküste ragt abweisend und graubraun neben uns gen Himmel. Umso intensiver ist die Farbe des Meeres.
Glyka Nera bedeutet Süßes Wasser. Hier fließen kalte Süßwasserquellen ins Mittelmeer, und wenn ich schwimmen gehe, werde ich immer wieder unvorbereitet von kalten Strömungen erfasst, die ein Stück unter der Wasseroberfläche ihr Unwesen treiben. Ich lese wie eine Wahnsinnige, trinke nachmittags einen Frappé in dem kleinen Strandcafé, unterhalte mich zwischendurch ein bisschen mit meinen Schwestern und schaue auch einmal einfach nur auf das Meer und lasse meine Gedanken schweifen. Ich war schon einmal mit meiner Familie auf Kreta, 1994. Hier mit allen am Strand zu liegen kommt mir so vertraut vor, dass ich versucht bin zu denken, es hätte sich fast nichts verändert. Meine Haare locken sich viel mehr als gewöhnlich, das liegt am Salzwasser. Sie fallen mir widerspenstig ins Gesicht. Meine Haut ist braun und duftet nach Salz und Sonnencreme. Familienurlaub wie immer. Aber ganz anders.
Morgens frühstücken wir auf dem Balkon griechischen Joghurt mit Honig und Tomatenbrot mit Feta. Abends gehen wir an der Uferpromenade essen. Wir bestellen jedes Mal vorweg einen Choriatiki (griechischen Salat aus Gurke, Tomate, Paprika, Oliven und Feta-Käse), einen Tzatiki, einmal Dakos (eine Art griechische Bruschetta: Tomate auf doppelt gebackenem harten Brot mit Fetakäse) und einen Saganaki (gebackenen Fetakäse) und hinterher verschiedene Hauptgerichte. Jeder isst bei jedem mit.
Wir wandern durch die Imbros-Schlucht. Da ein leichter Wind weht und die Felswände viel Schatten spenden, ist das ein herrliches Erlebnis. Das Gestein ist lustig gemustert, unterschiedlich farbige Schichten malen Streifen auf die Steine, als hätte jemand dort nachgeholfen. Hier blühen auch die Meerzwiebeln schon. Ihre weißen Blütenkerzen erinnern sehen bescheiden und schüchtern aus. Am Grunde der Schlucht gibt es auch immer wieder Bäume, der Weg ist deutlich abwechslungsreicher als der nach Glyka Nera. Man kann deutlich sehen, dass man in einem Flussbett wandert, mächtige Wackersteine lösen kleine Kiesel ab und ich stelle mir vor, wie hier ein fröhlicher Gebirgsbach zu einem reißenden Strom wird und sich seinen Weg bahnt ohne Rücksicht auf Verluste. Mitunter liegt ein Baumstamm quer, ausgetrocknet. Jeder noch so kleine Wassertropfen würde vermutlich gierig von dem toten Holz verschlungen werden, und brennen würde es wie Zunder. Es hat einen eigentümlichen Geruch. Am Ende der Schlucht besteigen wir einen Wagen, der uns nach Chora Sfakion zur Fähre zurückbringt. Wir sitzen auf der Ladefdläche und lassen uns auf der Serpentinen-Straße den Wind um die Nase wehen.
Der Weg nach Marmara gestaltet sich unbequemer. Die Sonne brennt, und der Untergrund ist uneben und muss nicht selten erklettert werden. Malaika und ich entscheiden uns an einer Weggabelung für den vermeintlich einfacheren Weg – sie wegen ihrer Schwangerschaft, ich wegen meines Asthmas. Laut Mami ist es ganz einfach: immer geradeaus und dann sieht man schon den Wanderweg. Wir landen nach einer Weile „immer geradeaus“ am oberen Ende einer steilen Felswand. Wir sind auf den Rand der Aradena-Schlucht gestoßen. Hinunter geht es hier auf keinen Fall, in den Abgrund zu schauen löst einen gewissen Nervenkitzel bei mir aus. Es geht so jäh und radikal nach unten, die Kante ist geradezu scharf. Um die Felsen, auf denen wir stehen, spielt roter Sand, die Schlucht wirkt ungezähmter, wilder als die Imbros-Schlucht. Wir müssen zurück und finden mit ein paar anderen Wanderern gemeinsam den versteckten Wanderweg zurück zum Meeresstrand.
In der Marmara-Bucht – Marmorgestein, weiß und glatt gespült von den Wellen. Der Strand ist schwarz, darauf zu laufen tut an den Füßen weh, weil die Kiesel heiß und unförmig sind. Schwimmt man an der Küste entlang findet man winzige Einbuchtungen, die das Meer ins Gestein geformt haben muss. Wenn Wellen dort anschlagen, hört man nicht nur das Geräusch des Wassers, sondern auch das Klirren von Kieseln, die vom Wasser an den Stein geschleudert werden und mit dem Zurückweichen der Welle langsam wieder Richtung Meeresgrund rieseln. Einzelne Wolken werfen riesige Schattenungetüme auf die Berge der Steilküste.
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Ich muss eine Weile allein sein und spaziere in Loutro zum Fähranleger und darüber hinaus zur kleinen Ruine am Ende der Bucht. Ich bemerke, dass es mir schwerer fällt, zu beobachten, welche Wirkung ein Ort auf mich hat, wenn vertraute Menschen um mich sind, selbst wenn wir nicht reden. Ich sitze dort auf den Felsen und fühle, wie meine gebräunte Haut warm ist von der Sommersonne, genau wie die weißen staubigen Felsen auf denen ich sitze. Wo die Steine nass sind, sind sie schwarz, umspült von Gischt. Der Horizont bildet eine Linie, die gleichzeitig gerade und rund ist. Ein kleines gelbes Kajak treibt als Farbtupfer an mir vorbei. Meine Eltern haben uns beigebracht, solche Orte zu lieben.

