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Brückenschläge und Schlagworte

Kategorie: Slovakia 2011

Košice und Bratislava

Mit dem Zug geht es weiter nach Košice, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Eine erste Stadtführung reicht aus, um uns völlig für diese wunderbare Stadt einzunehmen. Sie ist gerade groß genug, um viel zu bieten und gerade klein genug, um nicht nur kommerziell zu sein. Ganz abgesehen davon ist sie traumhaft schön. Der Turm der Kathedrale leuchtet mit seinen Goldverzierungen.
Die alten Tramschienen, auf denen keine Straßenbahn fährt, gliedern die breite Hauptachse der Fußgängerzone in zwei Seiten, die sich am Theater spalten und jeweils links und rechts am Dom vorbeiführen. Wieder die geliebten Bürgerhäuser, die auf das bunte Treiben herunterschauen. Überall ist Musik. Zwar ist viel modernen Mainstream-Pop dabei, aber es hebt doch die Stimmung, wenn einen Rhythmen und Melodien auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht bleibt Košice für mich deshalb die allerschönste Stadt der Reise – sie hat für mich gesungen, nicht nur auf den Straßen.
Wir besuchen abends eine Aufführung im Theater, ein Tanztheater über Jánošík, den Robin Hood der Slowaken und Polen. Die fünf Musiker auf der Bühne sind phantastisch mit ihren vielen Instrumenten – Streichinstrumente, Zupfinstrumente und Holzblasinstrumente, und einmal sogar eine Maultrommel. Die Geschichte und die ganze Inszenierung sind zwar keine hohe Theaterkunst, aber die schmissige Musik und die Tänze, die Csárdás und Schuhplattler zusammenbringen, sind mitreißend und machen Spaß. Am Ende werden einige von uns auf die Bühne gezogen und tanzen mit in Sneakers und abgewetzten Reisejeans – nun wissen wir auch, warum sich die anwesenden Slowaken alle so schick angezogen haben.
Am nächsten Morgen haben wir einen Termin mit dem Team der NGO Košice 2013, die das Projekt Kulturhauptstadt begleitet und vorantreibt. Sie arbeiten auf dem Gelände einer alten Kaserne, für die es tolle Pläne zu Umbau und Sarnierung gibt. Das Gelände hat in seinem leicht verfallenen Zustand aber so viel Charme, dass ich mir eher Sorgen mache, ob es nicht zu Tode restauriert wird, wenn alle Vorhaben umgesetzt werden. Alte knorrige Bäume stehen zwischen barungelblichen alten Gebäuden, von denen der Putz abblättert. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies ein ausgesprochen kreativer Ort ist.
Nach einem kurzen Mittagessen laufen wir zum Romatheater, dem einzigen staatlich subventionierten Theater für Roma in der Slowakei.
Wir schauen bei der Probe zu, und wenn ich auch nicht alles verstehe, amüsiere ich mich königlich. Ich finde die Menschen auf der kleinen Bühne nicht nur schauspielerisch talentiert. Viel wichtiger ist, dass sie einen unglaublichen Spaß an ihrer Tätigkeit haben. Ein winziger Theatersaal sprüht vor Lebensfreude und Fröhlichkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand davon nicht anstecken ließe. Sie bringen uns ein Lied auf Roma bei. Duj, duj, duj, duj, dešuduj, tečumidav tečumidav parno muj… Wir möchten am liebsten noch mehr lernen. Stattdessen bringen uns der Regisseur und die Choreographin nach unten, wo das Orchester übt. Simona und Renata fangen an zu tanzen, die Musik ist so mitreißend. Die Roma beantworten geduldig unsere Fragen. Sie freuen sich über unser Interesse. Sie haben charismatische Gesichter und ein offenes, herzliches, warmes, lautes Lachen. Ja, Košice hat für mich gesungen, in verschiedenen Sprachen und Melodien, die ich mit mir nach hause trage.
Ungern verlassen wir Košice, um zu unserer letzten Station aufzubrechen – nach Bratislava. Natürlich darf die Hauptstadt im Programm der Exkursion nicht fehlen. Wir haben hier noch einige Termine am Literaturzentrum und am Filminstitut. Da die Gruppe immer enger zusammenrückt und die Mitreisenden immer mehr zu echten Freunden werden, werden auch die Nächte immer länger, und so interessant es besonders am Filmzentrum ist, fallen mir zwischendurch doch einmal die Augen zu.
