Den Übertritt in das dreißigste Land meiner Reisehistorie verschlafe ich, aber auf dem Weg habe ich doch das Gefühl, dass sich die Landschaft verändert. Sie wird noch etwas offener, weiter und grüner. In Tallinn bringt uns ein ausgesprochen netter Taxifahrer zum Hostel – er hat so etwas Verschmitztes, Fröhliches. Vielleicht liegt es daran, dass er uns übers Ohr haut: Die Taxifahrt vier Tage später zurück zum Bahnhof wird für die gleiche Strecke nur die Hälfte des Geldes kosten. Aber das wissen wir noch nicht, als wir bei nordisch-schönem Wetter unsere ersten Eindrücke der estnischen Hauptstadt genießen.
Nach einem kurzen Stopp im minimalistisch ausgestatteten Hostel machen wir einen ersten kurzen Gang in die Innenstadt. Unter einem strahlend blauen Himmel mischen wir uns unter die vielen Menschen. Es ist halb 8 am Abend, aber das Licht wirkt eher wie Spätnachmittag, und die Farbe des Himmels erinnert mich an Dänemark – sie ist von einer besonderen Intensität und einer inneren Kraft. Vor uns tut sich der Marktplatz auf: groß, weit, offen und voller Leben. Ich mag große Freiflächen inmitten einer Stadt, sie lassen mir Luft zum Atmen, zum Erfassen und Verarbeiten.
Die Schönheit der alten Häuser rührt mich an, die vielen Straßencafes und -restaurants sprühen und wuseln darunter im ganzen Glanz des kapitalistischen Konsums. Ich muss den Anblick ein wenig auf mich wirken lassen, bis ich ihn begreifen kann: eine Mischung aus einem dauerhaften Mittelaltermarkt und einer modernen westlichen Großstadt.
Ich bin vorrangig begeistert von der Atmosphäre und dem wunderschönen Stadtbild. Gleichzeitig irritiert es mich, dass vor allen Restaurants Hostessen stehen, die die Passanten abfangen sollen. Es erinnert an die Türkei, nur wird das Anpreisen des eigenen Restaurants hier nicht ganz so aggressiv betrieben. Ich habe diesen Kundenfang auch in Wroclaw und Krakow schon erlebt. Das touristische Gewusel erinnert mich auch an Dubrovnik, wo mich im letzten Jahr die Menschenfülle und die starke Präsenz der englischen Sprache so verärgert hat. Hier stört mich das erstaunlich wenig, und dieser Umstand wundert mich fast ein bisschen. Ich habe vor der Reise schon vermutet, dass mich Tallinn bezaubern wird. Mit manchen Orten geht es mir so, und ich weiß oft nicht genau, woher dieses Gefühl kommt. Überraschenderweise liege ich jedoch meistens richtig. So geht es mir auch hier: Von Anfang an zieht mich Tallinn in seinen Bann, und ich verzeihe der Stadt ihren Kommerz und ihre Touristenfallen. Wir essen zu Abend in einer Seitenstraße des Marktplatzes; Fischsalat und Hummersuppe für teures Geld, aber beides eine absolute Gaumenfreude.
Am nächsten Morgen laufen wir über die Oberstadt wieder ins Zentrum. Wir verlaufen uns kurz zwischen der Newski-Kathedrale und der Treppe in die Unterstadt, werden aber mit einem herrlichen Blick von einem der Aussichtspunkte entschädigt:
Frühstück besorgen wir uns in einer kleinen Delikatessen-Bäckerei, die der Lonely Planet empfiehlt. Wieder ist es erstaunlich teuer, und wir befürchten das schlimmste für unser Budget. Später werden wir lernen, dass Estland seit der Einführung des Euro 2011 eine allgemeine Preissteigerung von 25% erlebt hat. Überdies verdienen viele Tallinner ihr Geld in Helsinki, das nur eine anderthalbstündige Fährfahrt entfernt liegt. Es hilft nicht, sich darüber zu ärgern. Wir verzehren unsere Croissants auf den Stufen an einem der alten Tore in der Stadtmauer in der Sonne, schlendern anschließend ein wenig durch die Stadt und planen die nächsten Tage. Beim Kaffee auf dem Markt stelle ich erschrocken fest, dass meine Kamera nicht da ist. Wiebke und ich teilen uns auf, um die Stationen des Morgens noch einmal abzulaufen. Wir treffen uns wieder, erfolglos. Ich bin mir fast sicher, dass ich die Kamera beim Frühstück auf den Stufen habe liegenlassen, aber dort war sie nicht mehr. Wiebke schlägt vor, noch einmal beim gegenüberliegenden Museum nachzufragen. Ich bin skeptisch und glaube nicht, dass jemand eine gefundene Kamera irgendwo abgibt. Wiebke besteht darauf und zieht noch einmal los, um ihr Glück zu versuchen. Ich warte am Harju-Hügel auf sie. Eine Weile später sagt sie hinter mir meinen Namen. Ich drehe mich um, und sie drückt auf den Auslöser. Tatsächlich ist die Kamera abgegeben worden. Ich bin ein bisschen sprachlos und sehr dankbar.
Es ist spannend mit Wiebke zu reisen. Sie ist in mancherlei Hinsicht doch viel resoluter und auch viel weniger abgeklärt als ich. An anderen Stellen bin ich selbst diejenige, die entspannter und optimistischer denkt. Wir ergänzen uns sehr gut, besonders auch, wenn wir mit Menschen ins Gespräch kommen und Fragen stellen. Wiebke befragt die Leute zur allgemeinen gesellschaftlichen Situation im Land: Kriminalität, Bildungswesen, Emigration. Meine Fragen beziehen sich häufig auf Geschichte, Landessprache und Politik, besonders Minderheitenpolitik. So lernen wir beide viel mehr, als es jede von uns alleine geschafft hätte.
Den Nachmittag verbringen wir in der Sonne auf dem Harju-Hügel.

