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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: Poland (Seite 4 von 4)

Wege nach Polen

Am Tag vor der Abfahrt in den Nordosten Europas räume und renne ich, was meine Beine so hergeben. Abends beim Packen suche ich meinen Reiseführer. Da er an so vielen Stelle nicht aufzufinden ist, bleibt irgendwann nur noch eine realistische Möglichkeit: Ich muss ihn in meinem Schreibtisch eingeschlossen haben. Der Schlüssel liegt bei einer Freundin. Eigentlich wollte ich jetzt schon im Bett liegen, stattdessen mache ich mich durch das regnerisch-schwüle Berlin auf den Weg nach Kreuzberg, um den Schlüssel zu holen. Immerhin ist der Lonely Planet dann auch am vermuteten Ort. Ich ärgere mich ein bisschen über meine Kopflosigkeit – aber nicht besonders lange. Es ist eine von diesen Reisepannen, die einfach passieren. 
Überraschend fit mache ich mich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg zum Hauptbahnhof, finde mein Gleis, meinen Wagen und meinen Sitz und mache es mir gemütlich für die ersten drei Stunden Fahrt nach Poznan – bzw. Posen. Normalerweise halte ich mich so gut wie immer an die polnischen Namen aller Städte, denn so heissen sie nunmal heute. Ich spreche ja auch nicht von „Neu Jork“ oder bezeichne Sri Lanka noch immer als Ceylon. Aber was ich die nächsten zwei Tage vorhabe, ist ja nun doch so eine Art Heimwehtourismus, und wenn schon Nostalgie, warum dann nicht auch den deutschen Namen für die Orte in Masuren Raum geben. Ich weiss noch nicht genau wie wohl ich mich damit fühle, aber ich weiss, dass ich neugierig bin auf den Ort, an dem mein Vater geboren ist.
Im Abteil sitzen drei reizende ältere Herrschaften, die mir vom Baltikum vorschwärmen, als sie von meinen Plänen hören, und ein Pole, der aber seit sieben Jahren in den USA studiert und nur ein bisschen deutsch kann, aber natürlich sehr gutes Englisch spricht, Dawid. Er will nach Olsztyn (Allenstein) wie ich. In Poznan steigen wir gemeinsam um. Auf der Weiterfahrt teilen wir das Abteil mit zwei jungen Mädchen, die ein bisschen wortkarg sind, und einem Herrn zwischen 40 und 50, der den armen Dawid einem solchen Redeschwall aussetzt, dass ich zwischendurch gerne eingreifen würde. Dawid erträgt es mit stoischer Ruhe. Irgendwann ist sein Gesprächspartner bei den Banken und sagt: „Aber wir wissen doch alle, wer die Banken in der Hand hat, ich bitte Sie, wir wissen es doch alle ganz genau.“ In meiner grenzenlosen Naivität denke ich: Die Amerikaner? Die Deutschen vielleicht? Oder mal wieder die Russen? Der Herr sagt: „Ich bin ja kein Antisemit, aber…“ Den Rest verstehe ich vor lauter Schreck kurz nicht. Vielleicht ist das auch besser so, denn der Satz danach lautet: „Ohne Adolf Hitler hätten wir Polen heute keinen eigenen Staat.“ Eine ziemlich lange Ausführung folgt, die ich nicht wiedergeben kann und will. Es ist ein bisschen wie ein Autounfall: Es ist fürchterlich, aber ich kann einfach nicht weggucken oder -hören. Mehrere Male bin ich kurz davor einzugreifen, aber auf Polnisch hätte ich keine Chance in einer sachlichen Diskussion, bei der es vermutlich auch gar nicht lange bleiben würde. Ich begreife, wie zwecklos ein Eingriff wäre, und es deprimiert mich. Nachdem der Mann mit den fragwürdigen Ansichten ausgestiegen ist und ich mich noch ein bisschen mit Dawid unterhalte, erwähnt der in einem Nebensatz, dass er jüdische Wurzeln hat – ich frage ihn, wie zum Teufel er unter diesen Umständen das Gerede des Mitfahrers so gelassen hat ertragen können. Er sagt: „In Polen passiert das so häufig, da darf man einfach nicht hinhören.“ 
In Olsztyn suche ich vergeblich meinen Zug auf der Anzeigetafel. Er scheint nicht zu fahren. Am Schalter erkundige ich mich, ich muss stattdessen einen Bus nehmen, der junge Mann am Schalter ist rührend und sehr bemüht, mir den richtigen Weg zu zeigen, fast habe ich das Gefühl er wollte mich am liebsten selbst zum Bus bringen. Am Busbahnhof steht gerade ein Bus abfahrtsbereit, ich renne zum Bussteig, die Türen sind schon zu, der Busfahrer öffnet, ich zeige ihm mein Ticket. „Was ist das denn?“ „Mein Ticket…“ „Das kann ich nicht nehmen, das ist ja eine ganz andere Firma.“ Ich bin ja inzwischen in der Reisestimmung angekommen und rege mich nicht auf, kaufe ein Ticket beim Schaffner, und bin nun tatsächlich auf dem Weg nach Szczytno, nach Ortelsburg. Der Fahrer, stelle ich beim Blick auf das Ticket fest, hat mir den ermäßigten Preis abgerechnet, das ist wirklich nett von ihm. Die Erlebnisse aus dem Zug wirken aber noch nach. So hilfsbereit und wunderbar ich dieses Land immer wieder erlebe – es hat mit Sicherheit seine dunklen Seiten.
Draussen giesst und stürmt es. Ich höre Sommermusik, die zu den herbstlichen Wetter nicht passen will und muss darüber lächeln, dass sich in mit trotzdem alles nach Sonnenschein anfühlt. Ich kann die Landschaft um mich kaum erkennen, nur schemenhaft sehe ich dichte Wälder und grosse Seen, grüne Felder und kleine niedliche Ortschaften. Durch Pasym, Passenheim hindurch fahren wir Richtung Szczytno. Ich weiss, dass mein Vater an der Passenheimer Strasse gewohnt hat, bevor er mit vier Jahren im Jahr 1944 mit seiner Schwester, Mutter und Grossmutter aus Ostpreussen geflohen ist. Ich suche an der Strasse, die in den Ort hineinführt und heute folgerichtig ulica Pasymska (also eben: Passenheimer Strasse) heisst, nach Häusern, die in Frage kommen könnten, aber nicht nur der Regen hindert mich an Entdeckungen – ich habe ja auch einfach gar keine Ahnung, wie sie gelebt haben hier, vor 68 Jahren. Am Busbahnhof steht mein Vater und hebt die Arme, als er mich sieht. Wenn er sich freut, sieht er aus wie ein kleiner Junge. Ich bin so gespannt auf die nächsten Tage.

