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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: Baltics (Seite 2 von 2)

Erste Eindrücke von Riga und der Gauja-Nationalpark

Im Bus nach Riga werden wir auf deutsch dazu aufgefordert, unsere Dokumente vorzuzeigen, und als wir dann losfahren, macht der Busfahrer die Ansagen auf litauisch, russisch und deutsch. Wiebke vermutet, dass er nur für uns deutsch spricht, darauf wäre ich gar nicht gekommen; aber es ist schon immer erstaunlich, wenn im Ausland jemand so gutes Deutsch spricht. Englisch ist mir zum Kommunizieren im Ausland viel lieber, schließlich handelt es sich dabei meist auf beiden Seiten um eine Fremdsprache, das ist nur fair. Zu erwarten, dass jemand Deutsch kann, kommt mir immer ein bisschen vermessen vor. Zu erwarten, dass jemand Englisch kann, kommt mir ziemlich selbstverständlich vor. Logisch ist das nicht.
In Riga holt uns Martin am Busbahnhof ab. Wiebke kennt ihn durch unser gemeinsames Ehrenamt. In seiner geräumigen Altbauwohnung macht er uns erstmal eine Riesenportion Bratkartoffeln. Abends kommt eine ganze Menge Freunde von ihm vorbei: noch ein anderer Deutscher und eine Horde Letten. Es wird eine gemütliche Studentenparty, die sich über netten Gesprächen und dem ein oder anderen Bier bis in die frühen Morgenstunden hinzieht. Wiebke und ich schlafen irgendwann angezogen auf dem Sofa ein, als ich aufwache hat uns einer der Jungs zugedeckt und die letzten Gäste feiern in der Küche immer noch. Ich denke an meine frühen Studentenjahre, lächle in mich hinein und schlafe wieder ein.
Am nächsten Morgen schläft Martin noch, als wir ein paar Sachen in unseren kleinen Tagesrucksack packen und uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Durch die Altstadt laufen wir zuerst zu Coffee Inn, einer Art baltischem Starbucks mit phantastisch cremigem Käsekuchen und gutem Kaffee. Dort holen wir uns ein kleines Frühstück und suchen dann den Bahnhof. An einer Strassenecke fragt Wiebke den jungen Mann neben uns an der Ampel. Er spricht nur gebrochen Englisch, aber er sagt gleich bereitwillig: „Train station? I go there, I show you.“ Er fragt uns dann auch gleich sehr interessiert, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Ich bewundere es, wenn Menschen Kontakt in einer Sprache suchen, die sie nicht so gut können. Wenn ich mich in einer Sprache nicht sicher fühle, bin ich meistens sehr unsicher und geradezu schüchtern. Der Kerl ist von einer so angenehmen, unaufdringlichen Freundlichkeit, dass die Sprachbarriere gar nicht ins Gewicht fällt. Er zeigt uns Patronenhülsen, die er auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in der Nähe entdeckt haben will. Seine Augen leuchten vor Begeisterung über diesen Fund. Er hilft uns beim Ticketkauf und bringt uns bis zum Gleis, wo er sich sehr höflich verabschiedet.
Im Zug nach Cesis (dt. Wenden) essen wir unsere Brote. Die Vegetation draussen erscheint mir sehr baltisch: sandige Böden, Nadelwälder, Gräser und Strandhafer. Je weiter wir aber ins Landesinnere vordringen, desto mehr Laubbäume bestimmen auch die Landschaft. Es ist mir vertraut, und es berührt mich mehr, als die litauische Landschaft es bisher getan hat.
Am Bahnhof in Cesis versuchen wir, den Fahrplan zu entschlüsseln, aber er ist sehr kryptisch. Eine ältere Dame sitzt mit ihrem vielleicht sechsjährigen Enkel auf der Bank daneben und spricht uns auf lettisch an. Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir nicht nach Riga wollen, sondern nach Sigulda, und auch erst in ein paar Stunden, aber sie spricht kein Englisch – plötzlich beginnt ihr kleiner Enkel meine langsam gesprochenen Sätze mit einer unglaublichen Routine zu übersetzen. Erstaunlich. Vielleicht häufen sich hier die Reflexionen über Sprache, weil ich wieder in einem Land bin, in dem ich die Landessprache kein bisschen verstehen, geschweige denn sprechen kann. Es ist ein anderes Reisen, man muss viel mehr nachfragen, weil man weniger nebenbei aufschnappen kann. Manche Schriftzüge auf Denkmälern photographiere ich, um später jemanden fragen zu können, was dort steht. Und trotzdem entgeht mir so vieles. Ich beschliesse in allen drei Ländern dieser Reise, dass ich die Sprache lernen möchte. Hätte man doch nur mehrere Leben zur Verfügung, um all das unterzukriegen, was man gerne machen möchte.
Wir laufen durch einen hübschen kleinen Park an einem See entlang, ohne den Stadtplan zu entfalten, und wie es in einer so kleinen Stadt zu vermuten war, taucht sie plötzlich auf ihrem Hügel thronend vor uns auf, die Burg von Cesis.

