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Brückenschläge und Schlagworte

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Tallinn II – Stadterkundungen mit dem Fahrrad

Um 16 Uhr geht auf dem Harju-Hügel die Fahrradtour los. Unser Guide ist eine ausgesprochen hübsche Studentin namens Epp. Bevor ich mir auf die Zunge beißen kann, habe ich schon nachgefragt: „As in an iPhone?“ Sie lacht: „Yes, like an iPhone App, only spelled with an E.“ „How often do you hear that question?“ grinse ich. „Only every day. It’s ok. I’m your tourist app for this afternoon, ask me anything.“ Ihr Lachen ist so herzlich und ihre Augen so offen und klar, dass wir uns in ihrer Anwesenheit sofort wohlfühlen. Außer Wiebke und mir ist noch ein sympathischer Neuseeländer, Ian, dabei. Wir schwingen uns auf die Räder und rattern über das altstädtische Kopfsteinpflaster in Richtung Wasser.
Unsere erste Station ist ein Denkmal kaum außerhalb der Stadtmauern, das mich an das Denkmal am Platz der Luftbrücke in Berlin erinnert: Ein abgebrochener großer Bogen. Es soll an die gesunkene MS Estonia erinnern, deren Untergang 1994 das schwerste Schiffsunglück der Nachkriegsgeschichte in Europa markiert. Epp bemerkt, dass fast jeder Este mindestens einen Verunglückten kannte und dass es sich so kurz nach der wiedererlangten Unabhängigkeit nicht besonders angenehm angefühlt hat, dass ein Schiff mit dem Namen des eigenen Landes gesunken war. Ich mag ja eigentlich Symbolik, aber bei solchen Dingen habe ich oft das Gefühl, dass sie übertrieben wird. Immerhin ist Estland ja noch da und schlägt sich, soweit ich das beurteilen kann, ganz gut. Das erste Schiff, das damals zur Rettung eilte und Schiffbrüchige bergen konnte, hieß übrigens wie ich: Mariella.
Wir fahren weiter an einigen ganz klassischen Plattenbauten vorbei. Epp macht wieder Halt und sagt ein paar Sätze dazu. Wiebke und ich nicken wissend; dass die Wohnungen in den Häusern alle gleich geschnitten waren und man sich überall zurecht finden kann, auch wenn man noch nie in genau diesem Gebäude war, das wissen wir – ich aus meiner Greifswalder Zeit und von meinen beruflichen Recherchen, Wiebke deswegen, weil sie gebürtig aus Potsdam kommt. Mir ist das in Berlin auch schon oft aufgefallen, wenn ich Couchsurfer oder Freunde zu Besuch hatte: Man muss alles, was mit Geschichte zu tun hat, sehr zielgruppenorientiert verpacken. Der Neuseeländer hat natürlich zu einer sozialistischen Vergangenheit viel weniger Bezug als wir.
Nun bewegen wir uns langsam aus der Stadt heraus und landen endlich in Kadriorg oder Catherinethal, einem Stadtteil mit wunderschönen kleinen Holzhäusern und grünen Alleen. Zunächst bleiben wir am Wohnhaus von Anton Hansen Tammsaare stehen, einem großen estnischen Realisten und Existenzialisten. Mich kann man mit Schriftstellern natürlich immer ködern, aber Epp spricht so lebendig über sein Leben und sein Werk, dass vermutlich auch ein Bücherwurm Lust bekäme, sein Monumentalwerk „Wahrheit und Gerechtigkeit“ zu lesen. Es hat allerdings fünf Bände.
Nun fahren wir durch einen bezaubernden Park, in dem uns Epp die Grundzüge estnischer Geschichte erklärt. Ich begreife endlich ein bisschen besser, was es mit den deutschen Einflüssen auf sich hat: Überall im Baltikum haben im Mittelalter die Kreuzritter versucht, die heidnischen Stämme zu christianisieren; und da sie zuhause meist schlechter gestellt waren als hier, sind sie geblieben – und auch wenn Estland nie zu einem deutschen Staat gehört hat, waren die Deutschen immer präsent und haben als Baltendeutsche die Kultur mitgeprägt. Die Esten selbst sind dagegen immer Bauern gewesen, und im 19. Jahrhundert, als das nationale Erwachen in ganz Europa um sich griff, begannen auch hier einige kluge Menschen, sich weiterzubilden und für einen estnischen Staat zu streiten. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Region zum Russischen Reich. An den Ersten Weltkrieg schloss sich dann ein Unabhängigkeitskrieg an und 1920 gewann Estland seine Unabhängigkeit und existierte zum ersten Mal als eigenständiger Staat. Dann kamen, wie in den anderen baltischen Staaten auch, die Russen, dann die Deutschen, dann wieder die Russen, und seit 1991 ist Estland da, wo es eigentlich schon vor 150 Jahren sein wollte. Die Geschichte des estnischen Staates ist nicht lang. Die seines Volkes schon.
