Im Hotel in Szczytno spricht die Rezeptionistin hervorragendes Deutsch. Meine Mutter macht sie auf den Geburtsort im Pass meines Vaters aufmerksam – sie lächelt und sagt routiniert freundlich: „Ja, ich sehe schon.“ Wahrscheinlich passiert ihr das ständig, und nur bei Menschen, in deren Pass eben „Ortelsburg“ steht und nicht etwa „Szczytno“. Wir machen uns in aller Kürze frisch, ziehen unsere Regenjacken über, obwohl es inzwischen nicht mehr pladdert, sondern nur noch droeppelt und gehen am Ufer des Jezioro Domowe Male, des kleinen Haussees eine Kleinigkeit essen – gutes polnisches Essen, das mir ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert: Pieroggi für mich, Watrobki für meinen Vater.
Nach dem Essen brechen wir gleich auf durch den Ort am Rathaus und den Burgfundamenten vorbei zum Grossen Haussee (Jezioro Domowe Duze). Meine Eltern, die 1993 schon einmal hier waren, kommentieren, wie viel hübscher die kleine Hauptstrasse geworden ist, wie viel sie an der Burg restauriert und renoviert haben und wie ansprechend der Stadtstrand gestaltet worden ist. Dann laufen wir in westlicher Richtung am Ufer entlang durch einen hübschen Park, der mir gemessen an der Größe des Stadtzentrums riesig vorkommt. Und ziemlich schnell schon sagt meine Mutter: „Ist das nicht das Haus?“ und mein Vater sagt langsam und unaufgeregt: „Das ist das Haus.“

Wir kommen von der Rückseite darauf zu, es ist grau verputzt und ziemlich unspektakulaer. Meine Eltern sind sich nicht einig, wo vor 19 Jahren der Weg am Haus vorbei entlangführte; meine Mutter ist sich sicher, dass es den Weg von damals links am Haus vorbei nicht mehr gibt, während mein Vater den Weg, der rechts zum Haus und weiter zur Strasse führt, als denselben von damals wiedererkennen will, obwohl er von viel Gestrüpp befreit sei. Ich schenke meinem Vater da etwas mehr Vertrauen. Wir laufen zur Strasse hoch. Von vorne ist das haus wunderschön aus rotem Backstein mit viel weissem Stuck. Durch die Treppenhausfenster über der Haustür sieht man ein weisses altmodisches Holzgeländer. Rechts oben, Dachgeschosswohnung. Da ist es.
Die Haustür steht offen. Nun steigen wir also tatsächlich die Treppe hoch und wollen dort klingeln. Als meine Eltern das letzte Mal hier waren, haben sie sich nicht getraut, diesen Schritt zu gehen, ohne Polnischkenntnisse und so kurz nach der Wende. Ich habe ein bisschen Angst und weiss gar nicht so richtig was nun passieren wird. Wir stehen vor der Wohnungstür, ich finde, dass mein Vater klingeln muss, reden kann dann ja ich. Also drückt mein Papi auf den Klingelknopf der Wohnung, in der er zur Welt gekommen ist. Erst passiert nichts. Kinder plärren hinter der Tür. Ich stehe zwischen meinen Eltern und frage mich eigentlich die ganze Zeit, wie diese Situation für andere Menschen ist – für meinen Vater, für meine Mutter und für die Bewohner dieser Wohnung. Dann hören wir doch Schritte. Ein junger Mann in seinen 30ern mit nacktem, etwas untersetztem Oberkörper steht vor uns und guckt uns reichlich perplex an. Ich fange sofort an zu reden und habe das Gefühl ich spreche polnisch wie am dritten Kurstag. Ich entschuldige mich für die Störung, erkläre, dass mein Vater hier vor 70 Jahren geboren ist und frage ob wir vielleicht mal ganz kurz die Wohnung angucken können. Im Hintergrund sehe ich in dem langen schmalen Badezimmer eine Frau zwei Kinder in der Duschwanne baden. Was für ein schlechter Zeitpunkt… Mein Vater sagt zu mir auf deutsch: „Oder morgen!“ Ich wiederhole auf polnisch: „Oder morgen.“ Und ergänze: „Oder später.“ Der junge Mann, winkt ab – er wirkt genervt, aber nicht böse, nicht genervt aus grossen kulturhistorischen Beweggründen heraus, sondern nur, weil er gerade die Kinder ins Bett bringen und wahrscheinlich Sportschau gucken will – und sagt: „Nein nein, bitte reinkommen“ mit einem starken östlichen Akzent, er sagt „Proszę wajść“, nicht „wejść“, und irgendwie beruhigt mich das. Wir stehen also im Flur dieser Wohnung, drehen uns einmal um die eigen Achse, um in alle Zimmer zu sehen, meine Eltern sprechen ein wenig über damals und heute und wie schön die Wohnung jetzt ist, das Ganze dauert ungefähr anderthalb Minuten, ich bedanke mich für uns und wir gehen wieder.