Warszawa – Warsaw – Warschau

Die Sonne hängt tief als gleißende weiße Scheibe am Himmel. Es liegt ein sonderbarer fahler Dunst über den brandenburgischen Feldern, von dem ich den Eindruck habe, dass er sich schwer auf die vereinzelten Baumgruppen senken müsste, um dort als heller Kreidestaub die Äste zu zieren wie Frost. Je weiter wir nach Osten vordringen, desto wärmer und glühender wird der Sonnenball. Der Zug müffelt komisch, alt. Ich bin dieses Jahr so viel geflogen, ich bin gar nicht mehr an das langsame Reisen gewöhnt, dass mich die Entfernung wirklich spüren lässt. Nach Warschau. Nach Warschau.
Meine früheste Assoziation mit Warschau stammt aus dem ersten Polenurlaub meines Lebens. Ich bin 8 Jahre alt und fahre mit meiner Familie in einem winzigen Auto, im Interesse der Geschichte behaupte ich, es war in einem Polski Fiat, durch die Masuren, und an den Schildern auf der Landstraße steht es immer wieder: Warszawa. Warschau, erklären meine Eltern. Komisch, wieso gibt es zwei Namen für den gleichen Ort? 
Viel später entdecke ich die Stadt neu, zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Niederschlesien habe ich hier ein Training. Ich finde die Stadt grau und zunächst auch nicht mehr als einfach nur grau. Und sehr kalt, es ist Ende Januar. Aber sie soll sich mir doch noch anders erschließen: als Ort der Geschichte, die lebt und atmet bei jedem Schritt, den man in ihren Straßen tut.

