Mit dem Zug geht es weiter nach Košice, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Eine erste Stadtführung reicht aus, um uns völlig für diese wunderbare Stadt einzunehmen. Sie ist gerade groß genug, um viel zu bieten und gerade klein genug, um nicht nur kommerziell zu sein. Ganz abgesehen davon ist sie traumhaft schön. Der Turm der Kathedrale leuchtet mit seinen Goldverzierungen.
Die alten Tramschienen, auf denen keine Straßenbahn fährt, gliedern die breite Hauptachse der Fußgängerzone in zwei Seiten, die sich am Theater spalten und jeweils links und rechts am Dom vorbeiführen. Wieder die geliebten Bürgerhäuser, die auf das bunte Treiben herunterschauen. Überall ist Musik. Zwar ist viel modernen Mainstream-Pop dabei, aber es hebt doch die Stimmung, wenn einen Rhythmen und Melodien auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht bleibt Košice für mich deshalb die allerschönste Stadt der Reise – sie hat für mich gesungen, nicht nur auf den Straßen.
Wir besuchen abends eine Aufführung im Theater, ein Tanztheater über Jánošík, den Robin Hood der Slowaken und Polen. Die fünf Musiker auf der Bühne sind phantastisch mit ihren vielen Instrumenten – Streichinstrumente, Zupfinstrumente und Holzblasinstrumente, und einmal sogar eine Maultrommel. Die Geschichte und die ganze Inszenierung sind zwar keine hohe Theaterkunst, aber die schmissige Musik und die Tänze, die Csárdás und Schuhplattler zusammenbringen, sind mitreißend und machen Spaß. Am Ende werden einige von uns auf die Bühne gezogen und tanzen mit in Sneakers und abgewetzten Reisejeans – nun wissen wir auch, warum sich die anwesenden Slowaken alle so schick angezogen haben.
Am nächsten Morgen haben wir einen Termin mit dem Team der NGO Košice 2013, die das Projekt Kulturhauptstadt begleitet und vorantreibt. Sie arbeiten auf dem Gelände einer alten Kaserne, für die es tolle Pläne zu Umbau und Sarnierung gibt. Das Gelände hat in seinem leicht verfallenen Zustand aber so viel Charme, dass ich mir eher Sorgen mache, ob es nicht zu Tode restauriert wird, wenn alle Vorhaben umgesetzt werden. Alte knorrige Bäume stehen zwischen barungelblichen alten Gebäuden, von denen der Putz abblättert. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies ein ausgesprochen kreativer Ort ist.
Nach einem kurzen Mittagessen laufen wir zum Romatheater, dem einzigen staatlich subventionierten Theater für Roma in der Slowakei.
Wir schauen bei der Probe zu, und wenn ich auch nicht alles verstehe, amüsiere ich mich königlich. Ich finde die Menschen auf der kleinen Bühne nicht nur schauspielerisch talentiert. Viel wichtiger ist, dass sie einen unglaublichen Spaß an ihrer Tätigkeit haben. Ein winziger Theatersaal sprüht vor Lebensfreude und Fröhlichkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand davon nicht anstecken ließe. Sie bringen uns ein Lied auf Roma bei. Duj, duj, duj, duj, dešuduj, tečumidav tečumidav parno muj… Wir möchten am liebsten noch mehr lernen. Stattdessen bringen uns der Regisseur und die Choreographin nach unten, wo das Orchester übt. Simona und Renata fangen an zu tanzen, die Musik ist so mitreißend. Die Roma beantworten geduldig unsere Fragen. Sie freuen sich über unser Interesse. Sie haben charismatische Gesichter und ein offenes, herzliches, warmes, lautes Lachen. Ja, Košice hat für mich gesungen, in verschiedenen Sprachen und Melodien, die ich mit mir nach hause trage.
Ungern verlassen wir Košice, um zu unserer letzten Station aufzubrechen – nach Bratislava. Natürlich darf die Hauptstadt im Programm der Exkursion nicht fehlen. Wir haben hier noch einige Termine am Literaturzentrum und am Filminstitut. Da die Gruppe immer enger zusammenrückt und die Mitreisenden immer mehr zu echten Freunden werden, werden auch die Nächte immer länger, und so interessant es besonders am Filmzentrum ist, fallen mir zwischendurch doch einmal die Augen zu.
Anders bei der Stadtführung mit Michal Hvorecky, einem erfolgreichen jungen Autor, der in Bratislava lebt und arbeitet. Einige seiner Bücher gibt es auch bereits auf Deutsch. Anna hat mir vorher davon erzählt – was Hvorecky schreibt, hört sich ziemlich verstörend an, geht es doch um beispielsweise um eine Geschlechtsumwandlung auf Grund einer Überdosis Antibabypille oder um den kalten Entzug von der Sucht nach Pornographie. Hvorecky entpuppt sich als ausgesprochen höflicher, fröhlicher und kluger Begleiter auf einer Stadtführung. Er spricht ausgezeichnet deutsch mit einem ganz leichten Akzent und gibt uns auf vage Fragen detaillierte Antworten, die mitunter Informationen enthalten, von denen wir gar nicht wussten, dass sie uns interessieren würden. Mit großer Zuneigung spricht er von der Donau und schafft es, trotz kritischer Bemerkungen über seine Heimat keinen Zweifel daran zu lassen, dass er Bratislava liebt und schätzt.
Ein Tag in Bratislava ist mir wieder viel zu kurz. Es ist zwar schon eine Steigerung zu den drei Stunden, die ich letztes Jahr zu Beginn meiner Reise hier verbracht habe, aber ich war immer noch nicht auf der Pressburger Burg oder auf der Burg Devin, und ich habe noch nicht ausreichend die hübsche Innenstadt erkundet, ich habe noch nicht verstanden, welche Gegensätze diese Stadt zerreißen, die eigentlich nie slowakisch war, sondern fast immer deutsch, und die es doch zur Hauptstadt gebracht und ihren ganz eigenen Charme entwickelt hat. Nachts stehe ich mit einigen von uns auf einer der Donaubrücken. Der Wind pfeift uns um die Ohren, die Donau wälzt sich grau und wogenschlagend unter uns vorbei. Man muss sich gegen den Sturm lehnen, wenn man vorankommen will, sich gegen ihn auflehnen, ihn bezwingen. Und am nächsten Morgen? Eine leichte Brise, warmer Sonnenschein und Friedlichkeit.
Das Ende der Reise ist schließlich doch viel zu schnell gekommen. Aber es ist doch so, dass jedes Erlebnis durch seine Endlichkeit umso schöner wird. Für immer hätte sicher keiner von uns so weiterreisen können, mit dem vollen Programm und der ständigen Gesellschaft von 16 Menschen. 10 Tage lang haben wir ein fremdes Land erkundet. Dabei sind Freundschaften entstanden, die bleiben werden. Als ich an der Bratislava Hlavna Stanica in den Zug steige, begleiten mich neun liebe Menschen: Tilman, Renata, Vaclav, Stefan, Martin, Anna, Zina, Katja und Michal. Auf dem Bahnsteig singen wir noch einmal Duj duj duj und natürlich unser slowakisches Quotenlied, To ta Hel’pa. Dunaj, Dunaj, Dunaj, Dunaj, aj to širé pole, len za jedným, len za jedným, počešenie moje… Wie ich in der Tür des Zuges stehe und sie alle so anschaue, die da auf dem Bahnsteig stehen und mich wegwinken wollen, weiß ich nicht, wohin mit meinem Glück und meiner Dankbarkeit für die Möglichkeit, so wunderbare Erfahrungen machen und so tolle Menschen kennen lernen zu dürfen.