Wir beobachten den Wachwechsel am Präsidentenpalast. Kaum Zäune, auch keine Besucher, alles sehr verschlafen und hübsch. Wir stehen zu viert da und unterhalten uns darüber, was es für ein lästiger Job sein muss, hier mehrere Stunden zu stehen und sich zu langweilen; und wir sprechen lange über kulturspezifische Vorstellungen von Sicherheit. Undenkbar, das man sich z.B. in den USA so nah vor das Weiße Haus stellen könnte; und in Berlin am Reichstag werden die Sicherheitsvorkehrungen meines Wissens auch immer umfangreicher. Epp erzählt, dass die Enkeltöchter des Präsidenten im Palast mal eine riesige Party gefeiert haben, als der Präsident nicht da war. Der Zugangscode für das Tor hatte vorher per SMS die Runde unter den jungen Leuten in Tallinn gemacht, und die Einrichtung sei hinterher recht ramponiert zurückgelassen worden. Unvorstellbar, aber sympathisch. Sowas passiert schonmal, wenn man Enkeltöchter hat.
Wir sprechen auch über die Preise in Tallinn und über die Krise. Laut Epp hat die Krise in Estland nur mäßig zugeschlagen, es seien sehr früh Gehälter gekürzt und Einsparmaßnahmen gemacht worden. Die Esten beschwerten sich auch über solche Dinge nicht. Nur bei einer Frage seien mal Leute auf die Straße gegangen: Als es um das ACTA ging. Epp sagt: „We are an E-country. You can cut our wages, you can raise the prices, but don’t touch our internet!“ Manchmal muss man eben Prioritäten setzen.
Nun fahren wir ein etwas längeres Stück mit dem Fahrrad zum Song-Festival Gelände. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Erwachen entstand das estnische Sängerfest schon im 19. Jahrhundert. Die Anlage ist für die Festivals im heutigen Ausmaß Ende der 1950er Jahre gebaut worden. Alle fünf Jahre singen hier Chöre, gemeinsam kommt der Festivalchor auf bis zu 30.000 Mitglieder. Wir stehen unter der großen Kuppel, Epp spricht nochmals von der Singenden Revolution, von der Bedeutung, die die traditionelle Musik für ihr Land und seine Unabhängigkeit gespielt hat, und ich bin gerührt. Wie wunderbar, wenn sich Menschen durch Musik von Gewaltherrschaft befreien können! Es hört sich natürlich alles sehr romantisch an, und man vergisst die politischen Begebenheiten dabei, aber hier mag ich sie wieder, die große, bewegende Symbolik. An der Seite der Anlage ist eine Plakette, dort steht der Text eines der wichtigsten estnischen Volkslieder, mit dem das Sängerfest traditionell beendet wird. Ian, Wiebke und ich lesen Teile davon vor, Epp muss lachen. Ian hat natürlich die größten Schwierigkeiten, Wiebke und mich, sagt sie, hätte man gut verstehen können. Es hört sich doch sehr skandinavisch an, als sie es nun vorliest, und ist an manchen Stellen dem Deutschen auch sprachverwandt. Epp gibt uns später die Internetseite für Busfahrpläne zur weiteren Planung unserer Reise – sie lautet www.bussireisid.ee, wie niedlich das klingt!
Über den Weg am Rand der Rasenfläche fahren wir auf den Hügel. Von oben sieht die Anlage noch imposanter aus. Ich versuche mir vorzustellen, wie hier alles voller Menschen ist, und wie Musik die klare blaue Sommerluft erfüllt. Es muss unbeschreiblich sein. Eine von den Parkbänken hat Lautsprecher eingebaut – da kommt das Lied, von dem wir eben unten noch sprachen, „Mu isamaa on minu arm“, Mein Vaterland ist meine Liebe. Es hat diese ursprüngliche, getragene Macht und ist wunderschön. Ein Video vom Sängerfest 2004 gibt es hier.
Zum Abschluss geht es noch zum sowjetischen Ehrenmal am Ostseeufer. Die Aussicht hinüber auf das Stadtzentrum über die graublauen Fluten ist weit, offen und herrlich. Der Wind weht, und ich fühle mich aufgehoben in dieser winzigen internationalen Gruppe von liebenswerten Menschen, während mein Blick über die Landschaft schweift. Das Mahnmal selbst ist von jener faschistischen Ästhetik, die man nicht schön finden kann und deren imposantem Eindruck man sich doch nicht entziehen kann. Der Weg zurück in die Stadt führt noch an der Rusalka vorbei, einem Denkmal, das auf fast jeder Ansichtskarte von Tallinn zu sehen ist – Rusalka ist russisch und bedeutet Meerjungfrau, auch diese Statue erinnert an ein Schiffsunglück, aber die Urban Legend behauptet, es handele sich um Lenin mit Flügeln, wie Epp und augenzwinkernd berichtet.  Die Esten haben Humor, das ist nicht zu leugnen.
Unter strahlend blauem Himmel kommen wir wieder am Harju-Hügel an. Wir verabschieden uns voneinander wie alte Freunde. Europa wird immer kleiner, und ich freue mich an dem Gefühl, dass dieses Konzept, dieses Europa, das wir nun seit etwas mehr als 20 Jahren aufbauen und mit dem aufzuwachsen ich das große Glück hatte, uns solche Glücksmomente schenken kann wie diesen Nachmittag.