Warschau war mir dennoch nie so nah wie Krakau. Aus dem Hauptbahnhof tretend fällt der erste Blick auf den Kulturpalast mit seiner imposanten Größe, der so grau ist und so ideologisch aufgeladen. Er ist nicht von der feinen und viel konventionelleren Ästhetik, die mir in Krakau an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Dafür ist es vielleicht die authentischste polnische Stadt für mich. Dreckig. Laut. Ehrlich. Geprägt von einer schrecklichen Vergangenheit, aus deren Asche sich eben kein Phönix erheben konnte, sondern eher sowas wie eine Krähe. Die ist vielleicht nicht so bunt, aber wenn man sie sich genau anschaut, erkennt man, wie elegant und wie erhaben sie sich halten kann.

Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik. 

Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.

Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.

So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.

Gdańsk – Danzig II

Auf der Schiffsfahrt hinaus zur Halbinsel Westerplatte nachmittags nieselt es und es ist ziemlich kalt. Auf polnisch und deutsch schallen Informationen aus den Lautsprechern, die erklären, an welchen geschichtsträchtigen Orten wir vorbeifahren. Am żuraw, dem Krantor, an der Werft, an zahlreichen Speichern und Kränen, die unseren Weg säumen, der Festung Weichselmündung und dem Weichseldurchbruch vorbei geht es immer weiter, bis wir schließlich anlegen. Durch den Wald hindurch spaziere ich zwischen den zahlreichen anderen Ausflüglern an die Spitze der Halbinsel, an der auf einem Hügel das große Denkmal steht, das an den Ausbruch des zweiten Weltkriegs erinnert. Als „europäischen Erinnerungsort“ feiern es die Reiseführer, und als „obligatorische Station jedes politischen Staatsbesuchs“. Ich fühle mich etwas in mich gekehrt. Der Gedanke, dass dies einmal ein Ort der Sommerfrische war, bevor Militär einzog, dass hier Menschen mit eleganten Kleidern am Ufer flanierten und Kinder in den Wellen spielten, fühlt sich fremd und unwahrscheinlich an.

Das Denkmal ist groß und pompös. Ich bin eher für die stillen Erinnerungsorte, die versuchen, Gefühl zu vermitteln. Der Steinklotz vermittelt nur Härte – aber vielleicht muss das so sein an diesem Ort? Unterhalb des Hügels stehen große weiße Lettern vor dem Wald – „Nigdy więcej wojny“, Nie wieder Krieg. Ich sitze auf dem Sockel des Denkmals mit dem Blick auf die weiten der Ostsee, von wo aus der Angriff auf Polen gekommen sein muss und singe, mal wieder, leise vor mich hin. Reinhard Mey. „Mein dunkles Land der Opfer und der Täter, ich trage einen Teil von deiner Schuld.“ Aber so richtig kann ich nicht begreifen, an was für einem Ort ich mich hier eigentlich befinde.

Die Rückfahrt in die Danziger Innenstadt ist wunderbar, die Sonne ist hervorgekommen und scheint mir ins Gesicht, der Fahrtwind und eine leichte Gischt um meine Nase geben mir das Gefühl, zuhause zu sein – wie in Hamburg. Als das Krantor wieder in Sicht kommt, freue ich mich auf das Hostel und ein bisschen Ruhe. Jedoch, der Abend wird länger als vermutet – als ich ins Bett gehe, wird es draußen schon wieder hell. Es ist phantastisch, wie viele interessante und unterschiedliche Menschen man in Hostels kennen lernt, wie der Kontakt mit diesen Menschen den eigenen Horizont immer und immer wieder erweitert und wie unkompliziert Menschen, die einander bis vor Kurzem fremd waren, anteil aneinander nehmen.