Makarska / Rijeka / Maribor

Tatsaechlich breche ich schliesslich aus Mostar auf und es faellt mir leichter als erwartet. Bata und ich nehmen uns zum Abschied in den Arm und er sagt nur schlicht: „Well, you’ll be back!“ – wie er das beim letzten Mal auch schon getan hat. Dieses Mal weiss ich noch nicht, wann das sein wird, das Wiederkommen. Aber ich weiss, dass er recht hat. Majda faehrt mich zum Bahnhof. Eigentlich wollen wir noch einen Kaffee zusammen trinken, aber dann kommt mein Bus frueher als erwartet und alles geht Hals ueber Kopf. Eine kurze Umarmung, ein schnelles Dankeschoen. Sie weiss ja auch ohne viele Worte, wieviel mir Mostar bedeutet und wie gerne ich dort bin.

Der Bus nach Makarska ist voellig ueberfuellt, an einem Samstag wollen alle ans Meer. Wir verlassen Bosniens sanfte gruene Huegel und erreichen die kargeren, wilderen Berge Kroatiens – und schliesslich faellt mein Blick wieder auf die Adria. Wir fahren ein ganzes Stueck die Kuestenstrasse entlang. Sie ist zauberhaft, waeren da nicht nahe jeder noch so kleinen Siedlung voellig ueberfuellte Straende. Ich erreiche das Hostel ohne Probleme und mache mich gleich auf den Weg zum Strand. Ich finde kaum einen Platz um mein Handtuch abzulegen, ich will es ja noch nicht einmal ausbreiten, aber die Menschen liegen dort dicht an dicht, es finden sich kaum ein paar Quadratzentimeter freie Flaeche. Aber ich muss doch kurz ins Wasser springen. Das tue ich dann auch, und es ist so warm, dass es eigentlich gar nicht erfrischend ist. Ich bin ja jetzt das 10 Grad kalte Wasser der Neretva gewoehnt. Seltsam, denke ich, dass fuer die meisten Menschen an diesem Strand diese Situation das Herzstueck ihres Urlaubs ausmacht. Mir kommt sie im Kontext meiner Reise seltsam deplaziert vor. Makarska ist ein Ort fuer Touristen, kein Ort fuer Reisende.
Ich laufe, noch nass vom Salzwasser, zum Ortskern. Der ist nun wieder wirklich entzueckend, und auch nicht so ueberfuellt, wer weiss wo die Touristen alle zum Abendessen hingehen. Ich finde direkt am Marktplatz ein kleines Buchcafe. Dort sitze ich, trinke Cappuccino und schaue mir den hellen Markt mit den vielen Gebaeuden aus weissem Stein an, der so typisch dalmatinisch ist, dass ich mich in Gedanken an den Beginn meiner Reise verliere – Zadar, Šibenik, Split und Vis, sie ziehen vor meinem inneren Auge vorbei und ich kann nicht glauben, dass das erst oder schon drei Monate her ist.
Den naechsten Tag verbringe ich etwas abseits der schlimmsten Fuelle am immer noch reichlich gut besuchten Strand. Abends kommt Stu aus Schottland im Hostel an, die ich in Mostar kennengelernt habe. Es ist schoen, weiter Gesellschaft zu haben. Am Tag darauf machen wir eine Bootstour nach Brač und Hvar. Es gibt viel kostenlosen Alkohol, Musik aus den Neunzigern – das ganze Boot tanzt, sicher 100 Leute -, herrliche Ausblicke auf huebsche Staedtchen am Ufer und zweimal Landgang: Einmal in Jelsa auf Hvar und einmal in Bol auf Brač. Auf der Rueckfahrt nach Makarska spielt der Kapitaen „Miljacka“ von Halid Bešlić, dem bosnischen King of Folk – das Lied laeuft immer auf Batas Tagestouren in Mostar. Stu und ich fangen an zu tanzen und ich muss natuerlich mitsingen. Ein Crewmitglied hoert mich, nimmt mich an die Hand und bringt mich ins Kapitaenshaeuschen, wo ich den zweiten Teil des Liedes ins Mikrophon singe. Singen macht mich gluecklich.

