Am Tag vor der Abfahrt in den Nordosten Europas räume und renne ich, was meine Beine so hergeben. Abends beim Packen suche ich meinen Reiseführer. Da er an so vielen Stelle nicht aufzufinden ist, bleibt irgendwann nur noch eine realistische Möglichkeit: Ich muss ihn in meinem Schreibtisch eingeschlossen haben. Der Schlüssel liegt bei einer Freundin. Eigentlich wollte ich jetzt schon im Bett liegen, stattdessen mache ich mich durch das regnerisch-schwüle Berlin auf den Weg nach Kreuzberg, um den Schlüssel zu holen. Immerhin ist der Lonely Planet dann auch am vermuteten Ort. Ich ärgere mich ein bisschen über meine Kopflosigkeit – aber nicht besonders lange. Es ist eine von diesen Reisepannen, die einfach passieren. 
Überraschend fit mache ich mich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg zum Hauptbahnhof, finde mein Gleis, meinen Wagen und meinen Sitz und mache es mir gemütlich für die ersten drei Stunden Fahrt nach Poznan – bzw. Posen. Normalerweise halte ich mich so gut wie immer an die polnischen Namen aller Städte, denn so heissen sie nunmal heute. Ich spreche ja auch nicht von „Neu Jork“ oder bezeichne Sri Lanka noch immer als Ceylon. Aber was ich die nächsten zwei Tage vorhabe, ist ja nun doch so eine Art Heimwehtourismus, und wenn schon Nostalgie, warum dann nicht auch den deutschen Namen für die Orte in Masuren Raum geben. Ich weiss noch nicht genau wie wohl ich mich damit fühle, aber ich weiss, dass ich neugierig bin auf den Ort, an dem mein Vater geboren ist.
Im Abteil sitzen drei reizende ältere Herrschaften, die mir vom Baltikum vorschwärmen, als sie von meinen Plänen hören, und ein Pole, der aber seit sieben Jahren in den USA studiert und nur ein bisschen deutsch kann, aber natürlich sehr gutes Englisch spricht, Dawid. Er will nach Olsztyn (Allenstein) wie ich. In Poznan steigen wir gemeinsam um. Auf der Weiterfahrt teilen wir das Abteil mit zwei jungen Mädchen, die ein bisschen wortkarg sind, und einem Herrn zwischen 40 und 50, der den armen Dawid einem solchen Redeschwall aussetzt, dass ich zwischendurch gerne eingreifen würde. Dawid erträgt es mit stoischer Ruhe. Irgendwann ist sein Gesprächspartner bei den Banken und sagt: „Aber wir wissen doch alle, wer die Banken in der Hand hat, ich bitte Sie, wir wissen es doch alle ganz genau.“ In meiner grenzenlosen Naivität denke ich: Die Amerikaner? Die Deutschen vielleicht? Oder mal wieder die Russen? Der Herr sagt: „Ich bin ja kein Antisemit, aber…“ Den Rest verstehe ich vor lauter Schreck kurz nicht. Vielleicht ist das auch besser so, denn der Satz danach lautet: „Ohne Adolf Hitler hätten wir Polen heute keinen eigenen Staat.“ Eine ziemlich lange Ausführung folgt, die ich nicht wiedergeben kann und will. Es ist ein bisschen wie ein Autounfall: Es ist fürchterlich, aber ich kann einfach nicht weggucken oder -hören. Mehrere Male bin ich kurz davor einzugreifen, aber auf Polnisch hätte ich keine Chance in einer sachlichen Diskussion, bei der es vermutlich auch gar nicht lange bleiben würde. Ich begreife, wie zwecklos ein Eingriff wäre, und es deprimiert mich. Nachdem der Mann mit den fragwürdigen Ansichten ausgestiegen ist und ich mich noch ein bisschen mit Dawid unterhalte, erwähnt der in einem Nebensatz, dass er jüdische Wurzeln hat – ich frage ihn, wie zum Teufel er unter diesen Umständen das Gerede des Mitfahrers so gelassen hat ertragen können. Er sagt: „In Polen passiert das so häufig, da darf man einfach nicht hinhören.“ 
In Olsztyn suche ich vergeblich meinen Zug auf der Anzeigetafel. Er scheint nicht zu fahren. Am Schalter erkundige ich mich, ich muss stattdessen einen Bus nehmen, der junge Mann am Schalter ist rührend und sehr bemüht, mir den richtigen Weg zu zeigen, fast habe ich das Gefühl er wollte mich am liebsten selbst zum Bus bringen. Am Busbahnhof steht gerade ein Bus abfahrtsbereit, ich renne zum Bussteig, die Türen sind schon zu, der Busfahrer öffnet, ich zeige ihm mein Ticket. „Was ist das denn?“ „Mein Ticket…“ „Das kann ich nicht nehmen, das ist ja eine ganz andere Firma.“ Ich bin ja inzwischen in der Reisestimmung angekommen und rege mich nicht auf, kaufe ein Ticket beim Schaffner, und bin nun tatsächlich auf dem Weg nach Szczytno, nach Ortelsburg. Der Fahrer, stelle ich beim Blick auf das Ticket fest, hat mir den ermäßigten Preis abgerechnet, das ist wirklich nett von ihm. Die Erlebnisse aus dem Zug wirken aber noch nach. So hilfsbereit und wunderbar ich dieses Land immer wieder erlebe – es hat mit Sicherheit seine dunklen Seiten.
Draussen giesst und stürmt es. Ich höre Sommermusik, die zu den herbstlichen Wetter nicht passen will und muss darüber lächeln, dass sich in mit trotzdem alles nach Sonnenschein anfühlt. Ich kann die Landschaft um mich kaum erkennen, nur schemenhaft sehe ich dichte Wälder und grosse Seen, grüne Felder und kleine niedliche Ortschaften. Durch Pasym, Passenheim hindurch fahren wir Richtung Szczytno. Ich weiss, dass mein Vater an der Passenheimer Strasse gewohnt hat, bevor er mit vier Jahren im Jahr 1944 mit seiner Schwester, Mutter und Grossmutter aus Ostpreussen geflohen ist. Ich suche an der Strasse, die in den Ort hineinführt und heute folgerichtig ulica Pasymska (also eben: Passenheimer Strasse) heisst, nach Häusern, die in Frage kommen könnten, aber nicht nur der Regen hindert mich an Entdeckungen – ich habe ja auch einfach gar keine Ahnung, wie sie gelebt haben hier, vor 68 Jahren. Am Busbahnhof steht mein Vater und hebt die Arme, als er mich sieht. Wenn er sich freut, sieht er aus wie ein kleiner Junge. Ich bin so gespannt auf die nächsten Tage.