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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: conference

Warszawa – Warsaw – Warschau

Die Sonne hängt tief als gleißende weiße Scheibe am Himmel. Es liegt ein sonderbarer fahler Dunst über den brandenburgischen Feldern, von dem ich den Eindruck habe, dass er sich schwer auf die vereinzelten Baumgruppen senken müsste, um dort als heller Kreidestaub die Äste zu zieren wie Frost. Je weiter wir nach Osten vordringen, desto wärmer und glühender wird der Sonnenball. Der Zug müffelt komisch, alt. Ich bin dieses Jahr so viel geflogen, ich bin gar nicht mehr an das langsame Reisen gewöhnt, dass mich die Entfernung wirklich spüren lässt. Nach Warschau. Nach Warschau.
Meine früheste Assoziation mit Warschau stammt aus dem ersten Polenurlaub meines Lebens. Ich bin 8 Jahre alt und fahre mit meiner Familie in einem winzigen Auto, im Interesse der Geschichte behaupte ich, es war in einem Polski Fiat, durch die Masuren, und an den Schildern auf der Landstraße steht es immer wieder: Warszawa. Warschau, erklären meine Eltern. Komisch, wieso gibt es zwei Namen für den gleichen Ort? 
Viel später entdecke ich die Stadt neu, zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Niederschlesien habe ich hier ein Training. Ich finde die Stadt grau und zunächst auch nicht mehr als einfach nur grau. Und sehr kalt, es ist Ende Januar. Aber sie soll sich mir doch noch anders erschließen: als Ort der Geschichte, die lebt und atmet bei jedem Schritt, den man in ihren Straßen tut.

Warschau war mir dennoch nie so nah wie Krakau. Aus dem Hauptbahnhof tretend fällt der erste Blick auf den Kulturpalast mit seiner imposanten Größe, der so grau ist und so ideologisch aufgeladen. Er ist nicht von der feinen und viel konventionelleren Ästhetik, die mir in Krakau an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Dafür ist es vielleicht die authentischste polnische Stadt für mich. Dreckig. Laut. Ehrlich. Geprägt von einer schrecklichen Vergangenheit, aus deren Asche sich eben kein Phönix erheben konnte, sondern eher sowas wie eine Krähe. Die ist vielleicht nicht so bunt, aber wenn man sie sich genau anschaut, erkennt man, wie elegant und wie erhaben sie sich halten kann.

Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik. 

Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.

Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.

So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.

Bristol

Morgens fahre ich von Herne Hill zur Victoria Station und steige in die Bahn nach Bristol. England zeigt sich mir von seiner schönsten Seite, mit Sonnenschein und kleinen Schleierwölkchen am Himmel. Kurz vor Bristol fahren wir durch Bath. Ich hänge so sehr an der Fensterscheibe, dass ich meine, sie müsste unter meinem Blick zerspringen. Wunderschön erheben sich die Kathedrale und die vielen steinernen Häuser aus der grünen Landschaft. Wenn ich das nächste Mal hier bin, steige ich hier aus, so viel ist sicher.

Als der Zug in Bristol Temple Meads einfährt, sind die Aussichten aus dem Fenster zunächst weniger spektakulär – aber dann steige ich aus und drehe mich vor dem Bahnhofsgebäude um. Alexa hat mir schon erzählt, dassTemple Meads aussieht wie eine kleine Version der Houses of Parliament, und sie hat nicht untertrieben.