Richtig warm werde ich mit Makarska nicht. Stus Gesellschaft macht den Aufenthalt dort zu dem, was er ist – lustig und unbeschwert. Ich bin aber nicht traurig, als ich schliesslich im Nachtbus nach Rijeka sitze. In der Abenddaemmerung fahren wir an Split vorbei. Das Licht taucht die Stadt in ein goldenes Licht. In mir schmilzt etwas. Ich fuehle mich so zuhause in den Laendern des Balkans… Ich komme nachts um 4 in Rijeka an und falle einfach nur bei meinen Couchsurfern auf die Couch und schlafe.
Ich couchsurfe eigentlich mit Nina, aber widrige Umstaende haben Nina selbst, ihren Freund Željko, eine Gruppe von fuenf litauischen Couchsurfern, zwei weitere deutsche und einen aus Israel in das Haus von Ninas Kumpel Martin am Stadtrand verschlagen. Da verbringen wir nun die Tage und Naechte im Garten mit Grill, Gitarre und guten Gespraechen.
Am ersten Tag fragt Nina mich, ob ich Lust habe, Paragliden zu gehen. Ihr Kumpel Davor bietet fuer wenig Geld Tandemspruenge im Učka Gebirge an. Sofort sage ich ja. Ich wollte schon immer paragliden. Davor holt mich und die zwei anderen Deutschen nachmittags ab und faehrt mit uns nach Tribalj. Die Fahrt hoch zum Startplatz ist abenteuerlich, die Strasse steil und schmal, das Auto alt und klapprig. Ovo je Balkan… Davors Gleitschirm ist gelb und orange und wunderschoen. Er schnallt mir den Sitz um und hilft mir mit dem Helm. Anlaufen ueber das Felsgeroell am Berghang, Davor dicht hinter mir. „Run! Run run run!“ Ich bemerke kaum, wie wir abheben, es ist sanft und sicher und ueberhaut nicht gruselig. Und dann fliegen wir. Unter uns breitet sich die Kvarner Kueste aus – Meer und Huegel, blauer Himmel und Wind. Ich habe viel mehr Rausch erwartet, es ist so friedlich und ruhig. Wir werden eins mit der Natur, die uns umgibt und nutzen ihre Gaben – den Wind und die Luftstroeme – ohne ihr weh zu tun. Ein meditativer Sport. Ein aesthetischer Sport. Balsam fuer die Seele. Sogar die Landung ist fast weich, und es fuehlt sich surreal an, dass ich vor wenigen Minuten noch auf ueber 1000 Meter Hoehe durch den Himmel geschwebt bin. Aber auch die Erde fuehlt sich jetzt friedvoller an. Die Bergwiese duftet nach Sommer. Das habe ich auf keinen Fall zum letzten Mal gemacht.
Am Tag darauf holt Roni, mein Couchsurfer von meinem ersten Besuch in Rijeka, mich mit dem Auto ab und wir fahren nach Fužine. Es ist als kaeme ich nach Oesterreich. Suesse kleine Haeuser mit Blumenkaesten an den Fenstern und ein See, an dem wir spazierengehen und uns austauschen ueber alles, was in den letzten Monaten passiert ist. Roni bekommt einen Anruf und sagt: „Jesam ovde sa prijatelicom…“ – „Ich bin hier mit einer Freundin…“ Als ich das letzte Mal da war war ich am Telephon noch eine „Couchsurferica“. Jetzt bin ich eine Freundin. Das macht mich gluecklich.
Spaeter liefert Roni mich in Kostrena am Strand bei der ganzen Gruppe um Nina ab. Die Sonne geht gerade unter, und das Abendlicht verwandelt die Adria in einen Teppich aus blauen, grauen, goldenen, orangenen und gelben Farbtoenen, der immer dunkler wird, bis schliesslich das Mondlicht die Sonne abloest und silberweiss auf dem Wasser tanzt. Ein letztes Mal auf dieser Reise springe ich ins salzige Wasser. Ich fuehle mich frei.

