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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: poem

The Wonderful Astray

Again I owe the inspiration to this blog post to my wonderful job that allows me to deal professionally with things I love very much. Last November, one of these things was the work of Polish cult poet Edward Stachura. Stachura was something of a Polish beatnik who mainly wrote poetry and songs. He committed suicide in his early fourties which made him even more popular with the underground scene. I came across his work mainly through the music of the wonderful band Stare Dobre Małżeństwo – the band name translates to Good Old Marriage. The first song by them that I fell in love with was “Jak”:

While the melody and the simple guitar instrumental caught me by their slight melancholy that I still felt to be light and hopeful, it was really the lyrics that got to me right away – especially the recurring line

Jak suchy szloch w tę dżdżystą noc…

Like a dry sob into this rainy night…

To me the Polish line consists of nothing but beautiful words. Szloch, sob, is a beautiful word that sounds exactly like the sound it represents. Dżdżysty, rainy, is a beautiful word that starts by a consonant cluster that only Polish could come up with. Many people ask me if Polish can be sung at all, with its many consonants. This song proves that it can be done, and beautifully so. It is also proof to me that lyrics don’t always need to be understood intellectually, but that the pure sound of language transports beauty all by itself, because I didn’t understand everything when I first heard this song.

What’s funny about the lyrics is that they never actually give an object of reference. „Jak“ can be translated by „as“ or „like“ or „when“ – all particles that would require something consequently following. That is as this is. That is like this is. That is when this happened. None of these sentences could pose a „this“ without posing a „that“ – but the song leaves out what „that“ is. It just gives a „this“. But in many lines, that proves to be enough. Like here:

Jak winny – li – niewinny sumienia wyrzut,
Że się żyje, gdy umarło tylu, tylu, tylu.

Like guilty unguilty twinges of conscience,
That you’re alive when there have died so many, many, many.

We don’t know what it is that is „like twinges of conscience“ – but that’s of no relevance to the emotional message of the line. I cannot say that I have felt that exact way, but it reminded me of a certain kind of feeling grateful for my life that sometimes is accompanied by a slight sense of disbelief that I should deserve to be so lucky. And it reminded me of the cemeteries of Sarajevo I have written about before:

Sarajevo, Bosnia and HercegovinaThe last bit of the lyrics says:

Jak biec do końca – potem odpoczniesz, potem odpoczniesz, cudne manowce,
cudne manowce, cudne, cudne manowce.

Like running till the end, after that you’ll relax, after that you’ll relax, wonderful astray,
wonderful astray, wonderful, wonderful astray.

The wonderful astray, or the magical astray, or the marvellous astray – what a beautiful notion that is. „Astray“, or „manowce“, has no German equivalent, it can only be translated in colloquialisms. My colleague once said that if there were to be a translation, it could certainly not be combined with terms such as „wonderful“ – German culture doesn’t care for the „astray“. In stereotype, that may be true. In fact, I am the counter example. I love the astray. I love getting lost. Being led wherever circumstance may. Letting life have its way with me.

In a story, this is what The Wonderful Astray means to me – I love just following a trampled out pathway on a remote Croatian island and coming across this:

Vis, Croatia

When I found this place, I sang on the top of my lungs. I’m not sure, but I think Elton John’s „Can You Feel the Love Tonight“. If I ever return to this magical place, I’m going to sing „Jak“.

London – St. James’s Park, Westminster und Trafalgar Square

Mein Blog hieß zwar bis vor Kurzem „Unterwegs nach Osteuropa“, aber ich kann es unmöglich bleiben lassen, meinen ersten England-Aufenthalt zu beschreiben. Namen sind Schall und Rauch, und meine geneigte Leserschaft möge es mir verzeihen, wenn ich Osteuropa in Zukunft um den Rest der Welt erweitere. Gleichzeitig ist es schwierig, über einen Ort wie London zu schreiben, den so viele so viel besser kennen als ich. Während meines Aufenthalts bemerke ich jedoch, dass ich dankbar dafür bin, London jetzt zum ersten Mal und ganz neu zu entdecken – um es mit Matisse zu sagen: Man darf nicht verlernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Das geht mir leicht von der Hand in London, ich staune und habe das Gefühl, dass ich von morgens bis abends kugelrunde große Augen mache, die gar nicht genug sehen können von all dem, was mich umgibt.