Am nächsten Tag frühstücke ich mit Lea und Vroni in der Mariacka, der Frauengasse. für mich ist es die schönste Straße in der Danziger Innenstadt. Die Häuser haben alle kleine Terassen vor den Eingängen, die Straße ist schmal und bunt von den hübschen Bürgerhäusern und führt vom Wasser direkt auf die Marienkirche zu.


Kleine Schmuckgalerien und Straßenstände mit Bernsteinschmuck säumen das schmale Gässchen mit Kopfsteinpflaster. Hier kann man mit einem Kaffee durchaus die Zeit vergessen. Gerne bliebe ich länger, aber ich habe noch Pläne. Nach einem kurzen Besuch im Günter Grass Museum fahre ich heute nach Oliwa.

Es nieselt. Die Straßenbahn hält nicht dort, wo mir mein Reiseführer empfohlen hat, auszusteigen. Die Kapuze meiner Regenjacke tief ins Gesicht gezogen versuche ich, mich zu orientieren, es klappt nicht. Ich laufe also geradewegs in die Richtung, in der ich die Ostsee vermute, obwohl die eigentlich viel zu weit weg ist, um zu Fuß dorthin zu gehen. Auf der rechten Straßenseite tut sich ein Park auf. Der gefällt mir, da will ich rein – kaum schaue ich in meinem Reiseführer nach, sehe ich, dass ich hier sowieso noch hätte landen wollen. Der Park von Oliwa ist sehr alt und sehr hübsch. Ich bedaure es sehr, dass das Wetter so schlecht ist, ich hätte mich zu gerne auf eine der Bänke gesetzt und die Blumenrabatten, die kleinen Statuen, Seen und Bächlein auf mich wirken lassen. Einer der Bäume tut es mir besonders an.


Ich streichle den weißen alten Stamm. Er fühlt sich warm und sehr lebendig an, dabei sieht er so trocken und geisterhaft aus.

Direkt an den Park anschließend finde ich den Kirchhof der Kathedrale. Oliwa hat eine lange Geschichte als Sitz eines großen Klosters – ein Hort des polnischen Katholizismus und besonders spannend und spannungsreich im Verhältnis zum preußischen, protestantischen Danzig. In seiner Geschichte hat Oliwa mehrmals zu Danzig gehört, um dann wieder eigenständig zu werden. Immer noch muss die Kathedrale wohl ein wichtiger Identifikationspunkt für die Einwohner sein.

Ich stehe noch am Eingang und schalte mein Handy aus, da sehe ich schon, wie voll es in der Kirche ist. Ich hoffe erst auf einen Gottesdienst, aber es kommt fast noch besser. Es spielt jemand Orgel – und was für eine Orgel! Sie ist wunderschön und riesenhaft, mit dunklem Holz und kitschigen Engelchen, die Instrumente halten. Es erklingt die Bach Toccata und Fuge in d-moll (BWV 565). Zu den Höhepunkten beginnen sich an der Orgel vier Zimbelsterne zu drehen, und die Engel bewegen ihre Posaunen und Trompeten auf und ab. Ich finde das ein bisschen amerikanisch, aber der Organist ist wirklich gut und die Stimmung in der unfassbar schmalen, langen, hohen Kirche ganz besonders. Nach dem Stück löst sich die Masse aus ihrer kurzfristigen relativen Verzauberung, und auch ich streife noch ein bisschen durch das Kirchenschiff mit den ungewöhnlichen Maßen. An einer Wand hängt eine Tafel, auf der das Vater Unser auf Kaschubisch steht. Es liest sich lustig, es kommt mir vor als verhielte es sich zu Polnisch in etwa so wie Platt zu Hochdeutsch.