Am naechsten Morgen nehme ich den Zug nach Maribor. Auch hier besuche ich nicht Bekannte, sondern Freunde. Mojca und ich sitzen stundenlang auf ihrem Balkon, trinken Wein, Tilen kommt zu besuch und kocht phantastisches Essen, wir malen mit Oelfarben Bilder, schauen, meine Photos an. Es kommt mir gar nicht so vor, als ob ich erst einmal hier gewesen waere und auch nicht als waeren das damals nur zwei Tage gewesen. Slowenien ist schon wieder sehr aufgeraeumt. Die Leute halten hier am Zebrastreifen fuer Fussgaenger an! Voellig verrueckt! Es ist wohl eine gute Einstimmung auf zuhause. Heute vor vier Monaten bin ich in Berlin in den Zug nach Wien gestiegen. Heute abend steige ich in Maribor in den Zug nach Muenchen. Ich fuehle mich nicht am Ende meiner Reise. Ich fuehle mich in der Mitte des grossen Abenteuers, das Leben heisst.

Istanbul

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Istanbul und ich, das ist die ganz grosse Liebe.
Bayrampaşa

Im Bus ueberfaellt mich kurz die Angst vor der eigenen Courage. Bin ich denn des Wahnsinns, alleine in eine der grössten Staedte der Welt zu fahren ohne auch nur einen Stadtplan im Gepaeck? Ich hab ja keine Ahnung von Istanbul. Ich hab ja noch nicht mal Orhan Pamuk gelesen. Vielleicht ist so ein bisschen Ehrfurcht ganz gut. Ich steige in Bayrampaşa aus und tue mich mit einem schwedischen Paerchen aus dem Bus zusammen, um den Weg in die Stadt zu finden. Wir werden in den kommenden Tagen noch viel zusammen die Stadt erkunden.

Eminönü

Überall ist Wasser. Alles ist blau und golden. Moscheen thronen stolz und maechtig am Ufer. Ein westlicher Orientalismus schlaegt in mir durch und vielleicht verklaere ich diese Aesthetik, aber ich kann mir nicht helfen: Ich finde es bezaubernd. Wir gehen frühstücken auf der Galata-Brücke – der Brücke vom Goldenen Horn, vom Haliç. Der Kellner hat fuenf Jahre in Radolfzell am Bodensee gearbeitet, spricht hervorragendes Deutsch und schenkt uns bunt bemalte Untertassen. Der tuerkische Joghurt mit Honig schmeckt nach Sommerurlaub.

Bosporus

Der Wind weht uns auf dem Schiff um die Nase und die Sonne strahlt genauso wie wir drei. Am Ufer eroeffnen sich immer neue wunderbare Aussichten. Ich kann noch keines der Gebaeude zuordnen. Ich trete der Stadt voellig unbefangen gegenueber – vielleicht trifft mich genau deswegen jeder neue Blickwinkel ins Herz. Mein Kopf wird frei auf den gruenblauen Wellen des Bosporus. Europa und Asien, Moderne und Geschichte, ich fuehle mich im Herzen einer riesigen Metropole aus Gegensaetzen, die europaeischen Lebensstil und mitteloestliche Lebensfreude zu einer einzigartigen Synthese bringt.