Vilnius

Nach einer erfrischenden Dusche laufen Wiebke und ich zurück in die Stadt und immer der Nase nach die hübschen kleinen Straßen hinauf und hinunter. Der Himmel ist weit und blau über den niedrigen Häuserreihen, und die Altstadt scheint sich kilometerweit zu erstrecken – sie gehört zu den grössten Altstädten in Europa. Der Glockenturm der Sankt Johannis Kirche an der Universität strebt majestätisch gen Himmel, und der kurze Blick in den grossen Innenhof eröffnet eine herrliche Aussicht. Hier zu studieren muss sich schon sehr erhaben anfühlen.Wir laufen zur Kathedrale und setzen uns auf ein Mäuerchen auf dem Vorplatz, um uns gegenseitig aus unseren Reiseführern vorzulesen.

Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.

Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.

Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.

Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:

Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.

Der vollständige Text der Verfassung steht hier.

Nach dem Abendessen  sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.

Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.

Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.

Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.

Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.

Gdańsk – Danzig I

Im Zug zwischen Szczecin (Stettin) und Gdańsk bietet sich mir ein verrücktes Schauspiel beim Blick aus dem Fenster – Regen und Sonne scheinen sich alle Viertelstunde abzuwechseln, es ist nicht abzusehen, welches Wetter mich an der polnischen Ostseeküste erwartet. Ich unterhalte mich mit zwei deutschen Mädchen, die auf einer dreiwöchigen Reise Zuflucht in Polen suchen, so muss man es wohl sagen, vor den hohen Preisen in Norwegen. Als wir zu dritt in Danzig aussteigen, scheint die Sonne und es ist warm. Schon der Bahnhof selbst gibt einen Vorgeschmacke auf die Backsteinschönheit, auf die ich mich so gefreut habe, und die ich dunkel, sehr dunkel im Gedächtnis habe. Ich war schon einmal hier, 1993. Immer wieder werden Erinnerungsfetzen zurückkommen während meines Aufenthaltes.
Nach dem Einchecken im Hostel gehe ich mit Vroni und Lea essen – Pierogi ruskie, nur damit ich wieder weiß, wo ich bin. Die Tortelloni-ähnlichen Maultaschen sind mit einem quarkartigen Weißkäse und Kartoffeln gefüllt, man isst sie mit saurer Sahne. Deftig und lecker, das richtige Essen nach einem langen Tag im Zug ohne Verpflegung. Die Mädels bestellen Lachs, den ich probieren darf – er zergeht auf der Zunge! Zum Nachtisch Szarlotka, den gedeckten Apfelkuchen, warm und mit Sahne. Vroni und Lea sind begeistert und ich freue mich, dass meine kulturelle Vorbildung jemandem zugute kommt. Wir sitzen direkt am Wasser der Motława (Mottlau), große Fähren und kitschige Segelschiffe fahren an uns vorbei, eines heißt doch tatsächlich Czarna Perła – Black Pearl, wie das Piratenschiff in „Fluch der Karibik“, wenn das keine Touristenfalle ist.
Wir schlendern am Fluss und an den verschiedenen alten Stadttoren entlang, den Blick habe ich noch im Kopf und im Herzen von damals. Überall in der Stadt ist Dominiks-Jahrmarkt, ein Mitreisender im Zug hat uns das schon erzählt. Auf dem Targ Węglowy (Kohlenmarkt) stehen Fahrgeschäfte. Auf dem Długi Targ (Langer Markt) stehen Stände mit Schmuck, Nippes und Kleidung und Fressbuden. Die Sonne scheint und taucht die Stadt mit ihren Bürgerhäusern und dem roten Backstein an Toren, Kirchen, Häusern in ein warmes Abendlicht.