Chaotische Tage liegen hinter mir, als ich in London aus dem Flieger klettere. 48 Stunden vorher war ich noch in Zagreb und stand in der heißen Morgensonne vor dem imposanten Bahnhofsgebäude. Nun fährt mich ein Bus durch eine sanfte grüne Landschaft, die ich sofort bereit bin, unglaublich englisch zu finden. Schuld sind Jane-Austen- und, oh Schreck, Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen. Der Cockney-Akzent des Busfahrers trägt  ebenfalls zu meiner guten Laune bei. Mein amerikanisches Englisch kommt mir fehl am Platz vor, aber umso lieber höre ich darauf, was die Menschen um mich herum erzählen – nicht wegen der Inhalte, nur wegen des Klangs. Die Umgebung wird schließlich städtischer, wir müssen schon auf Londoner Stadtgebiet sein und ich habe es gar nicht bemerkt. Wir fahren durch Hempstead, überall stehen hebräische Schriftzüge an den Läden, viele jüdische kleine Läden und Delis und das London Jewish Cultural Center ziehen am Fenster vorbei. Jüdische Viertel haben für mich bisher irgendwie hauptsächlich nach Osteuropa gehört. Weiter geht die Fahrt, nun richtig in die Stadt hinein – Baker Street, Marble Arch, endlich Victoria Train Station. Ich steige aus und bin ein bisschen aufgeregt. Langsam wird mir klar, dass ich wieder eine neue Grenze überschritten habe. Ich bin zum ersten Mal in einem neuen Land. Wie ich dieses Gefühl liebe!

Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich  am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.

Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.

Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.

Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.

Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.

Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.

Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.

Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.

Gdańsk – Danzig I

Im Zug zwischen Szczecin (Stettin) und Gdańsk bietet sich mir ein verrücktes Schauspiel beim Blick aus dem Fenster – Regen und Sonne scheinen sich alle Viertelstunde abzuwechseln, es ist nicht abzusehen, welches Wetter mich an der polnischen Ostseeküste erwartet. Ich unterhalte mich mit zwei deutschen Mädchen, die auf einer dreiwöchigen Reise Zuflucht in Polen suchen, so muss man es wohl sagen, vor den hohen Preisen in Norwegen. Als wir zu dritt in Danzig aussteigen, scheint die Sonne und es ist warm. Schon der Bahnhof selbst gibt einen Vorgeschmacke auf die Backsteinschönheit, auf die ich mich so gefreut habe, und die ich dunkel, sehr dunkel im Gedächtnis habe. Ich war schon einmal hier, 1993. Immer wieder werden Erinnerungsfetzen zurückkommen während meines Aufenthaltes.
Nach dem Einchecken im Hostel gehe ich mit Vroni und Lea essen – Pierogi ruskie, nur damit ich wieder weiß, wo ich bin. Die Tortelloni-ähnlichen Maultaschen sind mit einem quarkartigen Weißkäse und Kartoffeln gefüllt, man isst sie mit saurer Sahne. Deftig und lecker, das richtige Essen nach einem langen Tag im Zug ohne Verpflegung. Die Mädels bestellen Lachs, den ich probieren darf – er zergeht auf der Zunge! Zum Nachtisch Szarlotka, den gedeckten Apfelkuchen, warm und mit Sahne. Vroni und Lea sind begeistert und ich freue mich, dass meine kulturelle Vorbildung jemandem zugute kommt. Wir sitzen direkt am Wasser der Motława (Mottlau), große Fähren und kitschige Segelschiffe fahren an uns vorbei, eines heißt doch tatsächlich Czarna Perła – Black Pearl, wie das Piratenschiff in „Fluch der Karibik“, wenn das keine Touristenfalle ist.
Wir schlendern am Fluss und an den verschiedenen alten Stadttoren entlang, den Blick habe ich noch im Kopf und im Herzen von damals. Überall in der Stadt ist Dominiks-Jahrmarkt, ein Mitreisender im Zug hat uns das schon erzählt. Auf dem Targ Węglowy (Kohlenmarkt) stehen Fahrgeschäfte. Auf dem Długi Targ (Langer Markt) stehen Stände mit Schmuck, Nippes und Kleidung und Fressbuden. Die Sonne scheint und taucht die Stadt mit ihren Bürgerhäusern und dem roten Backstein an Toren, Kirchen, Häusern in ein warmes Abendlicht.


