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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: England (Seite 2 von 2)

London – City of London, East End, Hyde Park und South Bank

Manchmal hat man seltsame Gründe dafür, einen bestimmten Ort sehen zu wollen. Ich wollte zum Beispiel immer nach Prag. Ich hatte nämlich mit etwa 9 Jahren mal ein Lustiges Taschenbuch, in dem es eine Comic-Adaption von Franz Kafkas „Verwandlung“ mit Donald Duck als Gregor Samsa gab, und dieser Comic begann mit den Worten: „Prag – die goldene Stadt an der Moldau“. Vor meinem inneren Auge sah ich goldene Dächer und einen goldenen Fluss und goldenen Sonnenschein und wollte unbedingt nach Prag. Dieser Wunsch erfüllte sich im Jahr 2007. Nach London wollte ich auch schon sehr lange. Aber nicht wegen der Dinge, von denen ich schon berichtet habe. Ich wollte immer nur zur St. Paul’s Cathedral. Wegen des Disneyfilms „Mary Poppins“, in dem Mary Poppins Jane und Michael das Lied von der uralten Vogelfrau vorsingt, die jeden Morgen auf den Stufen der Kathedrale sitzt und Vogelfutter verkauft.
Eigentlich will ich an diesem Morgen in die Westminster Abbey zum Gottesdienst. Aber dort ist Wachschutz und alles ist voll von Menschen in seltsamen Uniformen, die diese künstlichen steifen Bewegungen machen und häufig eher lustig als ehrfurchterweckend aussehen. Man kommt nur mit einer Karte in den Gottesdienst. Ich pese über verschiedene U-Bahnhöfe und komme etwas außer Atem an der St Paul’s Cathedral an. Der Gottesdienst dort ist noch nicht losgegangen, aber es wird Zeit, deswegen ist mein erster Eindruck des imposanten Bauwerks nicht von der langsamen Freude des Entdeckens geprägt, die ich mir ausgemalt habe. Stattdessen eile ich die Stufen hinauf und lasse mir einen Gottesdienstzettel in die Hand drücken, um dann, endlich langsam, das Kirchenschiff zu durchqueren und schließlich unter der Kuppel zu stehen – und mir schießen die Tränen aus den Augen. Ich bin völlig überwältigt. Ein Kirchendiener fragt mich: „Alright?“ Ich stammle: „It’s so beautiful!“ Der Gottesdienst ist von einer wunderbaren Feierlichkeit, die Kirchenlieder getragener, mächtiger als zuhause, die Predigt dagegen von einer so anmutigen Mischung aus philosophischer Tiefe und lebensnaher Fröhlichkeit, dass ich fast noch einmal weinen muss. Es geht um Gleichheit, und ich gehe glücklicher aus dem Gottesdienst hinaus als ich es vorher war, und wieder ein bisschen idealistischer. Vielleicht mag ich das an der Kirche. Sie nimmt mir den Zynismus, den mir der Alltag aufzwingt.

Ich sitze nach dem Gottesdienst noch eine Stunde vor der Kathedrale um dann gemütlich zum Tower Hill hinüber zu laufen. Vor der Tower Bridge lasse ich ein klassisches Touristenphoto von mir machen von einem freundlichen Passanten, und am Tower Hill bestaune ich die uralten mächtigen grauweißen Mauern von außen. Es ist sehr lebendig hier, Eltern mit Kindern, junge Paare, Freundinnen, ältere Herrschaften, alle sitzen und laufen durcheinander, man hört alle zwei Meter eine andere Sprache und Londons ganze Lebendigkeit wird vor der Kulisse des ewigen alten Steins und der 2000jährigen Geschichte nur noch deutlicher.

Ich treffe mich mit Alexa am Trafalgar Square und wir gehen in Soho Kaffeetrinken, um dann ins East End zu fahren. Unterwegs treffen wir den Tod nicht auf Latschen, sondern auf dem Fahrrad – im Schaufenster des Liberty-Kaufhauses.