Es ist bezaubernd. Eine Straßenmusikerin singt leichten, sehnsüchtigen polnischen Jazz, der die Stimmung einfängt, als wäre die Musik eigens für diesen Anlass komponiert worden. Auf dem Weg zurück Richtung Hostel sehen wir einen riesiegn Regenbogen. Ich freue mich auf die Entdeckungen der nächsten Tage.

Am nächsten Morgen laufe ich zunächst an der Polnischen Post vorbei, die einen ähnlichen Stellenwert für die Polen einnimmt wie die Westerplatte, wo am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Die dezidiert polnischen Orte wurden damals gezielt angegriffen. Ein Onkel von Günter Grass hat sich bei der Verteidigung der Post engagiert und ist deswegen später standesrechtlich erschossen worden. Ein sozrealistisches Denkmal steht auf dem Platz vor dem eher unscheinbaren und wieder weitgehend hergestellten Gebäude. Es zeigt eine Nike-Figur.
Auf dem Weg hinüber zur Danziger Werft liegen auf dem aufgerissenen Straßenpflaster kleine überreife gelbe Mirabellen und eine Menge giftig roter Vogelbeeren. Es sieht herbstlich aus mit den grellbunten Farben, und das Wetter erinnert auch eher an einen warmen Oktober: nicht zu kalt, aber grau und nieselig. Ich passiere die herrliche riesige Bibliothek, erhasche durch eine Seitenstraße schon einen Blick auf das Tor der Werft und bin ein bisschen aufgeregt. Hier haben die Menschen 1970 gegen Preiserhöhungen protestiert, hier hat die Solidarność-Bewegung ihren Anfang genommen. Rechter Hand erreiche ich den Plac Solidarności – den Solidarnośc-Platz mit seinem überdimensionalen Denkmal in Form einer hohen Säule.


Es wurde schon 1980 errichtet und ist eindrucksvoll in seinem Detailreichtum, der trotzdem der Schlichtheit keinen Abbruch tut. In seiner schmalen schlanken Höhe fügt es sich in die Stadtsilhouette mit den vielen Kränen ein. Auf der einen Seite steht ein Gedicht von Czesław Miłosz: 

Który skrzywdziłeś człowieka prostego
Śmiechem nad krzywdą jego wybuchając,
 

Nie bądź bezpieczny. Poeta pamięta.
Możesz go zabić – narodzi się nowy.
Spisane będą czyny i rozmowy.

Mein Versuch einer nicht ganz linearen deutschen Übersetzung:

Der du einem einfachen Menschen Unrecht getan hast,
ein Lachen über sein Leid auf dem Gesicht,
sei dir nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer wird geboren.
Geschrieben werden die Taten und Worte.

Der Wind braust mir um die Ohren, es ist kalt und ich bin zweifelsohne in Ostsee-Nähe. Vor mir die Wand mit Marmortafeln zum Gedenken an diejenigen, die 1970 durch die Gewalt der Polizei umgekommen sind. Rechts von mir das Tor zur Werft, die früher Lenin-Werft hieß und heute wieder Danziger Werft, Stocznia Gdańska. Mir wird klar, wie wichtig Danzig tatsächlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen ist, wie stark die großen Ereignisse hier verwurzelt sind. In Krakau atmet man auch Geschichte, aber Mittelalter, k.u.k. Monarchie und Avantgarde sind dort präsenter als Zweiter Weltkrieg und Sozialismus. Hier, in Danzig, kommt man weder am einen noch am anderen vorbei. Ich beschließe, später zur Westerplatte zu fahren – davon werde ich später berichten. Erst zieht es mich jedoch in den „Vorort der Dichter“, so mein Reiseführer, nach Wrzeszcz, zu deutsch Langfuhr.

Mit der Straßenbahn ist Wrzeszcz leicht zu erreichen. Ich steige an der Aleja Mickiewicza aus – ach, eine Straße dieses Namens gibt es doch in jeder polnischen Stadt, ich bin froh, ich bin in einem fremden Land, in dem ich mich nicht fremd fühle, und ich bin glücklich, dass ich solche Orte habe. Durch unspektakuläre Straßen laufe ich auf der Suche nach dem einen Ort – da ist es, das Geburtshaus von Günter Grass, in dem auch der Protagonist der Blechtrommel, Oskar Matzerath wohnt.