Unten am Parkteich führt ein kleiner Treppenabsatz zum Ufer, der von zwei weissen Statuen gesäumt ist, die sich in Richtung der Burg verneigen. Weiter oben am Hang gibt es eine Freitreppe, auf deren Geländer kleine weisse steinerne Engel Musikinstrumente spielen, als wollten sie den, der die Treppe beschreitet, mit Glanz und Gloria zur Burg geleiten. Alles erinnert ein bisschen an eine Kulisse für Schwanensee. Im Nieselregen wandern wir in unseren leuchtend blauen Regencapes einmal die Burgmauer ab. Graue Feldsteine, rote Backsteine und auf dem Turm des neuen Schlosses die lettische Fahne.

1988 wehte sie zum ersten Mal in ganz Lettland wieder hier. Auch gestern auf der Party ging es darum: Lettland hat gelitten, bevor es seine Unabhängigkeit wieder erlangt hat, und Wiebke findet, dass man den älteren und alten Menschen hier ihr hartes Leben ganz anders ansieht als noch in Litauen. Vielleicht lag es an Vilnius, das sehr herausgeputzt ist. Und mich fasziniert wieder Lettland, wieder ein Land, das eine Schwere mit sich trägt und trotzdem eine lebendige, fröhliche Gegenwart zu gestalten vermag.

Abends fahren wir nach Sigulda. Martin hat uns hier eine Unterkunft bei seinem Freund Karlis besorgt. Er zeigt uns noch auf dem Weg vom Bus ein paar herrliche Ausblicke über das Gauja-Tal, in dem sich der Fluss, eben die Gauja, in der Abendsonne friedlich dahinschlängelt.

Anschliessend gibt es Abendbrot in der Wohnung seiner Eltern in der kleinen Küche. Wir unterhalten uns lange mit seiner Mutter, die Geschichtslehrerin ist, am Baltischen Weg teilgenommen hat und deren Mann 1991 bei den Barrikaden in Riga im Kampf um die lettische Unabhängigkeit teilgenommen hat. Sie erklärt uns, was es mit der Singenden Revolution auf sich hat, im Rahmen derer im Baltikum durch das Singen von traditionellen patriotischen Liedern denr Sowjetmacht der Kampf angesagt wurde. Karlis hat uns schon ein bisschen darüber erzählt, er sagt viel, dass mit militärischen Mitteln ja nichts auszurichten gewesen sei. Aber wieviel schöner ist es auch, wenn ein Land behaupten kann, durch Musik zur Unabhängigkeit gekommen zu sein. Blut hat es bei den Barrikadenkämpfen in allen drei Ländern genug gegeben. Wir schlafen in einem Zimmer in der Zweiraumwohnung, die Familie zu dritt in dem anderen. Die osteuropäische Gastfreundschaft, die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, ich kann mir so etwas in Deutschland kaum vorstellen.

Am nächsten Morgen schüttet und giesst es, dass man kaum vor die Tür gehen mag. Wir nehmen den Bus zur Ordensburg von Turaida, die wir am Abend zuvor schon leuchtend rot in der Ferne auf der anderen Seite des Gauja-Tals entdeckt haben.