Sultanahmet

Der Weg fuehrt durch den Gülhane-Park am Topkapı-Palast vorbei zur Ayasofia. Buntes Treiben auf den Strassen, Touristen werden sofort als solche erkannt. „Hey Lady! Lady!“ rufen uns die Strassenverkaeufer zu, um uns was auch immer zu verkaufen – Kebab, Orangensaft, Schmuck, Teppiche. Am Orangensaft kommen wir nicht vorbei, er wird vor unseren Augen frisch gepresst und schmeckt so suess und fruchtig, dass ich mir kaum vorstellen kann, jemals wieder Saft aus einem Tetrapack zu trinken. Wir lernen einen sechzigjaehrigen Goldschmied kennen, der seinen Çay neben uns trinkt. Er teilt tausend Lebensweisheiten mit uns – manche sind gut, manche sind weniger gut.

Taksim Meydanı

Ich treffe Emre, meinen Couchsurfing-Gastgeber, abends am Taksim Meydanı. Ich bin frueh dran und gebe meinen touristischen Beduerfnissen nach: Venti Iced latte bei Starbucks. Chaotischer Verkehr, ausschliesslich junge Leute, eine ueberdimensionale tuerkische Flagge, feine Hotels, Dürüm-Staende. Das geballte Leben am Kreisverkehr vor der Metrostation. Alles ist schnell und energiegeladen, aber das Gefuehl von Stress will sich nicht einstellen. Emre und ich laufen zu seiner Wohnung in einer Sackgasse. Ploetzlich ist alles ruhig. Dutzende von streunenden Katzen spielen auf der laecherlich steil abfallenden Strasse. Das Leben von Taksim tobt nur ein paar Blocks weiter. Ich fuehle mich hier sofort wohl. Fuenf Tage spaeter, wenn ich von dort zu meinem Shuttlebus nach Bayrampaşa laufen werde, werde ich mich fuehlen als haette ich hier gelebt und es nicht nur besucht.

Fındıklı

Fındıklı ist die Metrostation, die man erreicht, wenn man von Emres Wohnung immer bergab zum Wasser laeuft. Ich fruehstuecke am Ufer Starbucks-Kaffee und Börek. Bosnien hat sicher den besten Burek auf dem Balkan, aber die Tuerkei ist das Mutterland des Börek. Der Blick auf den Bosporus – unbeschreiblich. Ein Spielplatz mit laermenden Kindern nebenan zaubert mir ein Laecheln auf’s Gesicht. Ich lege es die gesamte Zeit in Istanbul nicht ab.

Gülhane Parkı

Der Rosenhaus-Park, so die deutsche Uebersetzung, am Topkapı Sarayı ist eine Oase der Ruhe in dieser riesigen Metropole. Er ist gruen und bunt und laedt zum Entspannen ein. Ich sitze auf einer Bank, hinter mir spielen zwei Jungs Gitarre. Ich ziehe auf den Rasen um und warte, dass sie etwas spielen, das ich kenne. Da: „Wonderwall“. Ich fange an zu singen. Sie winken mich zu sich rueber und wir machen gemeinsam Musik und unterhalten uns nett. Die zwei kommen aus Libanon. Es ist so einfach, hier Menschen kennen zu lernen! Es faengt an heftig zu regnen. Ich suche Schutz unter einem Baum. Eine Baby-Katze versteckt sich unter meinem bodenlangen Rock.

Sultanahmet Camii

Laute Geschaeftigtkeit herrscht in der Blauen Moschee. Die Schuhe muessen wir ausziehen, aber das Kopftuch ist im Besucherbereich nicht notwendig. Kinder rennen und spielen auf dem weichen Teppich. Ueberalle sitzen Menschen im Schneidersitz auf dem Fussboden, Touristen lesen sich gegenseitig aus Reisefuehrern vor, das Klicken der Kameras reisst nicht ab. Es ist trotz allem ein spiritueller Ort. Die Glaeubigen beten dort nur mitten im Leben und nicht in der stillen Abgeschiedenheit. Ich empfinde Moscheen als so viel einladender als christliche Kirchen, die haeufig einschuechtern mit ihrer unsubtilen Demonstration von Macht und Groesse. Ich denke an den Petersdom in Rom. Ich assoziiere: gross und eindrucksvoll. Ich denke an die Blaue Moschee. Ich assoziiere: warm und lebendig.