Ein kurzes Zitat aus der Blechtrommel steht auf einer Plakette am Haus, es ist grau und hässlich verputzt, und trotzdem stehe ich kurz andächtig davor und frage mich, ob mein Großvater vielleicht in einem ähnlichen Haus in Danzig geboren und aufgewachsen ist.
Ein Stückchen die Straße hinunter gibt es einen kleinen Platz. Da sitzt er auf einer Bank, mit stummem Blick und seinem Instrument: Oskar Matzerath höchstpersönlich. Ich setze mich auf eine Zigarette neben ihn. Gesprächig ist er nicht – schade. Ich würde gerne von ihm hören, wo ich noch hinlaufen soll in Wrzeszcz.


Ich schließe meinen Ausflug in die Vorstadt mit einem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche. Leider ist sie zu, ich kann nur durch die Gitterstäbe ins innere schauen. Leise singe ich ein polnisches Kirchenlied. Roter Backstein, herrliche Rundbögen, weiße Wände und ein ganz besonderes Licht. Ich muss nicht zum ersten Mal an Lübeck und Greifswald denken. Die hanseatische Vergangenheit, sie trägt sicherlich dazu bei, dass ich Gdansk schon jetzt lieben gelernt habe.

Košice und Bratislava

Mit dem Zug geht es weiter nach Košice, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Eine erste Stadtführung reicht aus, um uns völlig für diese wunderbare Stadt einzunehmen. Sie ist gerade groß genug, um viel zu bieten und gerade klein genug, um nicht nur kommerziell zu sein. Ganz abgesehen davon ist sie traumhaft schön. Der Turm der Kathedrale leuchtet mit seinen Goldverzierungen.
Die alten Tramschienen, auf denen keine Straßenbahn fährt, gliedern die breite Hauptachse der Fußgängerzone in zwei Seiten, die sich am Theater spalten und jeweils links und rechts am Dom vorbeiführen. Wieder die geliebten Bürgerhäuser, die auf das bunte Treiben herunterschauen. Überall ist Musik. Zwar ist viel modernen Mainstream-Pop dabei, aber es hebt doch die Stimmung, wenn einen Rhythmen und Melodien auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht bleibt Košice für mich deshalb die allerschönste Stadt der Reise – sie hat für mich gesungen, nicht nur auf den Straßen.
Wir besuchen abends eine Aufführung im Theater, ein Tanztheater über Jánošík, den Robin Hood der Slowaken und Polen. Die fünf Musiker auf der Bühne sind phantastisch mit ihren vielen Instrumenten – Streichinstrumente, Zupfinstrumente und Holzblasinstrumente, und einmal sogar eine Maultrommel. Die Geschichte und die ganze Inszenierung sind zwar keine hohe Theaterkunst, aber die schmissige Musik und die Tänze, die Csárdás und Schuhplattler zusammenbringen, sind mitreißend und machen Spaß. Am Ende werden einige von uns auf die Bühne gezogen und tanzen mit in Sneakers und abgewetzten Reisejeans – nun wissen wir auch, warum sich die anwesenden Slowaken alle so schick angezogen haben.
Am nächsten Morgen haben wir einen Termin mit dem Team der NGO Košice 2013, die das Projekt Kulturhauptstadt begleitet und vorantreibt. Sie arbeiten auf dem Gelände einer alten Kaserne, für die es tolle Pläne zu Umbau und Sarnierung gibt. Das Gelände hat in seinem leicht verfallenen Zustand aber so viel Charme, dass ich mir eher Sorgen mache, ob es nicht zu Tode restauriert wird, wenn alle Vorhaben umgesetzt werden. Alte knorrige Bäume stehen zwischen barungelblichen alten Gebäuden, von denen der Putz abblättert. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies ein ausgesprochen kreativer Ort ist.
Nach einem kurzen Mittagessen laufen wir zum Romatheater, dem einzigen staatlich subventionierten Theater für Roma in der Slowakei.