  

Im East End reizt ein kleiner Markt mit stylischen Klamotten, Taschen und Hüten zum Einkaufen, ich bin aber zu arm. Wir laufen durch die Brick Lane, anscheinend ist hier ein Festival, von überall kommt laute Musik unterschiedlicher Stilrichtungen. Wir gehen in einen phantastischen Plattenladen, der so viel Stil hat, dass Berlin mir dagegen vorkommt wie ein kleines Provinzstädtchen. Anschließend trinken wir Saft in einer Künstlerbar mit Lichtinstallationen und Filmprojektionen an den Wänden. Einer der Filme hat den Titel „Guilty Pleasure“. Der Schriftzug lautet: „My guilty pleasure is letting my girlfriend cut my toe nails. Don’t tell anyone though.“ Darauf folgt eine Animation mit blauen Füßen, einer Schere und riesigen Zehennägeln. Es ist großartig und ein bisschen abgedreht.

Wir fahren wieder nach Brixton und gehen bei einem kleinen, vollen Vietnamesen essen. Ich sage zu Alexa, dass in Berlin Inder, Vietnamesen und Thailänder doch häufig ziemlich ähnlich sind. Sie guckt mich entgeistert an. „Those are completely different things!“ sagt sie. Dafür gibt es in Berlin gutes türkisches Essen, denke ich mir. Das Curry schmeckt wunderbar, und ich habe danach große Lust, mir in einem Pub um die Ecke noch ein bisschen Jazz anzuhören. Das Pub hat Ähnlichkeit mit Irish Pubs in Deutschland, mit einer großen hölzernen Theke und bemalten Fenstern, die Jazzmusik will so gar nicht dazu passen, aber auch diese Reibung übt ihren besonderen Reiz aus. Wir kommen mit zwei Jungs an unserem Tisch ins Gespräch, einer von beiden macht Stand-up Comedy und redet auch so. Normalerweise, versichert mir Alexa, passiert sowas in London nie, die Leute kümmern sich lieber um sich selbst. Ich erzähle, dass in meinem Reiseführer steht, man solle keine fremden Menschen anlächeln, sie würden einen nur für verrückt halten. Der Comedian sagt: „If it was me, I’d be so grateful, it’d mean that you want to talk! I’d be like: What are your five favorite — food items??“ Der Cider schmeckt gut, und ich bin glücklich, als wir uns durch die sternklare Nacht auf den Weg nach Herne Hill machen.

 
Am nächsten Morgen frühstücken Alexa und ich zusammen Weetabix, dann muss sie zur Arbeit. Ich packe noch gemütlich meine Sachen, nehme einen leisen und fröhlichen Abschied aus der hübschen Straße in Herne Hill und fahre zur Victoria, schließe mein Gepäck ein und nehme den Bus zum Hyde Park. 
Der Park ist so weit und groß, dass man sich tatsächlich fast in ihm verlieren kann. Ich sitze am Serpentine Lake und betrachte die Morgen-Jogger, die Spaziergänger und ein lustiges Pärchen mit ungefähr 12 Hunden. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, es ist ein bisschen kühl und schon herbstlich. Langsam gehe ich über die Brücke zu den Kensington Gardens. Dort steht ein Schild: „DANGER! Shallow water. Do not jump  from the bridge.“ Jemand hat Teile der Schrift weggekratzt, statt „DANGER“ steht sort nun „ANGEL“. Mir gefällt’s. Ich folge dem Ufer des Sees nach Norden und staune über die Fauna, da sind viele verschiedene Enten, Schwäne, von denen einige grau sind und viel schöne als die weißen, Kormorane und Reiher, die unbeeindruckt und stocksteif auf den Planken im Wasser stehen. Am Peter Pan Denkmal bleibe ich kurz stehen. Ich  möchte auch nicht erwachsen werden. Wenn ich reise, ist es leichter, Kind zu bleiben mit einer unbändigen Neugier und Begeisterungsfähigkeit.

 
Von Paddington fahre ich nach Hammersmith, wo ich mich mit Steve zum Mittagessen treffe. Wir sind letztes Jahr zusammen in Montenegro und Albanien gereist. Ich kenne ihn nur mit Shorts und T-Shirt, plötzlich steht er mir mit blauem Nadelstreifenanzug gegenüber. Es braucht keine Minute Eingewöhnungszeit und es ist, als hätten wir uns gestern erst gesehen. Reisen verbindet auf eine ganz besondere Art. Die Sonne scheint, so schön auf den kleinen Platz vor der Deli, das Essen schmeckt und wir sprechen von unseren Leben, die so unterschiedlich sind und von unseren Reiseträumen, die sich so ähneln. Viel zu schnell müssen wir uns wieder verabschieden. 