Anders bei der Stadtführung mit Michal Hvorecky, einem erfolgreichen jungen Autor, der in Bratislava lebt und arbeitet. Einige seiner Bücher gibt es auch bereits auf Deutsch. Anna hat mir vorher davon erzählt – was Hvorecky schreibt, hört sich ziemlich verstörend an, geht es doch um beispielsweise um eine Geschlechtsumwandlung auf Grund einer Überdosis Antibabypille oder um den kalten Entzug von der Sucht nach Pornographie. Hvorecky entpuppt sich als ausgesprochen höflicher, fröhlicher und kluger Begleiter auf einer Stadtführung. Er spricht ausgezeichnet deutsch mit einem ganz leichten Akzent und gibt uns auf vage Fragen detaillierte Antworten, die mitunter Informationen enthalten, von denen wir gar nicht wussten, dass sie uns interessieren würden. Mit großer Zuneigung spricht er von der Donau und schafft es, trotz kritischer Bemerkungen über seine Heimat keinen Zweifel daran zu lassen, dass er Bratislava liebt und schätzt.
Ein Tag in Bratislava ist mir wieder viel zu kurz. Es ist zwar schon eine Steigerung zu den drei Stunden, die ich letztes Jahr zu Beginn meiner Reise hier verbracht habe, aber ich war immer noch nicht auf der Pressburger Burg oder auf der Burg Devin, und ich habe noch nicht ausreichend die hübsche Innenstadt erkundet, ich habe noch nicht verstanden, welche Gegensätze diese Stadt zerreißen, die eigentlich nie slowakisch war, sondern fast immer deutsch, und die es doch zur Hauptstadt gebracht und ihren ganz eigenen Charme entwickelt hat. Nachts stehe ich mit einigen von uns auf einer der Donaubrücken. Der Wind pfeift uns um die Ohren, die Donau wälzt sich grau und wogenschlagend unter uns vorbei. Man muss sich gegen den Sturm lehnen, wenn man vorankommen will, sich gegen ihn auflehnen, ihn bezwingen. Und am nächsten Morgen? Eine leichte Brise, warmer Sonnenschein und Friedlichkeit.
Das Ende der Reise ist schließlich doch viel zu schnell gekommen. Aber es ist doch so, dass jedes Erlebnis durch seine Endlichkeit umso schöner wird. Für immer hätte sicher keiner von uns so weiterreisen können, mit dem vollen Programm und der ständigen Gesellschaft von 16 Menschen. 10 Tage lang haben wir ein fremdes Land erkundet. Dabei sind Freundschaften entstanden, die bleiben werden. Als ich an der Bratislava Hlavna Stanica in den Zug steige, begleiten mich neun liebe Menschen: Tilman, Renata, Vaclav, Stefan, Martin, Anna, Zina, Katja und Michal. Auf dem Bahnsteig singen wir noch einmal Duj duj duj und natürlich unser slowakisches Quotenlied, To ta Hel’pa. Dunaj, Dunaj, Dunaj, Dunaj, aj to širé pole, len za jedným, len za jedným, počešenie moje… Wie ich in der Tür des Zuges stehe und sie alle so anschaue, die da auf dem Bahnsteig stehen und mich wegwinken wollen, weiß ich nicht, wohin mit meinem Glück und meiner Dankbarkeit für die Möglichkeit, so wunderbare Erfahrungen machen und so tolle Menschen kennen lernen zu dürfen.

Levoča, Spišský hrad und Prešov

Nach einem abend voller Lieder besuchen wir am nächsten Morgen den evangelischen Gottesdienst in Kežmarok. Da ich spät im Bett war, bin ich ein bisschen zu spät dran, die anderen sitzen schon in einer vorderen Bank in dem großen grauen Kirchenschiff. Ich leise setze ich mich in eine der hinteren Bänke. Ich versuche, das Kirchenlied mitzusummen, das gerade angestimmt worden ist. Da steht plötzlich Mikuláš Liptak, der uns am vorigen Tag die Stadt gezeigt hat, neben mir und hält mir mit einem lieben Lächeln sein Gesangbuch hin. Slowakisch ist nicht schwer zu lesen, ich kann gleich mitsingen. Von der Predigt verstehe ich aber nicht viel. Meine Gedanken schweifen ein wenig ab und mein Blick fällt auf die linke Kirchenwand. Dort ist ein Soldat abgebildet, der vor einem Engel kniet, und es steht auf Deutsch – wir befinden uns ja in der Region der Karpathendeutschen – darunter: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde.“ Es ist ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Ich finde den Spruch makaber. Für Freunde? Für ein Land, für eine abstrakte Idee! Menschen waren in den Weltkriegen auch gezwungen, Freunde zu töten, vielleicht häufiger, als für sie zu sterben.