Wir schauen bei der Probe zu, und wenn ich auch nicht alles verstehe, amüsiere ich mich königlich. Ich finde die Menschen auf der kleinen Bühne nicht nur schauspielerisch talentiert. Viel wichtiger ist, dass sie einen unglaublichen Spaß an ihrer Tätigkeit haben. Ein winziger Theatersaal sprüht vor Lebensfreude und Fröhlichkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand davon nicht anstecken ließe. Sie bringen uns ein Lied auf Roma bei. Duj, duj, duj, duj, dešuduj, tečumidav tečumidav parno muj… Wir möchten am liebsten noch mehr lernen. Stattdessen bringen uns der Regisseur und die Choreographin nach unten, wo das Orchester übt. Simona und Renata fangen an zu tanzen, die Musik ist so mitreißend. Die Roma beantworten geduldig unsere Fragen. Sie freuen sich über unser Interesse. Sie haben charismatische Gesichter und ein offenes, herzliches, warmes, lautes Lachen. Ja, Košice hat für mich gesungen, in verschiedenen Sprachen und Melodien, die ich mit mir nach hause trage.
Ungern verlassen wir Košice, um zu unserer letzten Station aufzubrechen – nach Bratislava. Natürlich darf die Hauptstadt im Programm der Exkursion nicht fehlen. Wir haben hier noch einige Termine am Literaturzentrum und am Filminstitut. Da die Gruppe immer enger zusammenrückt und die Mitreisenden immer mehr zu echten Freunden werden, werden auch die Nächte immer länger, und so interessant es besonders am Filmzentrum ist, fallen mir zwischendurch doch einmal die Augen zu.
Anders bei der Stadtführung mit Michal Hvorecky, einem erfolgreichen jungen Autor, der in Bratislava lebt und arbeitet. Einige seiner Bücher gibt es auch bereits auf Deutsch. Anna hat mir vorher davon erzählt – was Hvorecky schreibt, hört sich ziemlich verstörend an, geht es doch um beispielsweise um eine Geschlechtsumwandlung auf Grund einer Überdosis Antibabypille oder um den kalten Entzug von der Sucht nach Pornographie. Hvorecky entpuppt sich als ausgesprochen höflicher, fröhlicher und kluger Begleiter auf einer Stadtführung. Er spricht ausgezeichnet deutsch mit einem ganz leichten Akzent und gibt uns auf vage Fragen detaillierte Antworten, die mitunter Informationen enthalten, von denen wir gar nicht wussten, dass sie uns interessieren würden. Mit großer Zuneigung spricht er von der Donau und schafft es, trotz kritischer Bemerkungen über seine Heimat keinen Zweifel daran zu lassen, dass er Bratislava liebt und schätzt.
Ein Tag in Bratislava ist mir wieder viel zu kurz. Es ist zwar schon eine Steigerung zu den drei Stunden, die ich letztes Jahr zu Beginn meiner Reise hier verbracht habe, aber ich war immer noch nicht auf der Pressburger Burg oder auf der Burg Devin, und ich habe noch nicht ausreichend die hübsche Innenstadt erkundet, ich habe noch nicht verstanden, welche Gegensätze diese Stadt zerreißen, die eigentlich nie slowakisch war, sondern fast immer deutsch, und die es doch zur Hauptstadt gebracht und ihren ganz eigenen Charme entwickelt hat. Nachts stehe ich mit einigen von uns auf einer der Donaubrücken. Der Wind pfeift uns um die Ohren, die Donau wälzt sich grau und wogenschlagend unter uns vorbei. Man muss sich gegen den Sturm lehnen, wenn man vorankommen will, sich gegen ihn auflehnen, ihn bezwingen. Und am nächsten Morgen? Eine leichte Brise, warmer Sonnenschein und Friedlichkeit.
Das Ende der Reise ist schließlich doch viel zu schnell gekommen. Aber es ist doch so, dass jedes Erlebnis durch seine Endlichkeit umso schöner wird. Für immer hätte sicher keiner von uns so weiterreisen können, mit dem vollen Programm und der ständigen Gesellschaft von 16 Menschen. 10 Tage lang haben wir ein fremdes Land erkundet. Dabei sind Freundschaften entstanden, die bleiben werden. Als ich an der Bratislava Hlavna Stanica in den Zug steige, begleiten mich neun liebe Menschen: Tilman, Renata, Vaclav, Stefan, Martin, Anna, Zina, Katja und Michal. Auf dem Bahnsteig singen wir noch einmal Duj duj duj und natürlich unser slowakisches Quotenlied, To ta Hel’pa. Dunaj, Dunaj, Dunaj, Dunaj, aj to širé pole, len za jedným, len za jedným, počešenie moje… Wie ich in der Tür des Zuges stehe und sie alle so anschaue, die da auf dem Bahnsteig stehen und mich wegwinken wollen, weiß ich nicht, wohin mit meinem Glück und meiner Dankbarkeit für die Möglichkeit, so wunderbare Erfahrungen machen und so tolle Menschen kennen lernen zu dürfen.