Nachdem ich vorhin einen verrückten Umweg auf mich genommen habe, weil ich dachte, dass nur die Hammersmith and City tube nach Hammersmith fährt, bin ich auf dem Rückweg mit der District Line in kürzester Zeit wieder in der Innenstadt. Ich fahre bis Embankment und laufe auf die Südseite der Themse hinüber. Herrliche Aussichten tun sich auf, aber die Sonne steht hinter den Houses of Parliament und ich kann sie nur gegen die Sonne photographieren.

 
Also beschließe ich, die Atmosphäre einfach zu genießen und höre eine halbe Stunde den Straßenmusikern zu, die Johnny Cash spielen und singen mit einer Gitarre, einem Cello und einer Kiste, auf der einer Töne produziert wie andere es nicht einmal auf einem vernünftigen Schlagzeug könnten.

Schließlich muss ich doch einmal wieder zum Bus und zum Flughafen fahren. Etwas hat mich nach England gezogen, bevor ich diese Reise unternommen habe, und etwas zieht mich weiter dorthin. Es ist so ganz anders als die melancholisch-entspannte, fröhlich-ausgelassene, tragische und herzliche Schönheit des Balkans. Vielleicht war es Zeit für mich in ein Land zu kommen, das nicht so viele offene Wunden zeigt. Und es ist wirklich wunderbar, einen Ort wie London zu entdecken, den man aus Liedern, aus Texten oder Erzählungen präsent hat, ohne ihn zu kennen. Meine kugelrunden  neugiereigen Kinderaugen sind wenigstens noch nicht, auch und gerade auch im Blick auf London nicht, vollends erwachsen geworden.

Bristol

Morgens fahre ich von Herne Hill zur Victoria Station und steige in die Bahn nach Bristol. England zeigt sich mir von seiner schönsten Seite, mit Sonnenschein und kleinen Schleierwölkchen am Himmel. Kurz vor Bristol fahren wir durch Bath. Ich hänge so sehr an der Fensterscheibe, dass ich meine, sie müsste unter meinem Blick zerspringen. Wunderschön erheben sich die Kathedrale und die vielen steinernen Häuser aus der grünen Landschaft. Wenn ich das nächste Mal hier bin, steige ich hier aus, so viel ist sicher.

Als der Zug in Bristol Temple Meads einfährt, sind die Aussichten aus dem Fenster zunächst weniger spektakulär – aber dann steige ich aus und drehe mich vor dem Bahnhofsgebäude um. Alexa hat mir schon erzählt, dassTemple Meads aussieht wie eine kleine Version der Houses of Parliament, und sie hat nicht untertrieben.