Es ist bezaubernd. Eine Straßenmusikerin singt leichten, sehnsüchtigen polnischen Jazz, der die Stimmung einfängt, als wäre die Musik eigens für diesen Anlass komponiert worden. Auf dem Weg zurück Richtung Hostel sehen wir einen riesiegn Regenbogen. Ich freue mich auf die Entdeckungen der nächsten Tage.

Am nächsten Morgen laufe ich zunächst an der Polnischen Post vorbei, die einen ähnlichen Stellenwert für die Polen einnimmt wie die Westerplatte, wo am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Die dezidiert polnischen Orte wurden damals gezielt angegriffen. Ein Onkel von Günter Grass hat sich bei der Verteidigung der Post engagiert und ist deswegen später standesrechtlich erschossen worden. Ein sozrealistisches Denkmal steht auf dem Platz vor dem eher unscheinbaren und wieder weitgehend hergestellten Gebäude. Es zeigt eine Nike-Figur.
Auf dem Weg hinüber zur Danziger Werft liegen auf dem aufgerissenen Straßenpflaster kleine überreife gelbe Mirabellen und eine Menge giftig roter Vogelbeeren. Es sieht herbstlich aus mit den grellbunten Farben, und das Wetter erinnert auch eher an einen warmen Oktober: nicht zu kalt, aber grau und nieselig. Ich passiere die herrliche riesige Bibliothek, erhasche durch eine Seitenstraße schon einen Blick auf das Tor der Werft und bin ein bisschen aufgeregt. Hier haben die Menschen 1970 gegen Preiserhöhungen protestiert, hier hat die Solidarność-Bewegung ihren Anfang genommen. Rechter Hand erreiche ich den Plac Solidarności – den Solidarnośc-Platz mit seinem überdimensionalen Denkmal in Form einer hohen Säule.


Es wurde schon 1980 errichtet und ist eindrucksvoll in seinem Detailreichtum, der trotzdem der Schlichtheit keinen Abbruch tut. In seiner schmalen schlanken Höhe fügt es sich in die Stadtsilhouette mit den vielen Kränen ein. Auf der einen Seite steht ein Gedicht von Czesław Miłosz: 

Który skrzywdziłeś człowieka prostego
Śmiechem nad krzywdą jego wybuchając,
 

Nie bądź bezpieczny. Poeta pamięta.
Możesz go zabić – narodzi się nowy.
Spisane będą czyny i rozmowy.

Mein Versuch einer nicht ganz linearen deutschen Übersetzung:

Der du einem einfachen Menschen Unrecht getan hast,
ein Lachen über sein Leid auf dem Gesicht,
sei dir nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer wird geboren.
Geschrieben werden die Taten und Worte.