In zwei Kleinbussen fahren wir nach Levoča, ewige Konkurrentin von Kežmarok und, wie ich finde, noch hübscher, wenn auch weniger lebendig. Es sind kaum Menschen unterwegs. Auch hier steht uns wieder ein kompetenter Stadtführer zur Verfügung: Herr Chalupecky ist Historiker und spricht wie Herr Liptak dieses reizende Zipser Deutsch mit den langgezogenen Vokalen und dem leicht gerollten R. In Kežmarok haben wir uns den ganzen Tag in ausgekühlte Gebäude angeschaut, in der Burg waren es 4 Grad. In Levoča strahlt die Sonne jetzt richtig warm und die bunten Häuser am Marktplatz leuchten. Viele sind gelb und orange. Dadurch sieht die Stadt warm und fröhlich aus. Es ist wieder zu wenig Zeit, ich würde gerne die Seitenstraßen erkunden und ein bisschen auf dem Platz vor dem Rathaus sitzen.
Anschließend bringen uns die Busse auf die Zipser Burg, Spišsky Hrad. Mitten in der weiten Landschaft steht sie grau und behäbig auf ihrem Hügel. Auf dem höchsten Turm hat man einen vollständigen Rundum-Ausblick in die weite Landschaft. Es ist windig und frisch dort oben, und herrlich in der Sonne.
Ausgehungert lassen wir uns von unseren Bussen zu einem nahegelegenen Ausflugslokal bringen. Vor dem Eingang steht ein winziger Käfig mit einem Lämmchen darin. Das arme Tier hat nicht einmal Platz um aufzustehen und mäht kläglich. Wir debattieren lange, ob wir gehen oder bleiben, zumal die Bedienung unfreundlich ist. Schließlich landen wir aber doch auf der Terasse des Restaurants. Müdigkeit und das milde Entsetzen über die Tierquälerei sind nur zu ertragen, wenn man sie nicht so schwer nimmt, und wir werden zügig unglaublich albern. Nachdem die Mägen wieder mit den gewohnt fleisch- und käselastigen Speisen gefüllt sind, geht es wieder besser und wir besteigen etwas ausgeruhter den Bus nach Prešov.
Das Hotel in Prešov ist das erste und das einzige auf der Reise, das nicht modern und schön wäre. Verwöhnt von den vorigen Unterkünften können wir uns eines leisen Erstaunens nicht erwehren, als der Bus an einem waschechten Plattenbau hält. Die Einrichtung in den Zimmern wirkt ebenfalls wie ein Relikt aus dem Sozialismus. Die meisten von uns sind sich jedoch einig, dass es nichts zu meckern gibt. Die Betten sind bequem, es ist nicht ungepflegt und überhaupt hätte man ja sonst schon fast vergessen, dass man in Ostmitteleuropa unterwegs ist. In der Tat scheint die Slowakei in vielerlei Hinsicht mitten in Europa angekommen zu sein – Schengen, Euro und Turbokapitalismus haben das ihrige dazu getan. In den nächsten Tagen werden uns jedoch noch einige Menschen und Situationen begegnen, die auch die Rückstände des Landes aufzeigen. All das ist jedoch weit weg, als ich auf dem Balkon unseres kargen Zimmers stehe und in den Sonnenuntergang schaue. In der Ferne auf einem Hügel ragt ein hübscher Kirchturm in den Himmel. Während die Sonne rot am Horizont untergeht, wird seine Silhouette immer schwärzer und schwärzer. Angesichts dieses ausgesprochen romantischen Naturschauspiels fallen die Plattenbauten in direkter Umgebung kaum mehr ins Gewicht.
Am nächsten Tag haben wir morgens Programm an der Universität und eine ausgesprochen schlechte Stadtführung. Das ist schade, lieber hätten wir uns die Stadt unter diesen Umständen unabhängig angeschaut, aber man kann ja vorher nicht wissen, wer so etwas gut macht und wer nicht.