Mit dem Bus fahre ich nach Clifton, wo meine Konferenz stattfinden wird. Ich finde das Haus ohne größere Schwierigkeiten – und es ist wunderbar! Mein Zimmer hat einen flauschigen Teppichboden, einen Schreibtisch, ein gemütliches Bett und einen phantastichen Blick über einen großen Garten mit uralten mächtigen Bäumen, die sich schon in herbstliches Gewand kleiden. Ich mache mich gleich wieder auf den Weg, um ein bisschen herumzulaufen.
Steile Hügel geht es immer weiter abwärts, der Nase nach die schönsten Straßen entlang. Mir kommen viele Kinder und Jugendliche in Schuluniformen entgegen, auch das rührt mich irgendwie an und erinnert mich an Jugendbücher, die in englischen Internaten spielen. Es gefällt mir, alle sehen so schick aus. Ich sehe schließlich Wasser und Schiffe, und es riecht ein bisschen nach Hafen. Auf einer kleinen Terasse eröffnet sich mir ein Blick, der mir eine neue Seite von England zeigt – neben grüner sanfter Weite und der Geschäftigkeit im imposanten, geschichtsträchtigen London finde ich hier nun die Industrieromantik einer Hafenstadt.
Natürlich muss ich einmal ganz nach unten laufen, aber es gibt dort nicht allzu viel zu sehen, also muss ich den steilen Berg wieder hochsteigen, und das ist wirklich anstrengend in der ziemlich warmen Herbstsonne. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass Menschen in Bristol alle ziemlich dünn und ziemlich fit sein müssten, wenn die hier ständig auf und abklettern müssen. Ich lande in einer Ladenstraße und kaufe mir in einem urigen Eisen- und Gemischtwarenladen einen Adapter, denn ich habe vorher völlig vergessen, dass die Steckdosen hier anders sind. Man hat sich ja schon so daran gewöhnt, dass man sich auf eine Reise nicht mehr vorbereiten muss, das ist wie mit dem Euro. Als ich vor zwei Jahren in die Ukraine fuhr, fiel mir erst im Flugzeug ein, dass ich noch nicht einmal wusste, wie die Währung dort heißt. Das ist mir mit England immerhin nicht passiert. Ich finde es grundsätzlich spannend, in einem Land zu sein, in dem mir einige Dinge aus Film und Literatur bekannt ist, und die dann tatsächlich in der Realität vorzufinden. Marks and Spencer zum Beispiel, und WHSmith.
Nach der Kraxelei finde ich, dass ich mir ein Getränk verdient habe. Ich betrete also einen Coffeeshop und bestelle mir ein Mangoshake. Der freundliche Kellner hinter der Theke kassiert und fragt, während er meine Bestellung zubereitet: „And how are you this afternoon?“ und lächelt mich freundlich an. Ich bin ein bisschen überrascht. In London waren die Leute im Service zwar höflich, aber doch sehr distanziert und professionell. „I’m good, I’m enjoying being away from home,“ antworte ich. „Where’s home?“ – „Germany.“ – „Really?? I didn’t catch that, I thought you were from Canada!“ Wenn mich Englischmuttersprachler für eine Muttersprachlerin halten, gehört das zu meinen liebsten Komplimenten. Ich strahle. 
Draußen vor dem Cafe sitze ich mit meinem Notizbuch und versuche, meine Eindrücke in eine Form zu bringen, da fährt ein Big-Issue-Verkäufer auf seinem Fahrrad vorbei und möchte mir eine Ausgabe verkaufen – das ist so etwas wie in Berlin der Straßenfeger oder in Hamburg Hinz & Kunzt. Ich habe am Tag zuvor schon eine Big Issue in London gekauft und lehne dankend ab, komme aber dennoch mit dem jungen Mann ins Gespräch. Nach fünf Sätzen fragt auch er: „Are you from Canada?“ Das trägt durchaus zu meiner guten Laune bei. Er erklärt mir innerhalb von fünf Minuten, was ich mir alles in Bristol anschauen muss, spricht ein paar ziemlich verquere Sätze deutsch mit mir und verlässt mich mit einem herzlichen Händedruck. Sehr offen scheinen mir die Leute hier zu sein. Ich zücke mein Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Ein uralter Herr mit Rauschebart geht langsam an mir vorbei, bleibt stehen, sagt: „Talking to the world, are ye. Well, don’t forget about the little green men!“ Er deutet mit seinem Gehstock nach oben. „They’re watching!“
Abends beginnt das Konferenzprogramm mit einem kleinen Theaterstück. Eine australische Historikerin hat in Albanien Interviews mit Menschen geführt, deren Eltern vom Hoxha-Regime umgebracht worden sind. Sie spielt mit einem Kollegen eines der Interviews nach. Eine dunkle, traurige Performance, die mich tief beeindruckt. Am nächsten Tag beginnen die Vorträge und die erste Tageshälfte ist sehr geschäftig. Nachmittags finde ich dann aber nochmals Gelegenheit, mir die Stadt anzuschauen. Ich laufe durch den Brandon Hill Park in Richtung Zentrum.
Ich bin ja immer eher für plattes Land als für Hügel und Berge, aber wie sich diese Stadt so an die Hänge schmiegt, das ist wirklich bezaubernd. Ich laufe zum College Green, an dem die Kathedrale steht. Ich bin hier schon an so vielen Gebäuden vorbeigekommen, die aussehen wie Kirchen und dann doch keine sind – das Unihauptgebäude, die Stadtbibliothek, ein Krankenhaus – dass ich bei der Kathedrale schon kurz überlege, ob sie das nun wirklich sein kann. Im Innern gibt es dann aber keine Zweifel mehr. Das Kirchenschiff ist von Säulen begrenzt, die in hellen Blau- und Goldtönen gehalten sind, aber wenn man um den Chor herumgeht, erinnert die Farbgebung eher an den Bremer Dom – kräftig und warm. Hier hätte ich wirklich gerne einen Gottesdienst besucht, aber das habe ich am Sonntag in London auch noch vor. 
Draußen auf dem Rasen schließe ich eine kurzlebige Freundschaft mit einer Horde Dreizehnjähriger, die alle gleichzeitig versuchen, mir zu erzählen, ob sie schonmal in Deutschland waren, da jemanden kennen oder nicht vielleicht doch die USA viel spannender finden als das europäische Ausland. Dann mache ich mich auf den Weg zum Kern der Altstadt hinüber, weil mir die Zeit bereits davonläuft. Viel zu kurz nur kann ich mich am Wasser und an den Speichergebäuden erfreuen, eine kleine Kopfsteinpflasterstraße zum nächsten Wasserstreifen hinunterlaufen und ein bisschen am Fluss in der Sonne sitzen. Wenn ich in England aufgewachsen wäre, wäre Bristol sicherlich eine Stadt gewesen, in der ich hätte studieren wollen. Klein genug, um alles schnell zu kennen und es nirgendwohin weit zu haben, groß genug, um etwas bieten zu können, und gesegnet mit einem entzückenden Stadtbild. 

