Nach einem abend voller Lieder besuchen wir am nächsten Morgen den evangelischen Gottesdienst in Kežmarok. Da ich spät im Bett war, bin ich ein bisschen zu spät dran, die anderen sitzen schon in einer vorderen Bank in dem großen grauen Kirchenschiff. Ich leise setze ich mich in eine der hinteren Bänke. Ich versuche, das Kirchenlied mitzusummen, das gerade angestimmt worden ist. Da steht plötzlich Mikuláš Liptak, der uns am vorigen Tag die Stadt gezeigt hat, neben mir und hält mir mit einem lieben Lächeln sein Gesangbuch hin. Slowakisch ist nicht schwer zu lesen, ich kann gleich mitsingen. Von der Predigt verstehe ich aber nicht viel. Meine Gedanken schweifen ein wenig ab und mein Blick fällt auf die linke Kirchenwand. Dort ist ein Soldat abgebildet, der vor einem Engel kniet, und es steht auf Deutsch – wir befinden uns ja in der Region der Karpathendeutschen – darunter: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde.“ Es ist ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Ich finde den Spruch makaber. Für Freunde? Für ein Land, für eine abstrakte Idee! Menschen waren in den Weltkriegen auch gezwungen, Freunde zu töten, vielleicht häufiger, als für sie zu sterben.
In zwei Kleinbussen fahren wir nach Levoča, ewige Konkurrentin von Kežmarok und, wie ich finde, noch hübscher, wenn auch weniger lebendig. Es sind kaum Menschen unterwegs. Auch hier steht uns wieder ein kompetenter Stadtführer zur Verfügung: Herr Chalupecky ist Historiker und spricht wie Herr Liptak dieses reizende Zipser Deutsch mit den langgezogenen Vokalen und dem leicht gerollten R. In Kežmarok haben wir uns den ganzen Tag in ausgekühlte Gebäude angeschaut, in der Burg waren es 4 Grad. In Levoča strahlt die Sonne jetzt richtig warm und die bunten Häuser am Marktplatz leuchten. Viele sind gelb und orange. Dadurch sieht die Stadt warm und fröhlich aus. Es ist wieder zu wenig Zeit, ich würde gerne die Seitenstraßen erkunden und ein bisschen auf dem Platz vor dem Rathaus sitzen.
Anschließend bringen uns die Busse auf die Zipser Burg, Spišsky Hrad. Mitten in der weiten Landschaft steht sie grau und behäbig auf ihrem Hügel. Auf dem höchsten Turm hat man einen vollständigen Rundum-Ausblick in die weite Landschaft. Es ist windig und frisch dort oben, und herrlich in der Sonne.
Ausgehungert lassen wir uns von unseren Bussen zu einem nahegelegenen Ausflugslokal bringen. Vor dem Eingang steht ein winziger Käfig mit einem Lämmchen darin. Das arme Tier hat nicht einmal Platz um aufzustehen und mäht kläglich. Wir debattieren lange, ob wir gehen oder bleiben, zumal die Bedienung unfreundlich ist. Schließlich landen wir aber doch auf der Terasse des Restaurants. Müdigkeit und das milde Entsetzen über die Tierquälerei sind nur zu ertragen, wenn man sie nicht so schwer nimmt, und wir werden zügig unglaublich albern. Nachdem die Mägen wieder mit den gewohnt fleisch- und käselastigen Speisen gefüllt sind, geht es wieder besser und wir besteigen etwas ausgeruhter den Bus nach Prešov.