Taksim I

Taksim, oh, Taksim. Ich habe mein Herz an Taksim verloren. Das Leben ist hier dichter als an anderen Orten. Emre und ich essen in einem einfachen kleinen Lokal. Wir suchen uns den Fisch im Fenster selbst aus. Dazu Salat und zum Nachtisch Wassermelone. Alles ist hier geschmacksintensiv und frisch. Anschliessend laufen wir durch die verschlungenen kleinen Strassen mit Kopfsteinpflaster und tausend Strassencafes. Wir trinken Bier in einer Kneipe, in der ausschliesslich gute Musik laeuft. Es gibt tausend Dinge zu sehen und alles scheint sich staendig zu veraendern, ohne dass es unangenehm unruhig waere. Bunte Lichter an alten Haeusern. Zigarettenrauch und Dürüm-Duft in der Luft. Menschen, die sich zufaellig treffen und mit einer Herzlichkeit begruessen, die mich anruehrt. Der Ort sprueht vor einer Energie, die ansteckend ist. Das Glueck kommt ueber mich wie eine Welle.

Kadıköy

Von Beşkitaş bringt die Faehre uns nach Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. Am Haydarpaşa Bahnhof, von dem aus traditionell die Hajj nach Mekka beginnt, laufen wir langsam in den Hafen ein. Wir trinken tuerkischen Kaffee am Ufer des Bosporus und geniessen die entspannte Atmosphaere. Es fuehlt sich nicht sehr anders an auf diesem neuen Kontinent. Aber ein bisschen. Ich kann nicht beschreiben, warum. Ueber Europa zieht ein Gewitter herauf. Ein wahnsinniger weiter Himmel spannt sich ueber uns. Dass diese Stadt so gross ist und man trotzdem immer so viel Himmel sieht!

Ayasofia
Ayasofia, die beruehmte. Ein historischer Platz. Wunderschoen. Unfassbar. Mich macht er vor allem traurig. Wieder denke ich an Rom, diesmal an die Sixtinische Kapelle. Meine Gastmama hat darueber gesagt: „It was like a mall in there.“ Ayasofia ist kein spiritueller Ort mehr. Es ist jetzt nur noch ein Museum. Nur noch? Vielleicht ist das der einzige Weg, dieses unvergleichliche Bauwerk zu schuetzen vor den Klauen der Geschichte, vor dem Zahn der Zeit. Es faellt mir schwer, Ayasofia nicht als geweihten Ort zu begreifen, sondern als ein touristisches Objekt. Ich kann sie nicht richtig spueren. Sie bleibt trotz ihrer Schoenheit ein wenig seelenlos.

Topkapı Sarayı

Ich fuehle mich wie in den Gaerten von Alamut. Wieder denke ich, dass meine westliche Erziehung vermutlich den orientalischen Stil zu einem maerchenhaften Wunder. Ob ein Tuerke Topkapı wohl so empfindet wie ich etwa Sanssouci? Und wie empfindet ein Tuerke dann Sanssouci? Ich verliere mich in den verschiedenen Palastgebaeuden und den endlosen Gartenanlagen. In einem Raum singt ein junger Mann aus dem Koran. Ich stehe zwanzig Minuten und hoere ihm zu, waehrend die Touristen an mir vorbeirauschen, nicht rechts oder links schauend. Koennen sie den Zauber dieser Musik nicht fuehlen?

Ortaköy

„It has to be night,“ sagt Emre, als wir uns gegen 8 auf den Weg nach Ortaköy machen. Wir kaufen Kumpir und setzen uns ans Wasser. Boğaziçi Köprüsü, die erste Bosporus-Bruecke, wird in allen Regenbogenfarben angestrahlt. Blauer Nachthimmel scheint durch eine lose Wolkendecke. Ortaköy Camii, die Moschee, liegt stolz und ruhig hinter uns. Das Leben summt um uns wie in einem Bienenstock. Der Bosporus schlaegt leicht Wellen, aber das Wasser kraeuselt sich nicht so sehr, dass es dumpf wird, sondern es glaenzt wie ein Zerrspiegel. Die bunten Lichter werden zurueckgeworfen in die Nachtluft. Die Stadt hat alles zu bieten, aber sie hat nichts noetig. Ihr groesstes Geschenk fuer den geneigten Besucher ist, dass er hier einfach sein kann.