Nach dem Abendessen gehen wir mit ein paar anderen Teilnehmern noch auf eine schnelle Abendrunde zur berühmten Clifton Suspension Bridge. Sie gilt als Wahrzeichen der Stadt und wird am Abend herrlich angestrahlt. Mit viel Gelächter und Hilfe unserer Handys versuchen wir auf dem Weg durch den dunklen Park den Weg ein bisschen zu erleuchten, aber als wir schließlich die Brücke vor uns liegen sehen, werden wir alle fast ein bisschen andächtig ruhig.


Ich hätte die Brücke gern auch im Tageslicht bestaunt, aber am folgenden und letzten Konferenztag ist das Programm zu dicht, um noch Ausflüge in die Stadt zu machen. Ich bin jedoch froh, dass ich ein bisschen Gelegenheit hatte, neben London auch eine kleinere englische Stadt kennen zu lernen – Bristol hat mir große Lust gemacht, das Land intensiver zu bereisen.

London – St. James’s Park, Westminster und Trafalgar Square

Mein Blog hieß zwar bis vor Kurzem „Unterwegs nach Osteuropa“, aber ich kann es unmöglich bleiben lassen, meinen ersten England-Aufenthalt zu beschreiben. Namen sind Schall und Rauch, und meine geneigte Leserschaft möge es mir verzeihen, wenn ich Osteuropa in Zukunft um den Rest der Welt erweitere. Gleichzeitig ist es schwierig, über einen Ort wie London zu schreiben, den so viele so viel besser kennen als ich. Während meines Aufenthalts bemerke ich jedoch, dass ich dankbar dafür bin, London jetzt zum ersten Mal und ganz neu zu entdecken – um es mit Matisse zu sagen: Man darf nicht verlernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Das geht mir leicht von der Hand in London, ich staune und habe das Gefühl, dass ich von morgens bis abends kugelrunde große Augen mache, die gar nicht genug sehen können von all dem, was mich umgibt.

Chaotische Tage liegen hinter mir, als ich in London aus dem Flieger klettere. 48 Stunden vorher war ich noch in Zagreb und stand in der heißen Morgensonne vor dem imposanten Bahnhofsgebäude. Nun fährt mich ein Bus durch eine sanfte grüne Landschaft, die ich sofort bereit bin, unglaublich englisch zu finden. Schuld sind Jane-Austen- und, oh Schreck, Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen. Der Cockney-Akzent des Busfahrers trägt  ebenfalls zu meiner guten Laune bei. Mein amerikanisches Englisch kommt mir fehl am Platz vor, aber umso lieber höre ich darauf, was die Menschen um mich herum erzählen – nicht wegen der Inhalte, nur wegen des Klangs. Die Umgebung wird schließlich städtischer, wir müssen schon auf Londoner Stadtgebiet sein und ich habe es gar nicht bemerkt. Wir fahren durch Hempstead, überall stehen hebräische Schriftzüge an den Läden, viele jüdische kleine Läden und Delis und das London Jewish Cultural Center ziehen am Fenster vorbei. Jüdische Viertel haben für mich bisher irgendwie hauptsächlich nach Osteuropa gehört. Weiter geht die Fahrt, nun richtig in die Stadt hinein – Baker Street, Marble Arch, endlich Victoria Train Station. Ich steige aus und bin ein bisschen aufgeregt. Langsam wird mir klar, dass ich wieder eine neue Grenze überschritten habe. Ich bin zum ersten Mal in einem neuen Land. Wie ich dieses Gefühl liebe!

Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich  am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.

Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.

Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.

Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.

Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.

Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.

Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.

Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.

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