Vukovar / Novi Sad / Belgrad / Novi Pazar / Višegrad

Aus Sarajevo geht mein Zug morgens ganz frueh nach Vukovar. Ich bin noch so erschlagen von den vielen Eindruecken, dass mir so ein ganzer Tag in Zuegen und Bussen ganz gut zupass kommt. In Vukovar dauert die Suche nach einer Unterkunft eine Weile, und mein Rucksack wird immer schwerer, und der Himmel immer grauer, und die Stadt ist von einer eindrucksvollen Mischung aus Traurigkeit und Lebensfreude gepraegt – traurig die Haeuserskelette, die Einschussloecher an fast jedem Gebaeude, der Blick durch leere Fensterrahmen in zerstoerte Raeume, in denen die Tapete an den Waenden noch zu erkennen ist; lebensfroh die Menschen, die in schicken kleinen Laeden Kaffee trinken und sehr hilfsbereit und gut gelaunt sind, wenn ich nach dem Weg frage. Ich denke an Erich Kaestners „Das fliegende Klassenzimmer“ und das schoene Zitat: „Das waere doch gelacht, dachte Jonathan Trotz, wenn das Leben nicht schoen waere.“ So kommen mir die Menschen hier vor. In Bosnien war das ganz aehnlich.

Nach der Nacht in Vukovar reise ich weiter nach Novi Sad. Die Passkontrollen sind jetzt langsam Routine geworden und nicht mehr so aufregend. Ich finde es jetzt eher bemerkenswert, wie einfach das alles geht und wie schnell. Die serbische Polizistin guckt nur ein bisschen komisch, aber vermutlich ist ihr Grenzuebergang einfach nicht der touristisch frequentierteste. In Novi Sad finde ich schon wieder nicht gleich den Weg, ich fahre einmal mit dem Bus um die ganze Stadt herum. Nun gut, da hab ich wenigstens schonmal ein bisschen was gesehen. Es giesst in Stroemen, die Strasse, in der mein Gastgeber Lazar wohnt, steht voellig unter Wasser, ich muss durch verschiedene Vorgaerten klettern. Einmal angekommen bekomme ich aber Kaffee und Musik und nette Gesellschaft. Ich sitze mit drei Serben und einer Bulgarin bis nachts um 4 beim Rotwein. Ich singe ein bisschen was aus unserem Volksliedprogramm und sowohl mein Kroatisch als auch mein Bulgarisch sind angeblich nahezu akzentfrei. Das beschraenkt sich sicherlich auf die Lieder, aber es ist schoen zu wissen, dass die Anlagen fuer die Sprachen anscheinend vorhanden sind.
Am naechsten Tag erkunde ich Novi Sad. Die Stadt erinnert tatsaechlich wieder mehr an Ungarn, wie es hier in der Vojvodina ja auch zu erwarten ist. Das Wetter ist wunderbar und die Strassen sind voller Musik, ich hoere aus verschiedenen Haeusern Menschen Klavier und Gesang ueben. Die grosse Synagoge fasziniert mich besonders. Nachmittags lasse ich mir in einem alterntiv/hippen Laden, wie er auch in Berlin in Friedrichshain zu finden waere, die Haare schneiden. Der gute Mann schnippelt liebevoll anderthalb Stunden an meinem Kopf herum und unterhaelt mich dabei auch noch glaenzend, so lange war ich glaube ich noch nie beim Friseur, und am Ende zahle ich nur laecherliche 9 Euro. Anschliessend klettere ich auch auf das Schloss hoch. Die Sonne scheint, ich trinke einen Kaffee und fuehle mich langsam etwas erholt.

Der naechste Tag ist aber schon wieder so aufregend: Morgens frueh brechen wir auf zu einer Wanderung im Fruška Gora Nationalpark. Ein herrlicher tiefer gruener Wald und Hoehenunterschiede von bis zu 300 Metern zwischen den Stationen machen das ganze Projekt ziemlich anspruchsvoll – an diese Stellen komme ich aber nicht, weil es nach 10 Kilometern anfaengt zu regnen und ich mich einem Maedchen anschliesse, das in die Stadt zuruecktrampen will. Abends kommen wieder verschiedenste Nationalitaeten in Lazars Wohnung zusammen: Serbien, Schweden, Frankreich und Russland sind vertreten, und wir singen wieder bis nachts um 3.