Taksim II

Auch tagsueber verliert Taksim nichts von seiner Anziehungskraft. Ich kaufe mir einen Ring. Ich moechte die Stadt am Finger tragen. In der langen Fussgaengerzone, İstiklâl Caddesi, spielen alle paar Meter Strassenkuenstler Musik von voellig unterschiedlichem Stil und Klang, alle paar Meter aendert sich die Atmosphaere. Emre und ich rauchen Nargile (Shisha), essen Dürüm (Kebab im Wrap), trinken Ayran (Joghurt) und spielen Tavla (Backgammon). Wir sitzen in einem Hinterhof, in dem Menschen bei Çay oder Kaffee zusammensitzen und antiquarische Buecher verkauft werden. Wir schauen einfach nur zu. Noch nie ist es mir in einer wirklich grossen Stadt so leicht gefallen, zur Ruhe zu kommen.

Haliç

Der Shuttlebus von Taksim nach Bayrampaşa faehrt am gesamten Suedufer des Goldenen Horns entlang. Ich blicke noch einmal hinueber nach Beyoğlu. Am Horizont ueber Istanbul geht ein roter Mond auf. Ich verlasse die Stadt sehr wehmuetig. Es waere nicht auszuhalten, wenn ich nicht das sichere Wissen im Herzen truege, dass ich wiederkommen werde, wann auch immer.

Veliko Tarnovo / Varna / Burgas

Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal mit dem Zug gefahren bin, ich glaube es war zwischen Sarajevo und Mostar. Zwischen Plovdiv und Stara Zagora faehrt ein alter deutscher Regionalexpress. Es ist immer wieder seltsam, in einem fremden Land in einem Zug, Bus oder einer Strassenbahn aus Deutschland zu sitzen. Meistens sind die Schildchen – „Nicht aus dem Fenster lehnen“, „Notbremse nur im Notfall benutzen“, „Waehrend der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen“- unuebersetzt oder nur provisorisch mit bedruckten Aufklebern ueberklebt.
Wie wir es aus dem Regionalexpress von jeher kennen, gibt es auch hier nicht ausreichend Platz fuer Gepaeck. Mein Rucksack ist staendig im Weg und faellt auch immer um. Mein Sitznachbar fragt mich schliesslich „Na gore?“- „Nach oben?“ und zeigt auf ein Gepaecknetz, und ich nicke engagiert. Er guckt verwirrt. „Ne?“- „Nein?“ Ach du meine Guete, das geht hier ja andersrum mit dem Kopfschuetteln und dem Nicken! Ich sage schnell: „Da, da!“ und nicke wieder – ach nein, wieder falsch! und wechsele dann zum Kopfschuetteln. Ich glaube der arme Mann haelt mich fuer ein wenig seltsam, aber mein Rucksack landet schliesslich auf der Ablage. In Stara Zagora muss ich umsteigen, die Zeit ist knapp, ich laufe auf das zweite Gleis und frage einen Schaffner, der da neben dem Zug sitzt: „Veliko Tarnovo?“ Er schuettelt den Kopf und sagt „Tarnovo, da!“ Gott sei Dank ergaenzt er die Geste um die Worte, auf die ich mich immerhin verlassen kann, sonst waere ich sicherlich endgueltig verwirrt am Bahnsteig stehen geblieben.

Veliko Tarnovo ist heiss. Jeder andere Eindruck verschwindet zunaechst hinter den Temparaturen, es sind wohl an die 40 Grad. Trotzdem mache ich mich nachmittags auf, um auf die Festung Tsaravets zu klettern. Sie ist riesig und ausgesprochen gut erhalten.