Die Gegend wurde im Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee fast vollständig zerstört. Große Informationstafeln an der unteren Befestigung des Hügels informieren über diesen traurigen Teil der Stadtgeschichte. Russland hat bis in die 1990er Jahre die Bombardierung Tallinns geleugnet und die fast vollständige Zerstörung der Innenstadt den Deutschen angelastet. In der Aufarbeitung wird es so dargestellt, dass die Bombardierung Teil des russischen Plans war, als Befreiungsmacht auftreten und Estland so zum Beitritt zur Sowjetunion zwingen zu können. Der Blick auf die Geschichte ist mir auch hier, wie in Vilnius im Genozidmuseum, etwas zu plakativ. Ich möchte noch besser begreifen, wie die Geschichte hier verlaufen ist, denn im komplizierten Umgang mit der russischen Minderheit in der Region ziehen sich die historischen Fäden eindeutig bis heute fort.

Der Harju-Hügel ist zumindest wieder aufgebaut und als kleine Parkanlage mit einem kleinen Spielplatz und hübschen Holzliegen gestaltet. Wir liegen dort und sind eine Weile nebeneinander jede für sich. Ein junger Vater spielt mit seiner zweijährigen Tochter. Beide sehen blond und nordeuropäisch aus, und der Umgang des jungen Mannes mit dem Kind ist so natürlich und so liebevoll, dass ich die ganze Zeit zuschauen möchte. Die beiden strahlen miteinander eine große Selbstverständlichkeit, fast Alltäglichkeit aus; und gleichzeitig wirkt doch jede Bewegung so, als wäre dieser Augenblick ein ganz besonderer. Es sind diese kleinen Beobachtungen, für die einem das Leben oft nur auf Reisen ausreichend Zeit lässt.Am nächsten Morgen trennen Wiebke und ich uns für ein paar Stunden. Sie geht zu einer kostenlosen Stadtführung mit, die täglich um 12 auf dem Harju-Hügel beginnt. Ich entschließe mich, einmal ein wenig für mich zu sein. Ich muss nachdenken, wirken lassen, schreiben. Ich lege mich in den Hirvepark auf dern frischgemähten Rasen in die Sonne und höre Musik. Etwas abseits erheben sich die Fundamente der Oberstadt, bis zu den Mauertürmen kann man hochgucken.

Tatsächlich habe ich bisher noch nicht viel Zeit gehabt, einfach nur in mich hineinzuhören. Welche Bedürfnisse signalisiert mir mein Körper? Welche Eindrücke haben sich in mein Herz gebrannt? Welche Sehnsüchte haben die Erfahrungen in mir freigesetzt? In Gesellschaft ist es für mich schwerer, diesen Fragen nachzugehen. Ich merke nur in diesem Moment, den Geruch von frischem Gras in der Nase und die strahlende Sommersonne im Gesicht, dass ich mich in Tallinn wohl fühle, ohne dass ich mich anstrengen muss. Zuhause in Berlin verlangt mir die Stadt pausenlose Anstrengungen ab. Hier gibt es Ruhe und Schönheit, und das Reisen bringt die nötige Zwanglosigkeit und Freiheit dazu.
Ich kuschle mich auf meinen Pulli und halte ein paar Gedanken schriftlich fest, Mando Diao schallt aus meinen Kopfhörern. Plötzlich fällt ein Schatten auf mich. Ich erschrecke mich fürchterlich und drehe mich nach allen Seiten, aber ich sehe nicht woher der Schatten kommt. Da spricht jemand mit mir. Ich nehme den Kopfhörer aus den Ohren. „Excuse me?“ sage ich. Ein junger Mann steht neben mir. „I thought you were deed.“ Ich verstehe ihn nicht, habe mich vom Schreck noch nicht erholt und sage etwas unwirsch: „What?“ „Deed,“ wiederholt er und hockt sich hin. „Oh no, I’m not dead, don’t worry, I’m just writing,“ sage ich, und muss nun lachen. Da lächelt auch er. Mit den Worten „OK. Be cool!“ erhebt er sich und setzt seinen Spaziergang fort. Unaufdringlich und höflich, nur besorgt. Die Esten machen bisher einen sehr freundlichen und liebenswerten Eindruck.

An der Stadtmauer entlang wandle ich auf abseitigen Wegen ohne einen jeden Touristen zurück in die Altstadt und treffe mich mit Wiebke. Der Tag hat sehr gut angefangen.