Mit dem Bus fahre ich nach Clifton, wo meine Konferenz stattfinden wird. Ich finde das Haus ohne größere Schwierigkeiten – und es ist wunderbar! Mein Zimmer hat einen flauschigen Teppichboden, einen Schreibtisch, ein gemütliches Bett und einen phantastichen Blick über einen großen Garten mit uralten mächtigen Bäumen, die sich schon in herbstliches Gewand kleiden. Ich mache mich gleich wieder auf den Weg, um ein bisschen herumzulaufen.
Steile Hügel geht es immer weiter abwärts, der Nase nach die schönsten Straßen entlang. Mir kommen viele Kinder und Jugendliche in Schuluniformen entgegen, auch das rührt mich irgendwie an und erinnert mich an Jugendbücher, die in englischen Internaten spielen. Es gefällt mir, alle sehen so schick aus. Ich sehe schließlich Wasser und Schiffe, und es riecht ein bisschen nach Hafen. Auf einer kleinen Terasse eröffnet sich mir ein Blick, der mir eine neue Seite von England zeigt – neben grüner sanfter Weite und der Geschäftigkeit im imposanten, geschichtsträchtigen London finde ich hier nun die Industrieromantik einer Hafenstadt.
Natürlich muss ich einmal ganz nach unten laufen, aber es gibt dort nicht allzu viel zu sehen, also muss ich den steilen Berg wieder hochsteigen, und das ist wirklich anstrengend in der ziemlich warmen Herbstsonne. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass Menschen in Bristol alle ziemlich dünn und ziemlich fit sein müssten, wenn die hier ständig auf und abklettern müssen. Ich lande in einer Ladenstraße und kaufe mir in einem urigen Eisen- und Gemischtwarenladen einen Adapter, denn ich habe vorher völlig vergessen, dass die Steckdosen hier anders sind. Man hat sich ja schon so daran gewöhnt, dass man sich auf eine Reise nicht mehr vorbereiten muss, das ist wie mit dem Euro. Als ich vor zwei Jahren in die Ukraine fuhr, fiel mir erst im Flugzeug ein, dass ich noch nicht einmal wusste, wie die Währung dort heißt. Das ist mir mit England immerhin nicht passiert. Ich finde es grundsätzlich spannend, in einem Land zu sein, in dem mir einige Dinge aus Film und Literatur bekannt ist, und die dann tatsächlich in der Realität vorzufinden. Marks and Spencer zum Beispiel, und WHSmith.
Nach der Kraxelei finde ich, dass ich mir ein Getränk verdient habe. Ich betrete also einen Coffeeshop und bestelle mir ein Mangoshake. Der freundliche Kellner hinter der Theke kassiert und fragt, während er meine Bestellung zubereitet: „And how are you this afternoon?“ und lächelt mich freundlich an. Ich bin ein bisschen überrascht. In London waren die Leute im Service zwar höflich, aber doch sehr distanziert und professionell. „I’m good, I’m enjoying being away from home,“ antworte ich. „Where’s home?“ – „Germany.“ – „Really?? I didn’t catch that, I thought you were from Canada!“ Wenn mich Englischmuttersprachler für eine Muttersprachlerin halten, gehört das zu meinen liebsten Komplimenten. Ich strahle. 
Draußen vor dem Cafe sitze ich mit meinem Notizbuch und versuche, meine Eindrücke in eine Form zu bringen, da fährt ein Big-Issue-Verkäufer auf seinem Fahrrad vorbei und möchte mir eine Ausgabe verkaufen – das ist so etwas wie in Berlin der Straßenfeger oder in Hamburg Hinz & Kunzt. Ich habe am Tag zuvor schon eine Big Issue in London gekauft und lehne dankend ab, komme aber dennoch mit dem jungen Mann ins Gespräch. Nach fünf Sätzen fragt auch er: „Are you from Canada?“ Das trägt durchaus zu meiner guten Laune bei. Er erklärt mir innerhalb von fünf Minuten, was ich mir alles in Bristol anschauen muss, spricht ein paar ziemlich verquere Sätze deutsch mit mir und verlässt mich mit einem herzlichen Händedruck. Sehr offen scheinen mir die Leute hier zu sein. Ich zücke mein Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Ein uralter Herr mit Rauschebart geht langsam an mir vorbei, bleibt stehen, sagt: „Talking to the world, are ye. Well, don’t forget about the little green men!“ Er deutet mit seinem Gehstock nach oben. „They’re watching!“
Abends beginnt das Konferenzprogramm mit einem kleinen Theaterstück. Eine australische Historikerin hat in Albanien Interviews mit Menschen geführt, deren Eltern vom Hoxha-Regime umgebracht worden sind. Sie spielt mit einem Kollegen eines der Interviews nach. Eine dunkle, traurige Performance, die mich tief beeindruckt. Am nächsten Tag beginnen die Vorträge und die erste Tageshälfte ist sehr geschäftig. Nachmittags finde ich dann aber nochmals Gelegenheit, mir die Stadt anzuschauen. Ich laufe durch den Brandon Hill Park in Richtung Zentrum.
Ich bin ja immer eher für plattes Land als für Hügel und Berge, aber wie sich diese Stadt so an die Hänge schmiegt, das ist wirklich bezaubernd. Ich laufe zum College Green, an dem die Kathedrale steht. Ich bin hier schon an so vielen Gebäuden vorbeigekommen, die aussehen wie Kirchen und dann doch keine sind – das Unihauptgebäude, die Stadtbibliothek, ein Krankenhaus – dass ich bei der Kathedrale schon kurz überlege, ob sie das nun wirklich sein kann. Im Innern gibt es dann aber keine Zweifel mehr. Das Kirchenschiff ist von Säulen begrenzt, die in hellen Blau- und Goldtönen gehalten sind, aber wenn man um den Chor herumgeht, erinnert die Farbgebung eher an den Bremer Dom – kräftig und warm. Hier hätte ich wirklich gerne einen Gottesdienst besucht, aber das habe ich am Sonntag in London auch noch vor. 
Draußen auf dem Rasen schließe ich eine kurzlebige Freundschaft mit einer Horde Dreizehnjähriger, die alle gleichzeitig versuchen, mir zu erzählen, ob sie schonmal in Deutschland waren, da jemanden kennen oder nicht vielleicht doch die USA viel spannender finden als das europäische Ausland. Dann mache ich mich auf den Weg zum Kern der Altstadt hinüber, weil mir die Zeit bereits davonläuft. Viel zu kurz nur kann ich mich am Wasser und an den Speichergebäuden erfreuen, eine kleine Kopfsteinpflasterstraße zum nächsten Wasserstreifen hinunterlaufen und ein bisschen am Fluss in der Sonne sitzen. Wenn ich in England aufgewachsen wäre, wäre Bristol sicherlich eine Stadt gewesen, in der ich hätte studieren wollen. Klein genug, um alles schnell zu kennen und es nirgendwohin weit zu haben, groß genug, um etwas bieten zu können, und gesegnet mit einem entzückenden Stadtbild. 

Nach dem Abendessen gehen wir mit ein paar anderen Teilnehmern noch auf eine schnelle Abendrunde zur berühmten Clifton Suspension Bridge. Sie gilt als Wahrzeichen der Stadt und wird am Abend herrlich angestrahlt. Mit viel Gelächter und Hilfe unserer Handys versuchen wir auf dem Weg durch den dunklen Park den Weg ein bisschen zu erleuchten, aber als wir schließlich die Brücke vor uns liegen sehen, werden wir alle fast ein bisschen andächtig ruhig.


Ich hätte die Brücke gern auch im Tageslicht bestaunt, aber am folgenden und letzten Konferenztag ist das Programm zu dicht, um noch Ausflüge in die Stadt zu machen. Ich bin jedoch froh, dass ich ein bisschen Gelegenheit hatte, neben London auch eine kleinere englische Stadt kennen zu lernen – Bristol hat mir große Lust gemacht, das Land intensiver zu bereisen.