Ich wage mich wieder in den Regen und klettere noch auf den Pachołek, den Pollerhügel. Wenn das Wetter schön ist, muss die Aussicht atemberaubend sein, aber auch so gefällt mir der Blick auf die wolkenumrahmten Hügel und Freudenthal, Dolina Radości. Schließlich laufe ich noch ein ganzes Stück durch die kleinen Oliwaer Straßen, von denen viele mit herrlichen Lindenbäumen gesäumt sind, um die Stelle zu finden, an der das Haus des Professors Hanemann aus Stefans Chwin gleichnamigem Roman (in deutscher Übersetzung: „Tod in Danzig“) stehen soll – kein besonders lohnenswerter Ausflug, dort ist ein Mischgebiet, und das Haus gibt es gar nicht. Durchgefroren und klamm fahre ich wieder in die Innenstadt, ich habe mir wohl eine kleine Erkältung geholt. Im Hostel haben Vroni und Lea schon für mich mitgekocht. Noch ein Abend in ausgelassener Reiseheiterkeit liegt vor mir.

Am nächsten Morgen reicht es nur noch für ein weiteres Frühstück in der Mariacka und schon muss ich wieder zum Bahnhof. Danzig hat sich mir viel eher als Gdańsk erschlossen, ich finde die Stadt erstaunlich wenig deutsch – aber ich bin auch Schlesien gewöhnt, das wenig polnische Geschichte hat und eigentlich fast immer deutsch war, während Danzig tatsächlich auf ein wirres Hin und Her zwischen der deutschen und der polnischen Kultur und Herrschaft in seiner Geschichte zurückblickt. Schon wieder ein Ort, an den ich zurückkehren möchte. Wie gut, dass Danzig nicht weit ist von Berlin. Wenn mich das Fernweh packt, kann ich auch kurzfristig ein paar Tage dorthin fliehen. Mir würde es gefallen, wenn ich das Zuhause-Gefühl, das ich in dieser Stadt hatte, auf diese Weise vertiefen kann. Es gibt dort zumindest noch tausend Dinge zu entdecken.

Gdańsk – Danzig I

Im Zug zwischen Szczecin (Stettin) und Gdańsk bietet sich mir ein verrücktes Schauspiel beim Blick aus dem Fenster – Regen und Sonne scheinen sich alle Viertelstunde abzuwechseln, es ist nicht abzusehen, welches Wetter mich an der polnischen Ostseeküste erwartet. Ich unterhalte mich mit zwei deutschen Mädchen, die auf einer dreiwöchigen Reise Zuflucht in Polen suchen, so muss man es wohl sagen, vor den hohen Preisen in Norwegen. Als wir zu dritt in Danzig aussteigen, scheint die Sonne und es ist warm. Schon der Bahnhof selbst gibt einen Vorgeschmacke auf die Backsteinschönheit, auf die ich mich so gefreut habe, und die ich dunkel, sehr dunkel im Gedächtnis habe. Ich war schon einmal hier, 1993. Immer wieder werden Erinnerungsfetzen zurückkommen während meines Aufenthaltes.
Nach dem Einchecken im Hostel gehe ich mit Vroni und Lea essen – Pierogi ruskie, nur damit ich wieder weiß, wo ich bin. Die Tortelloni-ähnlichen Maultaschen sind mit einem quarkartigen Weißkäse und Kartoffeln gefüllt, man isst sie mit saurer Sahne. Deftig und lecker, das richtige Essen nach einem langen Tag im Zug ohne Verpflegung. Die Mädels bestellen Lachs, den ich probieren darf – er zergeht auf der Zunge! Zum Nachtisch Szarlotka, den gedeckten Apfelkuchen, warm und mit Sahne. Vroni und Lea sind begeistert und ich freue mich, dass meine kulturelle Vorbildung jemandem zugute kommt. Wir sitzen direkt am Wasser der Motława (Mottlau), große Fähren und kitschige Segelschiffe fahren an uns vorbei, eines heißt doch tatsächlich Czarna Perła – Black Pearl, wie das Piratenschiff in „Fluch der Karibik“, wenn das keine Touristenfalle ist.
Wir schlendern am Fluss und an den verschiedenen alten Stadttoren entlang, den Blick habe ich noch im Kopf und im Herzen von damals. Überall in der Stadt ist Dominiks-Jahrmarkt, ein Mitreisender im Zug hat uns das schon erzählt. Auf dem Targ Węglowy (Kohlenmarkt) stehen Fahrgeschäfte. Auf dem Długi Targ (Langer Markt) stehen Stände mit Schmuck, Nippes und Kleidung und Fressbuden. Die Sonne scheint und taucht die Stadt mit ihren Bürgerhäusern und dem roten Backstein an Toren, Kirchen, Häusern in ein warmes Abendlicht.