Das Hotel in Prešov ist das erste und das einzige auf der Reise, das nicht modern und schön wäre. Verwöhnt von den vorigen Unterkünften können wir uns eines leisen Erstaunens nicht erwehren, als der Bus an einem waschechten Plattenbau hält. Die Einrichtung in den Zimmern wirkt ebenfalls wie ein Relikt aus dem Sozialismus. Die meisten von uns sind sich jedoch einig, dass es nichts zu meckern gibt. Die Betten sind bequem, es ist nicht ungepflegt und überhaupt hätte man ja sonst schon fast vergessen, dass man in Ostmitteleuropa unterwegs ist. In der Tat scheint die Slowakei in vielerlei Hinsicht mitten in Europa angekommen zu sein – Schengen, Euro und Turbokapitalismus haben das ihrige dazu getan. In den nächsten Tagen werden uns jedoch noch einige Menschen und Situationen begegnen, die auch die Rückstände des Landes aufzeigen. All das ist jedoch weit weg, als ich auf dem Balkon unseres kargen Zimmers stehe und in den Sonnenuntergang schaue. In der Ferne auf einem Hügel ragt ein hübscher Kirchturm in den Himmel. Während die Sonne rot am Horizont untergeht, wird seine Silhouette immer schwärzer und schwärzer. Angesichts dieses ausgesprochen romantischen Naturschauspiels fallen die Plattenbauten in direkter Umgebung kaum mehr ins Gewicht.
Am nächsten Tag haben wir morgens Programm an der Universität und eine ausgesprochen schlechte Stadtführung. Das ist schade, lieber hätten wir uns die Stadt unter diesen Umständen unabhängig angeschaut, aber man kann ja vorher nicht wissen, wer so etwas gut macht und wer nicht.
Umso spannender wird der Nachmittag. Wir treffen uns mit Roman Čonka, dem Chefredakteur der Romazeitung Romsky Novy List. Er stößt beim Mittagessen zu uns, und als er den Raum betritt, kann ich erst gar nicht zuordnen, wer dieser indisch aussehende Mensch sein mag. Er hat ein gutes Gesicht und eine feine, höfliche, jedoch entschiedene Stimme. Martin übersetzt ins Deutsche, was uns Herr Čonka auf Slowakisch erzählt. In einer unserer Fragen geht es um die Sprache in der Zeitung. Martin übersetzt: „Die meisten Artikel sind auf Slowakisch, weil eben viele Roma nicht lesen können…“ und korrigiert sich sofort: „… nicht Romani lesen können.“ Eine Auseinandersetzung mit der Minderheit der Roma ist hier zwangsläufig politisch stark aufgeladen. Ein harmloser Versprecher kann einem sehr unangenehm sein. Dies ist umso mehr der Fall, dass wir am Morgen im Gespräch mit den slowakischen Studierenden befremdliche Reaktionen auf das Thema der Roma erfahren haben. Glaubt man einigen Aussagen, so geht es den Roma im Gefängnis sowieso am besten. Abgesehen davon werden die Roma ohnehin nie als solche bezeichnet, stattdessen ist der gute alte „Zigeuner“ gängig. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Mangel kultureller Sensibilität bei manchen meiner Bekanntschaften in Ungarn und wünschte, ich hätte ein Rezept, Vorurteile und Ressentiments einfach auszuradieren. Mir fällt jedoch nichts anderes ein als Bildungsarbeit. Die wird laut Roman Čonka auch betrieben – aber weit kann es damit noch nicht sein, wenn junge Akademiker ein so eingeschränktes Bild von dieser großen Minderheit im eigenen Land haben.
Wir gehen anschließend ins Russinentheater. Die Russinen oder Ruthenen sind eine weitere Minderheit in der Slowakei und eine ostslavische Bevölkerungsgruppe, den Ukrainern verwandt. In dem kleinen Theater werden Stücke auf Ukrainisch und Russinisch gespielt. Der Herr vom Theater spricht ebenfalls russinisch mit uns – es hört sich an wie panslavisch, ein bisschen ukrainisch, ein bisschen russisch, ein bisschen polnisch, ein bisschen slowakisch. Ich schaue mir die Requisiten am Rand der Bühne an – ein Pferdekopf, Ritterrüstungen, ein Thron. Über der Bühne hängt ein verschlissener roter Vorhang, dahinter ein transparentes schwarzes Rollo mit einem Hügelmuster darauf. Der Scheinwerfer dahinter wirft sein fahles Licht auf die Bretter, die die Welt bedeuten.