Draussen gehen wir zurück zum Wasser und machen uns auf den Weg einmal rund um den See. Meine Eltern reden schon über die anderen Häuser, über die Pläne für die nächsten Tage und dann noch kurz darüber, dass die Wohnung gar nicht so klein ist, wie mein Vater dachte. Ich bin noch bei dem jungen Mann, der dort wohnt. Was hat er wohl von uns gedacht? Meine Eltern fragen sich das anscheinend nicht. Meine Mutter bezeichnet ihn als nicht besonders kooperativ. Ich verstehe irgendwie gut, was sie meint, aber finde es dennoch ein bisschen unfair, können wir doch davon ausgehen, dass er mit diesem Teil der Geschichte nichts anzufangen weiss und dass er uns immerhin dann doch ziemlich freundlich in die Wohnung eingeladen hat. Natürlich hat er nicht seinerseits Dinge gefragt oder gesagt, aber warum sollte es ihn auch interessieren, was wir dort wollen und wer wir sind. Ich frage meinen Vater, ob er irgendetwas Besonderes fühlt an diesem Ort. Er spricht über sein Verständnis von Heimat; davon, dass Heimat von persönlichen Erinnerungen und von Menschen her entsteht, und dass er weder das eine noch das andere hier hat. Ich hake nach: Auch jenseits von Heimat, fühlt es sich nicht irgendwie anders an hier zu sein als anderswo? Mein Vater hat Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten, fast habe ich das Gefühl, er denkt, dass er sich rechtfertigen muss, wenn er nichts Außergewöhnliches empfindet. Und da verstehe ich, dass man dieses Erlebnis nicht zwanghaft mit Bedeutung aufladen kann. Mit manchen Orten spürt man eine besondere Verbindung. Mit anderen nicht. Man vermutet natürlich, dass ein Ort, mit dem eine reale Bindung besteht, zu denjenigen gehört, die Gefühle hervorrufen. Aber warum sollte das zwangsläufig so sein? Mein Vater findet Szczytno schön. Es fühlt sich nicht an wie ein Zuhause. Zwei Sätze, die auch auf mich zutreffen. Wir sollten vielleicht nicht krampfhaft nach mehr suchen.

Am naechsten Tag fahren wir nach Pasym, nach Passenheim, und schauen das kleine entzückende Städtchen an, das zugegebenermassen mehr Charme hat als Szczytno. Die Kirche kuschelt sich malerisch an den See, das Tudor-Rathaus steht mitten auf dem kleinen Marktplatz und die Blumen blühen so schön. Wir legen uns an den kleinen Stadtstrand und als ich schließlich in das grüne Wasser springe und unter dem strahlenden blauen Himmel auf die schwarzen schweigenden Wälder am anderen Ufer zuschwimme, kann ich das Bild vom ewigen Ostpreußen ein bisschen verstehen. Vieles an dieser Landschaft erinnert mich an Brandenburg und Vorpommern, es ist eben die nordmitteleuropäische Ostsee-nahe Seenlandschaft, und trotzdem scheint es mir hier besonders ursprünglich zu sein. Wieviel Romantik lege ich wohl da hinein? Immerhin denke ich, dass dieses herrliche Fleckchen Erde nicht Ostpreußen heißen muss, um so schön zu sein, sondern als Warmia i Mazury ebenso bezaubernd ist.