Es ist bezaubernd. Eine Straßenmusikerin singt leichten, sehnsüchtigen polnischen Jazz, der die Stimmung einfängt, als wäre die Musik eigens für diesen Anlass komponiert worden. Auf dem Weg zurück Richtung Hostel sehen wir einen riesiegn Regenbogen. Ich freue mich auf die Entdeckungen der nächsten Tage.

Am nächsten Morgen laufe ich zunächst an der Polnischen Post vorbei, die einen ähnlichen Stellenwert für die Polen einnimmt wie die Westerplatte, wo am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Die dezidiert polnischen Orte wurden damals gezielt angegriffen. Ein Onkel von Günter Grass hat sich bei der Verteidigung der Post engagiert und ist deswegen später standesrechtlich erschossen worden. Ein sozrealistisches Denkmal steht auf dem Platz vor dem eher unscheinbaren und wieder weitgehend hergestellten Gebäude. Es zeigt eine Nike-Figur.
Auf dem Weg hinüber zur Danziger Werft liegen auf dem aufgerissenen Straßenpflaster kleine überreife gelbe Mirabellen und eine Menge giftig roter Vogelbeeren. Es sieht herbstlich aus mit den grellbunten Farben, und das Wetter erinnert auch eher an einen warmen Oktober: nicht zu kalt, aber grau und nieselig. Ich passiere die herrliche riesige Bibliothek, erhasche durch eine Seitenstraße schon einen Blick auf das Tor der Werft und bin ein bisschen aufgeregt. Hier haben die Menschen 1970 gegen Preiserhöhungen protestiert, hier hat die Solidarność-Bewegung ihren Anfang genommen. Rechter Hand erreiche ich den Plac Solidarności – den Solidarnośc-Platz mit seinem überdimensionalen Denkmal in Form einer hohen Säule.


Es wurde schon 1980 errichtet und ist eindrucksvoll in seinem Detailreichtum, der trotzdem der Schlichtheit keinen Abbruch tut. In seiner schmalen schlanken Höhe fügt es sich in die Stadtsilhouette mit den vielen Kränen ein. Auf der einen Seite steht ein Gedicht von Czesław Miłosz: 

Który skrzywdziłeś człowieka prostego
Śmiechem nad krzywdą jego wybuchając,
 

Nie bądź bezpieczny. Poeta pamięta.
Możesz go zabić – narodzi się nowy.
Spisane będą czyny i rozmowy.

Mein Versuch einer nicht ganz linearen deutschen Übersetzung:

Der du einem einfachen Menschen Unrecht getan hast,
ein Lachen über sein Leid auf dem Gesicht,
sei dir nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer wird geboren.
Geschrieben werden die Taten und Worte.

Der Wind braust mir um die Ohren, es ist kalt und ich bin zweifelsohne in Ostsee-Nähe. Vor mir die Wand mit Marmortafeln zum Gedenken an diejenigen, die 1970 durch die Gewalt der Polizei umgekommen sind. Rechts von mir das Tor zur Werft, die früher Lenin-Werft hieß und heute wieder Danziger Werft, Stocznia Gdańska. Mir wird klar, wie wichtig Danzig tatsächlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen ist, wie stark die großen Ereignisse hier verwurzelt sind. In Krakau atmet man auch Geschichte, aber Mittelalter, k.u.k. Monarchie und Avantgarde sind dort präsenter als Zweiter Weltkrieg und Sozialismus. Hier, in Danzig, kommt man weder am einen noch am anderen vorbei. Ich beschließe, später zur Westerplatte zu fahren – davon werde ich später berichten. Erst zieht es mich jedoch in den „Vorort der Dichter“, so mein Reiseführer, nach Wrzeszcz, zu deutsch Langfuhr.