Der Wind braust mir um die Ohren, es ist kalt und ich bin zweifelsohne in Ostsee-Nähe. Vor mir die Wand mit Marmortafeln zum Gedenken an diejenigen, die 1970 durch die Gewalt der Polizei umgekommen sind. Rechts von mir das Tor zur Werft, die früher Lenin-Werft hieß und heute wieder Danziger Werft, Stocznia Gdańska. Mir wird klar, wie wichtig Danzig tatsächlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen ist, wie stark die großen Ereignisse hier verwurzelt sind. In Krakau atmet man auch Geschichte, aber Mittelalter, k.u.k. Monarchie und Avantgarde sind dort präsenter als Zweiter Weltkrieg und Sozialismus. Hier, in Danzig, kommt man weder am einen noch am anderen vorbei. Ich beschließe, später zur Westerplatte zu fahren – davon werde ich später berichten. Erst zieht es mich jedoch in den „Vorort der Dichter“, so mein Reiseführer, nach Wrzeszcz, zu deutsch Langfuhr.

Mit der Straßenbahn ist Wrzeszcz leicht zu erreichen. Ich steige an der Aleja Mickiewicza aus – ach, eine Straße dieses Namens gibt es doch in jeder polnischen Stadt, ich bin froh, ich bin in einem fremden Land, in dem ich mich nicht fremd fühle, und ich bin glücklich, dass ich solche Orte habe. Durch unspektakuläre Straßen laufe ich auf der Suche nach dem einen Ort – da ist es, das Geburtshaus von Günter Grass, in dem auch der Protagonist der Blechtrommel, Oskar Matzerath wohnt.


Ein kurzes Zitat aus der Blechtrommel steht auf einer Plakette am Haus, es ist grau und hässlich verputzt, und trotzdem stehe ich kurz andächtig davor und frage mich, ob mein Großvater vielleicht in einem ähnlichen Haus in Danzig geboren und aufgewachsen ist.
Ein Stückchen die Straße hinunter gibt es einen kleinen Platz. Da sitzt er auf einer Bank, mit stummem Blick und seinem Instrument: Oskar Matzerath höchstpersönlich. Ich setze mich auf eine Zigarette neben ihn. Gesprächig ist er nicht – schade. Ich würde gerne von ihm hören, wo ich noch hinlaufen soll in Wrzeszcz.


Ich schließe meinen Ausflug in die Vorstadt mit einem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche. Leider ist sie zu, ich kann nur durch die Gitterstäbe ins innere schauen. Leise singe ich ein polnisches Kirchenlied. Roter Backstein, herrliche Rundbögen, weiße Wände und ein ganz besonderes Licht. Ich muss nicht zum ersten Mal an Lübeck und Greifswald denken. Die hanseatische Vergangenheit, sie trägt sicherlich dazu bei, dass ich Gdansk schon jetzt lieben gelernt habe.

Berlin

Immer wenn ich in Berlin bin muss ich daran denken, wie an meiner Schule das Musical „Linie 1“ aufgeführt wurde, als ich in der 5. Klasse war. Damals habe ich wahrscheinlich ungefähr nichts von der Handlung verstanden, aber die Musik fand ich damals toll, und heute gehe ich durch Berlin und habe verschiedenste Lieder im Ohr. Zum Beispiel das hier:
„Es ist herrlich zu leben, mein Kind,
Es ist herrlich zu leben, wenn ein Tag neu beginnt.
Das Herz will zerspringen, die Seele verglühn,
Wenn am Görlitzer Bahnhof die Linden blühn
Und über der Mauer die Möwen ziehn –
Es ist herrlich zu leben in Berlin!“
Und Berlin ist tatsächlich herrlich und aufregend und ich würde auf der Stelle herziehen, wenn ich nicht zuerst den wilden Osten unsicher machen müsste.
Es erreichen mich außerdem soeben per Email mein Masterzeugnis und die Bescheinigung vom Dekanat, dank derer ich mich jetzt offiziell „Doktorandin“ schimpfen darf. Das ist auch ziemlich aufregend, aber vermutlich werde ich diese Art der Aufregung erst nach der Reise richtig zu schätzen wissen.