Das Gelände ist gross, wegen des Regens können wir es nicht so ausführlich erkunden, wie wir es gerne würden. Wir halten uns deshalb in den Gebäuden der Burg auf, in denen Ausstellungen über die Geschichte der Livländischen Schweiz, in der wir uns befinden, aufklären. Der Blick, ins Land vom Burgturm zeigt schwarze, dampfende Wälder, aus denen dicke Nebelschwaden aufsteigen wie in einem Märchen über einen bösen Zauberer. Die Gauja macht unter uns einen grossen, mächtigen Bogen und ist von fast bleierner Farbe, schwer und beruhigend.

Später, von der Brücke im Tal aus nach dem Abstieg übver die glitschigen Holzstufen, ist die Gauja rot von Eisen, aber sie soll sehr sauber sein. Wir nehmen den Sessellift zurück auf die Höhen von Sigulda. Die Sonne scheint wieder, die Regencapes sind im Rucksack verstaut. Wir besuchen das Neue Schloss mit seinen bunten Farben und die dahinterliegende Schlossruine mit ihrer riesigen Sommerbühne und den hübschen kleinen Aussichtspunkten, die wieder den Blick auf die rote Ordenbsurg von Turaida freigeben.

Sigulda ist ein malerischer Ort voll von Geschichte und von Geschichten. Wir hätten gerne noch etwas mehr Zeit im Sonnenschein gehabt. Zu früh müssen wir zurück zum Bus, der uns wieder in die Grossstadt Riga bringen soll.

Die zwei Tage in der freien Natur, sie waren sehr wichtig für uns. Unsere Körper erholen sich von der Schreibtischarbeit, unsere blassen Gesichter haben etwas Farbe und wir sind froh, dass sich unser Eindruck von Lettland nicht auf Riga beschränken wird. Karlis hat gesagt, dass wir in Sigulda ein Stückchen vom „wahren Lettland“ kennen lernen. Nicht zuletzt dank der privaten Geschichtsstunden bei seiner Mutter mag das wohl stimmen.

Vilnius

Nach einer erfrischenden Dusche laufen Wiebke und ich zurück in die Stadt und immer der Nase nach die hübschen kleinen Straßen hinauf und hinunter. Der Himmel ist weit und blau über den niedrigen Häuserreihen, und die Altstadt scheint sich kilometerweit zu erstrecken – sie gehört zu den grössten Altstädten in Europa. Der Glockenturm der Sankt Johannis Kirche an der Universität strebt majestätisch gen Himmel, und der kurze Blick in den grossen Innenhof eröffnet eine herrliche Aussicht. Hier zu studieren muss sich schon sehr erhaben anfühlen.Wir laufen zur Kathedrale und setzen uns auf ein Mäuerchen auf dem Vorplatz, um uns gegenseitig aus unseren Reiseführern vorzulesen.

Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.

Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.

Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.

Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:

Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.

Der vollständige Text der Verfassung steht hier.

Nach dem Abendessen  sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.

Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.

Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.

Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.

Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.

Olsztyn und Ankunft in Vilnius

In Olsztyn habe ich ein bisschen Zeit, bevor Wiebke ankommt. Ich frage eine ältere Dame am Hauptbshnhof nach dem Bus in die Stadt. Wir kommen ins Schnattern, innerhalb von Minuten hat sie mich zu sich nach Hause eingeladen und mich mit ihrem Bekannten Marek verheiratet. Marek ist 30, Hochschulprofessor und reizend, sagt sie. Zwar könne er kein Deutsch, aber mein Polnisch würde schon reichen. Ich solle ihr ein Photo von mir schicken, die Adresse hätte sie mir ja schon gegeben, sie würde dann alles in die Wege leiten. Sehr amüsant.