Langsam gehen meine Energie-Reserven zur Neige, und deswegen ist es genau das Richtige fuer mich, was mich in Belgrad erwartet: eine entzueckende Gastgeberin mit einer gemuetlichen Wohnung, in der meine Schlafcouch vor dem Fernseher steht, dazu herrliches Wetter fuer entspannte Spaziergaenge durch die weisse Stadt. Wir schlafen abends frueh ein und wachen morgens spaet auf. Saška verbietet mir, Geschirr zu spuelen oder ihr beim Kochen zu helfen, das ist serbische Gastfreundlichkeit. Mir ist das ein bisschen unangenehm, aber da ich gegen ihre Bestimmtheit ohnehin keine Chance habe, kann ich es auch einfach geniessen.
Belgrad ist eine richtige Grossstadt und hat als solche viel zu bieten, und es macht Spass, sich von Saškas Begeisterung anstecken zu lassen. Sie ist sehr stolz auf ihre Stadt und ihr Land. Wir sitzen lange auf der Schlossmauer mit einem herrlichen Blick auf Donau und Sava.


Hier sitzen wir und sprechen ewig – über Kosovo. Dabei macht sich bemerkbar, dass es sich bei Politik in Serbien tatsaechlich um ein viel komplizierteres Thema handelt als in jedem anderen Land, in dem ich jemals war. Besonders die Kosovo-Frage ist heikel, und Diskussionen darueber gestalten sich schwierig, denn ich habe kein historisches und politisches Vorwissen, was die ganze Angelegenheit angeht. Schon in Novi Sad treffe ich auf Betroffenheit und Unverstaendnis, was Kosovos Unabhaengigkeit betrifft, und es scheint, dass das Land diesen Zug Kosovos niemals akzeptieren wird. Es geht dabei viel um serbisches kulturelles Erbe in der Region Kosovo und um die schlechte Behandlung der Serben durch die Albaner. Das Unrecht, dass die Serben ausgeuebt haben, wird eingeraeumt, aber schnell dadurch relativiert, dass die andere Seite auch verbrecherisch gehandelt hat. Ein besonderes Schuldbewusstsein ist nicht da. Mit meinem deutschen Hintergrund, der mir die kollektive Nationalverantwortung fuer die Verbrechen des Holocausts auf so vielfaeltige Weise eingetrichtert hat, ist mir das sehr fremd. Das Nationalbewusstsein ist hier einfach ganz anders. Das zeigt sich in vielfaeltiger Form: Ich mache in Belgrad auch Photos von den Regierungsgebaeuden, aber ein Polizist kommt auf uns zu und erklaert, dass Photographieren hier verboten ist und ich muss das Bild wieder loeschen. Ich bin jetzt ehrlich umso gespannter auf Kosovo, denn mich interessiert doch vor allem, was die Menschen zur Unabhaengigkeit sagen, die da leben.

Nach Belgrad steht Novi Pazar auf dem Programm. Ich finde es relativ unspektakulaer dafuer, dass so viel Wirbel um den grossen tuerkischen Einfluss und die lebendige islamische Kultur dort gemacht wird. Mir faellt nur auf, dass Maedchen mit Kopftuch eher unter sich zu bleiben scheinen und Maedchen ohne Kopftuch auch. In Sarajevo kam mir das gemischter vor, aber vielleicht erwarte ich auch nur Segregation in Serbien und sehe deswegen Gespenster?
Von Novi Pazar fahre ich nach Studenica zum Kloster. Die Kapelle ist eine der schoensten, die ich je gesehen habe.

Dorthin zu gelangen ist auch nicht ohne, oeffentlicher Nahverkehr ahoi, ein Auto waere hier wirklich praktischer. Dafuer ist es nicht ueberlaufen, sondern einfach huebsch. Die Nacht verbringe ich in Užice bei einer Couchsurferin, abends gehen wir zu einem kleinen lokalen Filmfestival und sehen einen Film ueber Militaerkoeche seit dem Zweiten Weltkrieg, hochinteressant!

Und schon wieder weiter, zurueck nach Bosnien. Heute Višegrad – und ich kann es genau so einrichten, wie ich gerne wollte: Ich sitze auf der Bruecke ueber die Drina auf der Kapia (wer das Buch kennt, weiss, was das ist) und lese die letzten Seiten in Ivo Andrićs Meisterwerk. Die Stadt ist klein und beschaulich, nicht besonders huebsch, aber die Bruecke ist gigantisch sowohl im Ausmass als auch betreffs der Schoenheit, und die Drina ist gruen und maechtig.

Anschliessend mache ich Station in Sarajevo bevor es zurueck nach Mostar geht, wo ich mich nochmal zwei Tage erholen werde. Ich freue mich schon auf das Hostelpersonal und die Stadt. Danach steht Dubrovnik auf dem Programm, ich muss jetzt auch mal wieder an die Kueste und frischen Seewind atmen und schwimmen gehen und braun werden, um die Batterien aufzuladen.