Am hoechsten Punkt steht eine Kirche, die mich schwer beeindruckt. Sie ist mit Fresken aus den 1980er Jahren geschmueckt. Ich tue mich sonst so schwer mit moderner Kunst, aber die Waende hier sprechen mich wirklich an. Neben christlichen Motiven finden sich wohl auch Bezuege zur bulgarischen Geschichte. Ich kenne mich leider viel zu wenig aus um irgendetwas zuordnen zu koennen, aber das ist nicht so schlimm. Die Figuren sprechen ihre eigene Sprache, mit der sie Leid und Triumph zum Ausdruck bringen. Abends gibt es im Hostel das Fussballspiel gegen Australien. Ich gehe nach dem 4:0 ausgesprochen gutgelaunt zu Bett.
Am naechsten Tag organisiert das Hostel einen kleinen Trip zu einem nahen Kloster, wo wir versuchen, Fresken bestimmten biblischen Geschichten oder mythologischen Figuren zuzuordnen und schliesslich dahinterkommen, dass das grosse Bild an der Klosterwand den Wechsel der Jahreszeiten darstellt. Alles ist hier von aussen ein bisschen heruntergekommen, aber das Innere der Klosterkirche strahlt im ganzen traditionellen Glanz. Anschliessend fahren wir zum Hotnica-Wasserfall. Wir schwimmen im gruenen Wasser des Flusses und springen die zwei oder drei Meter den Wasserfall hinunter. Eine herrliche Erfrischung!

Ich mache mich zwei Tage spaeter fast etwas wehmuetig auf nach Varna – obwohl oder gerade weil ich in Veliko Tarnovo noch lange nicht alles gesehen habe, hat es mir dort ausgesprochen gut gefallen und ich haette noch viel mehr Zeit dort verbringen koennen. Die Kueste lockt jedoch mit ihren etwas kuehleren Temparaturen. Meine Gastgeberin Boyana kommt mich in Varna vom Bus abholen und wir laufen zu ihrem am Rande des Zentrums gelegenen Appartment, das sie mit ihrem Freund Niki teilt. Vom Balkon aus sehe ich schon das Schwarze Meer, da haelt es mich nicht mehr und ich laufe gleich in die Stadt. Ich bin erstaunt ueber die Schoenheit des Zentrums. Es erinnert mich stark an Opatija in Kroatien und hat viel von oesterreich-ungarischem Kurort-Pomp – wie kann das sein? Die Bulgaren haben das von osmanischer Architektur gepraegte Zentrum Ende des 19. Jahrhunderts nach westlichem Vorbild umgebaut – alles fuer die Distanzierung vom „Joch der tuerkischen Herrschaft“. Niki spricht, vielleicht in Ermangelung besserer Englischkenntnisse, sogar von „Slavery“, wenn es um die tuerkische bestimmte Vergangenheit Bulgariens geht.
Und schliesslich erreiche ich durch den Primorski Park, den Park am Meer, den Stadtstrand von Varna und sitze am Ufer des Schwarzen Meeres. Es ist graugruener als das Mittelmeer und mir dadurch sehr vertraut. Wild, aber bestaendig. Aus irgendeinem Grund ist mir seine Endlichkeit sehr bewusst. Am Ufer von Ostsee und Mittelmeer erscheint mir der Horizont in aller Regel unbeschreiblich weit, als kaeme niemals Land dahinter. Hier denke ich unmittelbar daran, dass auf der anderen Seite des Meeres Asien liegt und die Weiten Russlands. Es weht ein leichter Wind, der mir den Kopf frei macht. Das Mittelmeer ist wunderbar, es ist ein Urlaubsmeer zum Schwimmen und Strandliegen. Das Schwarze Meer, wie meine geliebte Ostsee, ist zum Spazierengehen und Horizontgucken. Es bringt mich anders zur Ruhe.

Am naechsten Tag verbringe ich den Morgen am Strand und nachmittags gucken Boyana, Niki und ich das Spiel gegen Serbien, naja, reden wir nicht weiter darueber. Niki geht anschliessend mit mir an den Hafen. Er erklaert mir viel bulgarische Geschichte und wir schauen den Segelschiffen zu, die mit bunten Spinnaker in den Hafen einlaufen.

Die naechste Station heisst Burgas. Es ist eın beschauliches Staedtchen mit Kuestenflair, in dem ich zwei ruhige Tage mit viel Fussball und guten Gespraechen mit meiner Gastgeberin Dora und ihrer Cousine Galina verbringe. Von dort bin ich heute nacht nach Istanbul gereist, das einen eigenen Blog verdient. Es ist bislang noch unbeschreiblich. Mein Bild muss sich erst noch festigen. Soviel vorweg: Ich finde es phantastisch.

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