Umso spannender wird der Nachmittag. Wir treffen uns mit Roman Čonka, dem Chefredakteur der Romazeitung Romsky Novy List. Er stößt beim Mittagessen zu uns, und als er den Raum betritt, kann ich erst gar nicht zuordnen, wer dieser indisch aussehende Mensch sein mag. Er hat ein gutes Gesicht und eine feine, höfliche, jedoch entschiedene Stimme. Martin übersetzt ins Deutsche, was uns Herr Čonka auf Slowakisch erzählt. In einer unserer Fragen geht es um die Sprache in der Zeitung. Martin übersetzt: „Die meisten Artikel sind auf Slowakisch, weil eben viele Roma nicht lesen können…“ und korrigiert sich sofort: „… nicht Romani lesen können.“ Eine Auseinandersetzung mit der Minderheit der Roma ist hier zwangsläufig politisch stark aufgeladen. Ein harmloser Versprecher kann einem sehr unangenehm sein. Dies ist umso mehr der Fall, dass wir am Morgen im Gespräch mit den slowakischen Studierenden befremdliche Reaktionen auf das Thema der Roma erfahren haben. Glaubt man einigen Aussagen, so geht es den Roma im Gefängnis sowieso am besten. Abgesehen davon werden die Roma ohnehin nie als solche bezeichnet, stattdessen ist der gute alte „Zigeuner“ gängig. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Mangel kultureller Sensibilität bei manchen meiner Bekanntschaften in Ungarn und wünschte, ich hätte ein Rezept, Vorurteile und Ressentiments einfach auszuradieren. Mir fällt jedoch nichts anderes ein als Bildungsarbeit. Die wird laut Roman Čonka auch betrieben – aber weit kann es damit noch nicht sein, wenn junge Akademiker ein so eingeschränktes Bild von dieser großen Minderheit im eigenen Land haben.
Wir gehen anschließend ins Russinentheater. Die Russinen oder Ruthenen sind eine weitere Minderheit in der Slowakei und eine ostslavische Bevölkerungsgruppe, den Ukrainern verwandt. In dem kleinen Theater werden Stücke auf Ukrainisch und Russinisch gespielt. Der Herr vom Theater spricht ebenfalls russinisch mit uns – es hört sich an wie panslavisch, ein bisschen ukrainisch, ein bisschen russisch, ein bisschen polnisch, ein bisschen slowakisch. Ich schaue mir die Requisiten am Rand der Bühne an – ein Pferdekopf, Ritterrüstungen, ein Thron. Über der Bühne hängt ein verschlissener roter Vorhang, dahinter ein transparentes schwarzes Rollo mit einem Hügelmuster darauf. Der Scheinwerfer dahinter wirft sein fahles Licht auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

Dolny Kubin / Oravska Dedina / Liptovsky Mikulas / Kezmarok

In Dolny Kubin kommen wir abends um 10 im Dunkeln an. Nach dem frühlingshaft warmen Wetter in Krakow ist die Kälte der Hohen Tatra beißend und durchdringend. Am nächsten Morgen werden wir davon geweckt, dass die Sonne unsere Nasenspitzen durchs Fenster kitzelt. Am Horizont liegen die schneebedeckten Berge.
Nachmittags besichtigen wir die Bibliothek des Stadtmuseums mit ihren alten Handschriften und Inkunabeln. Eine Lutherbibel liegt auf dem Ausstellungstisch, deren bloße Anwesenheit mich ganz nervös macht. Sie hat einen geprägten Schnitt, der in blassen Farben rot und blau ausgemalt ist. Die schweren Metallbeschläge auf dem wachsartigen Einband verleihen dem Buch eine uralte Würde. Ich kann meinen Blick darauf nur als ehrfurchtsvoll beschreiben.
Wir bekommen eine Führung auf dem Friedhof. Die Gräber der berühmten Persönlichkeiten sind hier ausgeschildert wie Sehenswürdigkeiten in einer Großstadt, dabei ist das Gelände ziemlich klein. Am Hang gelegen kann man vom Eingang aus den ganzen Friedhof überblicken. Direkt unterhalb verläuft eine große Straße. Der Lärm der vorbeibrausenden Autos ist an jedem Grab zu hören. Er stört den Frieden des Ortes. Trotzdem mag ich die Atmosphäre. Die kleinen Wege und die Gräber sind gerade so sehr verwildert, dass der Charme erhalten bleibt, der Friedhöfen eben eigen ist. Ein bisschen windschief und moosbewachsen. Es duftet nach Frühling.
