In Dolny Kubin kommen wir abends um 10 im Dunkeln an. Nach dem frühlingshaft warmen Wetter in Krakow ist die Kälte der Hohen Tatra beißend und durchdringend. Am nächsten Morgen werden wir davon geweckt, dass die Sonne unsere Nasenspitzen durchs Fenster kitzelt. Am Horizont liegen die schneebedeckten Berge.
Nachmittags besichtigen wir die Bibliothek des Stadtmuseums mit ihren alten Handschriften und Inkunabeln. Eine Lutherbibel liegt auf dem Ausstellungstisch, deren bloße Anwesenheit mich ganz nervös macht. Sie hat einen geprägten Schnitt, der in blassen Farben rot und blau ausgemalt ist. Die schweren Metallbeschläge auf dem wachsartigen Einband verleihen dem Buch eine uralte Würde. Ich kann meinen Blick darauf nur als ehrfurchtsvoll beschreiben.
Wir bekommen eine Führung auf dem Friedhof. Die Gräber der berühmten Persönlichkeiten sind hier ausgeschildert wie Sehenswürdigkeiten in einer Großstadt, dabei ist das Gelände ziemlich klein. Am Hang gelegen kann man vom Eingang aus den ganzen Friedhof überblicken. Direkt unterhalb verläuft eine große Straße. Der Lärm der vorbeibrausenden Autos ist an jedem Grab zu hören. Er stört den Frieden des Ortes. Trotzdem mag ich die Atmosphäre. Die kleinen Wege und die Gräber sind gerade so sehr verwildert, dass der Charme erhalten bleibt, der Friedhöfen eben eigen ist. Ein bisschen windschief und moosbewachsen. Es duftet nach Frühling.
Am nächsten Morgen brechen wir auf zur nächsten Station. Wir fahren zum Muzeum Oravskej Dediny. Die Straße führt durch eine neblige Landschaft, die ein bisschen trostlos ist. Im Somme, wenn die Felder grün sind, ist es sicher wunderschön. Jetzt ist alles grau und braun. Nur die Schneegipfel in der Ferne glitzern. Das letzte Stück der Straße hinter Zuberec ist von dichten schwarzen Nadelwäldern gesäumt. Beim Freilichtmuseum steigen wir aus. Die Luft ist hier ganz anders – Bergluft. Wir hören schon das Rauschen des Studeny Potok, des Gebirgsbaches, der durch das Dorf mit den vielen kleinen Holzhäusern fließt. Zwei riesenhafte Graugänse stehen stoisch auf dem kleinen Pfad. In den Häusern ist die originale Einrichtung erhalten. Dicke weiche Federbetten liegen auf den Fensterbrettern. Ein großer Webstuhl in einer Ecke des Zimmers, ein Spinnrad in der anderen. Hübsch bestickte Tischdecken auf den geschnitzten Holztischen. Gröbere Gerätschaften in der Nebenkammer. Die Ursprünglichkeit und die Ruhe des Ortes tut mir gut. Ich könnte hier viel Zeit verbringen. Ich freue mich über einen kurzen Moment der Stille am Eingang der Holzkirche aus dem 15. Jahrhundert. Die bunten Malereien an der Decke und am Geländer der Empore stimmen mich fröhlich und andächtig zugleich. Viel zu früh besteigen wir wieder den Bus nach Liptovsky Mikulas.
Hier bekommen wir eine Stadtführung mit dem Maler Jaroslav Uhel. Er zeigt uns die jüdische Synagoge, deren große Halle in einem schlechten Zustand ist, jedoch gerade durch die abblätternde Farbe die morbide Stimmung in mir hervorruft, die ich schon bei meinen ersten Polenaufenthalten so geliebt habe. Säulen aus rotem Marmor und blaue Ornamente an den Wänden werden durch goldene Verzierungen ergänzt, eine ähnliche Farbgebung wie der Schnitt der Lutherbibel in Dolny Kubin. Martin und Stefan singen zweistimmig ein Lied. Meshiach wird kummen. Mehr verstehe ich nicht, aber der Klang des Jiddischen hallt sanft in mir nach. Es hört sich so ewig an.
Anschließend dürfen wir mit in Herrn Uhels Atelier. Kaum durch die Tür getreten duftet es schon nach Ölfarben und Zigarettenrauch. Augenblicklich schlägt die Stimmung in heiter Ausgelassenheit um. Ehefrau und Tochter des Künstlers servieren Slivovica, Wein, Schafskäse und Baguetteschnittchen mit deftiger Wurst und Olive. Die Krönung: der Honigkuchen, süß und saftig. Uhel zeigt uns seine Kunstwerke und spricht über die Methoden und Konzepte seiner Kunst. Auf der Fensterbank steht ein Kakteenwald. Bananenkisten und Dutzende von Gemäden auf dem Fußboden. Tuben, Tiegel und Töpfe, Pinsel und Staffeleien auf dem riesigen Tapeziertisch, der fast das ganze Zimmer füllt. Wir dürfen alles anfassen, inmitten des kreativen Chaos sitzen wir dicht gedrängt auf mit Ölfarbe bemalten Holzstühlen, trinken und essen, rauchen und singen schließlich slavische Volkslieder aus voller Kehle. Das Leben ist bunt und leicht in diesem Moment.
Schon am nächsten Tag geht es weiter nach Kezmarok, sicherlich die schönste Stadt bis jetzt. Die kleinen bunten Bürgerhäuser in der Fußgängerzone erinnern mich an Ungarn. Die Burg steht stolz am Stadtrand. Unter den vielen Ausstellungsräumen finde ich die alte Apotheke mit ihren schweren dunklen Schränken am schönsten. Giftschränkchen und eine winzige homöopathische Hausapotheke, Waagen und viele viele kleine Glasflaschen in den Regalen. Wir besichtigen auch die beiden evangelischen Kirchen. Die neue imponiert durch ihre Größe, wirkt auf mich jedoch kühl und geradezu steril. Die kleine alte Holzkirche dagegen besticht durch ihre prachtvoll bemalten Wände. Sie wirkt fast gar nicht evangelisch, und doch fehlt der Pomp, der mich in katholischen Kirchen oft befremdet. Ich empfinde sie als einen zutiefst spirituellen Ort, der warm ist trotz der kalten Temparatur und der den Besucher sofort willkommen heißen will.
Abends stehen fast alle von uns auf der Hotelterasse und trinken miteinander Slivovica. Mit einer Gruppe von 17 Leuten ist es hier schon richtig voll. Ich spiele mit meinem Handy Musik und wir tanzen zu Goran Bregovic und Marek Grechuta. Es entwickeln sich Gespräche, die lustig und ernsthaft sind, die nachdenklich machen und zu lautem Lachen verleiten. Bis halb 1 stehen wir unter dem klaren Sternenhimmel und liegen uns zwischenzeitlich singend und tanzend alle in den Armen. Musik hat diese besondere Kraft, dass sie Menschen zusammenbringt. Es ist ein großes Glück, mit Gleichgesinnten ein neues Land zu entdecken.