Der Markt ist wunderbar, nicht ganz so herausgeputzt wie in anderen Städten. Die Bürgerhäuser tragen teils grauen Putz, teils entschieden sozialistisch-realistische Ornamente, aber das alte Rathaus und die Bibliothek in der Mitte des Platzes glänzen. Rechts ab geht es zur Burg, deren roter Backstein in der Sonne leuchtet. Einen Blick werfe ich auch in den Dom, gerade ist Gottesdienst. Das Vater unser, Ojcze nasz, bete ich mit. Am selben morgen habe ich es noch in Szczytno beim schnellen Blick in die dortige evangelische Kirche mitgesprochen. Mit wie viel mehr Prunk der katholische Gottesdienst in dem riesigen Backsteindom gegenüber dem kleinen weißgelben Kirchlein von morgens daherkommt… Ich gehe beim Friedensgruß. Vor dem Dom läuft ein kleines Mädchen herum und reicht allen die Hand.

Schließlich hole ich Wiebke am Westbahnhof Olsztyn Zachodni ab. Wir essen noch einen Happen auf dem kleineren Platz zwischen Hohem Tor und Markt, dann geht es zum Hauptbahnhof und zum Bus. Nach Suwałki verläuft alles ohne Zwischenfälle, wir verschnacken so die Zeit.

In Suwałki haben wir von 23 bis 2 Uhr Aufenthalt. Ich frage den Herrn an der Bahnhofsaufsicht, ob mit unseren Onlinetickets alles in Ordnung ist und wo der Bus fährt. Er zeigt auf ein rotes Haltestellenhäuschen direkt an der Hauptstraße. Etwas skeptisch Blicke ich auf die etwa 20 schicken, asphaltierten Bussteige des Busbahnhofs. Da sollte der Bus halten, erklärt der Herr, tut er aber nie. Wir müssten jetzt aber ja 3 Stunden warten. Wissen wir. Nun ja, wenn was sei, er sei am Schalter. Wir machen es uns auf einer Bank gemütlich. Alle zwanzig bis dreißig Minuten kommt unser Bahnhofsschutzengel heraus, stellt sich mit seiner Zigarette zu uns und macht einen kurzen Schnack mit mir. Wiebke lässt sich dann hinterher von mir übersetzen, worum es ging: Suwałki ist angeblich die sauberste Stadt Polens, und auf der Hauptstraße fahren täglich 4000 LKWs Richtung Russland und Litauen; Inzwischen gehen wohl mehr Polen nach Deutschland als nach England, er selbst war noch nicht da, aber vielleicht kommt er mal, zum Spargelstechen.
Es wird kälter, ich wickle mich in meinen Rock, Wiebke zieht eine Strumpfhose unter. Da kommt die SMS: 50 Minuten Verspätung. Zwar bin ich begeistert von der Technik, die mich informiert, nicht aber von der Aussicht, noch bis 3 Uhr früh warten zu müssen. Über uns scheppert die Bahnhofsuhr, wenn die Zahlen im digitalen Format umspringen. Die Uhr zeigt auch die Temperatur, aber wie 21 Grad fühlt es sich wahrlich nicht an. Als der Bus endlich zwischen den LKWs auftaucht, sind wir doch sehr froh und schlafen auf unseren Sitzen im Oberdeck sofort ein.
Fast verschlafen wir gut vier Stunden später denn auch den Hauptbusbahnhof in Vilnius. Erst auf Nachfrage bei unseren Sitznachbarn merken wir, dass wir da sind und müssen dann etwas eilig aussteigen. Die Sonne scheint, wir laufen mit unseren Rucksäcken durch das Tor der Morgenröte und weiter zu Ernst & Young, wo wir unsere Gastgeberin Ieva treffen. Sie läuft mit uns durch die Stadt nach Hause zu ihrer niedlichen Altstadtwohnung. Schon auf dem Weg wird mir klar, was der stete Hinweis auf die „barocke Pracht“ in den Reiseführern meint. Es ist geradezu erschlagend, so bunt und sauber und verspielt, wenn auch immer wieder schlichtere Renaissancebauten die schillernden Häuserreihen um ein ruhiges Element bereichern. Zwei Tage hier liegen vor uns, die Sonne scheint und es ist Urlaub.
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