Am nächsten Morgen brechen wir auf zur nächsten Station. Wir fahren zum Muzeum Oravskej Dediny. Die Straße führt durch eine neblige Landschaft, die ein bisschen trostlos ist. Im Somme, wenn die Felder grün sind, ist es sicher wunderschön. Jetzt ist alles grau und braun. Nur die Schneegipfel in der Ferne glitzern. Das letzte Stück der Straße hinter Zuberec ist von dichten schwarzen Nadelwäldern gesäumt. Beim Freilichtmuseum steigen wir aus. Die Luft ist hier ganz anders – Bergluft. Wir hören schon das Rauschen des Studeny Potok, des Gebirgsbaches, der durch das Dorf mit den vielen kleinen Holzhäusern fließt. Zwei riesenhafte Graugänse stehen stoisch auf dem kleinen Pfad. In den Häusern ist die originale Einrichtung erhalten. Dicke weiche Federbetten liegen auf den Fensterbrettern. Ein großer Webstuhl in einer Ecke des Zimmers, ein Spinnrad in der anderen. Hübsch bestickte Tischdecken auf den geschnitzten Holztischen. Gröbere Gerätschaften in der Nebenkammer. Die Ursprünglichkeit und die Ruhe des Ortes tut mir gut. Ich könnte hier viel Zeit verbringen. Ich freue mich über einen kurzen Moment der Stille am Eingang der Holzkirche aus dem 15. Jahrhundert. Die bunten Malereien an der Decke und am Geländer der Empore stimmen mich fröhlich und andächtig zugleich. Viel zu früh besteigen wir wieder den Bus nach Liptovsky Mikulas.
Hier bekommen wir eine Stadtführung mit dem Maler Jaroslav Uhel. Er zeigt uns die jüdische Synagoge, deren große Halle in einem schlechten Zustand ist, jedoch gerade durch die abblätternde Farbe die morbide Stimmung in mir hervorruft, die ich schon bei meinen ersten Polenaufenthalten so geliebt habe. Säulen aus rotem Marmor und blaue Ornamente an den Wänden werden durch goldene Verzierungen ergänzt, eine ähnliche Farbgebung wie der Schnitt der Lutherbibel in Dolny Kubin. Martin und Stefan singen zweistimmig ein Lied. Meshiach wird kummen. Mehr verstehe ich nicht, aber der Klang des Jiddischen hallt sanft in mir nach. Es hört sich so ewig an.
Anschließend dürfen wir mit in Herrn Uhels Atelier. Kaum durch die Tür getreten duftet es schon nach Ölfarben und Zigarettenrauch. Augenblicklich schlägt die Stimmung in heiter Ausgelassenheit um. Ehefrau und Tochter des Künstlers servieren Slivovica, Wein, Schafskäse und Baguetteschnittchen mit deftiger Wurst und Olive. Die Krönung: der Honigkuchen, süß und saftig. Uhel zeigt uns seine Kunstwerke und spricht über die Methoden und Konzepte seiner Kunst. Auf der Fensterbank steht ein Kakteenwald. Bananenkisten und Dutzende von Gemäden auf dem Fußboden. Tuben, Tiegel und Töpfe, Pinsel und Staffeleien auf dem riesigen Tapeziertisch, der fast das ganze Zimmer füllt. Wir dürfen alles anfassen, inmitten des kreativen Chaos sitzen wir dicht gedrängt auf mit Ölfarbe bemalten Holzstühlen, trinken und essen, rauchen und singen schließlich slavische Volkslieder aus voller Kehle. Das Leben ist bunt und leicht in diesem Moment.
Schon am nächsten Tag geht es weiter nach Kezmarok, sicherlich die schönste Stadt bis jetzt. Die kleinen bunten Bürgerhäuser in der Fußgängerzone erinnern mich an Ungarn. Die Burg steht stolz am Stadtrand. Unter den vielen Ausstellungsräumen finde ich die alte Apotheke mit ihren schweren dunklen Schränken am schönsten. Giftschränkchen und eine winzige homöopathische Hausapotheke, Waagen und viele viele kleine Glasflaschen in den Regalen. Wir besichtigen auch die beiden evangelischen Kirchen. Die neue imponiert durch ihre Größe, wirkt auf mich jedoch kühl und geradezu steril. Die kleine alte Holzkirche dagegen besticht durch ihre prachtvoll bemalten Wände. Sie wirkt fast gar nicht evangelisch, und doch fehlt der Pomp, der mich in katholischen Kirchen oft befremdet. Ich empfinde sie als einen zutiefst spirituellen Ort, der warm ist trotz der kalten Temparatur und der den Besucher sofort willkommen heißen will.