Hamburg / Motto

Noch immer in Hamburg, komme ich inzwischen ein wenig dazu, meine Reise vorzubereiten. Ich sitze zum Beispiel gerne bei Starbucks und lese in meinem Lonely Planet – autsch, soviel zu meiner Individualität. Ausgerechnet der Lonely Planet, den sich jeder Rucksackreisende anschafft. Und dann auch noch Starbucks, so ein heterotopisch anmutender Ort! Hm, ich frage mich, ob ich es wohl schaffe, Foucault mental zuhause zu lassen? Na, wenigstens kann ich versprechen, dass ich auf der Reise alles daran setzen werde, nicht ein einziges mal bei McDonalds / Burger King einzukehren!
Und immerhin fühle ich mich inzwischen in der Geographie Osteuropas so sicher, dass ich mir ein paar alternativ einsetzbare Reiserouten zurechtgelegt habe. Nebenbei wächst die Liste von Anschaffungen, die ich noch tätigen muss: Ohropax für laute Hostel-Schlafsäle, Wandersocken, eine zusätzliche Speicherkarte für die Kamera. Über diesen Überlegungen werde ich täglich ein bisschen aufgeregter.

Jenseits von materiellen Planungen beginne ich auch, mich emotional auf die Reise einzustellen. Vielleicht ist einigen aufgefallen, dass ich das polnische Motto auf dieser Seite geändert habe. Zuvor stand da:

Za rzeką i za górą, ciągle nas kusi blask. Jest tyle miast przed nami, za nami tyle miast… Bo nie wiemy co za tym dniem, za horyzontem, za snem, jaki rysunek miast i skąd ten w oczach blask; czy to jest ten drugi brzeg, koniec szukania, dróg kres; czy to twój rysunek ust – Co może być, jest już…

Es handelt sich bei diesem hübschen Text um ein Zitat aus einem Lied von Grzegorz Turnau. Nach wie vor bleibe ich dabei: Es ist zum Übersetzen einfach zu kitschig. Wer eine unkitschige Übersetzung leistet, bekommt von mir etwas von der Reise mitgebracht.
Das neue Zitat ist, Überraschung, von Ryszard Kapuściński. Wer es sich noch nicht gedacht hat, ich bin ein großer Fan.

Podróż przecież nie zaczyna się w momencie, kiedy ruszamy w drogę, i nie kończy, kiedy dotarliśmy do mety. W rzeczywistości zaczyna się dużo wcześniej i praktycznie nie kończy się nigdy, bo taśma pamięci kręci się w nas dalej, mimo że fizycznie dawno już nie ruszamy się z miejsca. Wszak istnieje coś takiego jak zarażenie podróżą i jest to rodzaj choroby w gruncie rzeczy nieuleczalnej.

Annelie hat in einem Kommentar weiter unten schon eine Übersetzung gechrieben, vielen Dank! An dieses Stück traue ich mich aber selbst auch heran. Also:

Die Reise aber beginnt nicht in dem Moment, in dem wir uns auf den Weg machen, und sie endet nicht, wenn wir das Ziel erreicht haben. Tatsächlich beginnt sie viel früher und endet so gut wie niemals, denn das Band der Erinnerung spinnt sich in uns weiter fort, auch wenn wir uns physisch schon lange nicht mehr vom Fleck bewegen. Es gibt doch schließlich so etwas wie die Ansteckungsgefahr des Reisens, und dabei handelt es sich um eine Art Krankheit, die im Grunde genommen unheilbar ist.

Eine familiäre Vorbelastung macht mich wohl besonders anfällig für diese Krankheit. Ausgebrochen ist sie spätestens vor zehn Jahren, als ich mich auf den Weg in mein Austauschjahr nach El Paso, Texas machte. YFUler wissen was ich meine, wenn ich sage: Ich habe vielleicht einfach seit damals nicht mehr mit dem Reisen aufgehört, und genauso wie es bei der Reise nach Amerika war, so hoffe ich auch von dieser Osteuropareise, dass sie niemals aufhört. Erstmal freue ich mich aber darauf, mich auf den Weg zu machen, auch wenn die Reise schon längst angefangen hat.