Abends stehen fast alle von uns auf der Hotelterasse und trinken miteinander Slivovica. Mit einer Gruppe von 17 Leuten ist es hier schon richtig voll. Ich spiele mit meinem Handy Musik und wir tanzen zu Goran Bregovic und Marek Grechuta. Es entwickeln sich Gespräche, die lustig und ernsthaft sind, die nachdenklich machen und zu lautem Lachen verleiten. Bis halb 1 stehen wir unter dem klaren Sternenhimmel und liegen uns zwischenzeitlich singend und tanzend alle in den Armen. Musik hat diese besondere Kraft, dass sie Menschen zusammenbringt. Es ist ein großes Glück, mit Gleichgesinnten ein neues Land zu entdecken.

Kraków

Als ich das erste Mal nach Kraków kam, war ich seit 13 Jahren nicht in Polen gewesen, lernte aber schon seit fast 2 Jahren die Sprache. Ich war aufgeregt und neugierig auf dieses Land, von dem ich nurmehr dunkle Erinnerungen an einen Kindheitsurlaub in mir trug, von dem ich mich aber doch entschieden hatte, es durch das Studium der Polonistik zu einem Teil meines Lebens zu machen. Damals stieg ich aus dem Bus vom Flughafen aus, direkt an den Planty, und lief den Kirchtuermen nach ich die Richtung, in der ich die Innenstadt vermutete. Mein Weg fuehrte mich ueber die Floriańska direkt auf den Rynek, den grossen Hauptmarkt. Meine Beine trugen mich, als kennten sie den Weg, als seien sie ihn schon hundertmal gelaufen. Maechtig ueberfiel mich ploetzlich das Gefuehl, als sei ich hier schon einmal gewesen. Ueberall war Musik. Bilder von Kaffeehaeusern mit schweren roten Samtvorhaengen zogen an meinem inneren Auge vorbei, wie ich sie spaeter im Cafe Singer in Kazimierz, dem alten juedischen Teil von Kraków, tatsaechlich erleben sollte. Es war als ob meine Seele die Stadt aus einem frueheren Leben wiedererkannte. Ich war auf eine seltsame Art und Weise nach hause gekommen.
Wenn mich heute Freunde fragen, warum ich diese Stadt so liebe, kann ich es nur mit dieser ersten Erfahrung begruenden. Ohnehin finde ich die Frage jedoch seltsam. Wie kann man Kraków nicht sofort ins Herz schliessen?
Ich komme erneut in Kraków an und die Sonne scheint, als wuerde sie dafuer bezahlt. Mit Paweł und Paulina setze ich mich auf dem Rynek in die Sonne und trinke Kaffee. Spaeter setzen Paulina und ich uns an die Wisła, die Weichsel, die unter dem Schlosshuegel ihre maechtige Kurve zieht und stolz und ruhig an uns vorbeifliesst, als koennte sie niemals grau und wild werden und ueber die Ufer treten. Ueber auf dem Wawel steht das Schloss mit der Kathedrale. Die Schoenheit greift mir ans Herz. Ich habe mich hier wirklich niemals fremd gefuehlt.
Abends gehen wir im Klezmer Hois in Kazimierz juedisch essen. Im Nebenraum beginnt ein Klezmerkonzert. Wir stellen uns in den Tuerrahmen und sehen verstohlen zu. Vor einem dunkelroten filigranen Vorhang mit goldenen Blattornamenten steht ein Kontrabassist, daneben sitzt ein Akkordeonspieler. Die dritte im Bunde ist eine junge Frau mit einer Geige. Sie spielen suess und schwungvoll, lebendig und melancholisch. Hava Nagila. Bei mir bist du scheen. Wenn die Frau ihre Geige absetzt, tut sie es, um die Harmonie der Instrumente um ihre Stimme zu bereichern. Sie ist tief und samten, wie dunkles Holz. Steinerne Saeulen, gehaekelte Spitzendeckchen. Die tiefe Stimme beginnt zu seufzen, hoch und jazzig, wie es im Klezmer sonst die Klarinette tut. Ich will auch seufzen. Kraków, du Zauberstadt.