Mit der Straßenbahn ist Wrzeszcz leicht zu erreichen. Ich steige an der Aleja Mickiewicza aus – ach, eine Straße dieses Namens gibt es doch in jeder polnischen Stadt, ich bin froh, ich bin in einem fremden Land, in dem ich mich nicht fremd fühle, und ich bin glücklich, dass ich solche Orte habe. Durch unspektakuläre Straßen laufe ich auf der Suche nach dem einen Ort – da ist es, das Geburtshaus von Günter Grass, in dem auch der Protagonist der Blechtrommel, Oskar Matzerath wohnt.


Ein kurzes Zitat aus der Blechtrommel steht auf einer Plakette am Haus, es ist grau und hässlich verputzt, und trotzdem stehe ich kurz andächtig davor und frage mich, ob mein Großvater vielleicht in einem ähnlichen Haus in Danzig geboren und aufgewachsen ist.
Ein Stückchen die Straße hinunter gibt es einen kleinen Platz. Da sitzt er auf einer Bank, mit stummem Blick und seinem Instrument: Oskar Matzerath höchstpersönlich. Ich setze mich auf eine Zigarette neben ihn. Gesprächig ist er nicht – schade. Ich würde gerne von ihm hören, wo ich noch hinlaufen soll in Wrzeszcz.


Ich schließe meinen Ausflug in die Vorstadt mit einem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche. Leider ist sie zu, ich kann nur durch die Gitterstäbe ins innere schauen. Leise singe ich ein polnisches Kirchenlied. Roter Backstein, herrliche Rundbögen, weiße Wände und ein ganz besonderes Licht. Ich muss nicht zum ersten Mal an Lübeck und Greifswald denken. Die hanseatische Vergangenheit, sie trägt sicherlich dazu bei, dass ich Gdansk schon jetzt lieben gelernt habe.

Kraków

Als ich das erste Mal nach Kraków kam, war ich seit 13 Jahren nicht in Polen gewesen, lernte aber schon seit fast 2 Jahren die Sprache. Ich war aufgeregt und neugierig auf dieses Land, von dem ich nurmehr dunkle Erinnerungen an einen Kindheitsurlaub in mir trug, von dem ich mich aber doch entschieden hatte, es durch das Studium der Polonistik zu einem Teil meines Lebens zu machen. Damals stieg ich aus dem Bus vom Flughafen aus, direkt an den Planty, und lief den Kirchtuermen nach ich die Richtung, in der ich die Innenstadt vermutete. Mein Weg fuehrte mich ueber die Floriańska direkt auf den Rynek, den grossen Hauptmarkt. Meine Beine trugen mich, als kennten sie den Weg, als seien sie ihn schon hundertmal gelaufen. Maechtig ueberfiel mich ploetzlich das Gefuehl, als sei ich hier schon einmal gewesen. Ueberall war Musik. Bilder von Kaffeehaeusern mit schweren roten Samtvorhaengen zogen an meinem inneren Auge vorbei, wie ich sie spaeter im Cafe Singer in Kazimierz, dem alten juedischen Teil von Kraków, tatsaechlich erleben sollte. Es war als ob meine Seele die Stadt aus einem frueheren Leben wiedererkannte. Ich war auf eine seltsame Art und Weise nach hause gekommen.
Wenn mich heute Freunde fragen, warum ich diese Stadt so liebe, kann ich es nur mit dieser ersten Erfahrung begruenden. Ohnehin finde ich die Frage jedoch seltsam. Wie kann man Kraków nicht sofort ins Herz schliessen?
Ich komme erneut in Kraków an und die Sonne scheint, als wuerde sie dafuer bezahlt. Mit Paweł und Paulina setze ich mich auf dem Rynek in die Sonne und trinke Kaffee. Spaeter setzen Paulina und ich uns an die Wisła, die Weichsel, die unter dem Schlosshuegel ihre maechtige Kurve zieht und stolz und ruhig an uns vorbeifliesst, als koennte sie niemals grau und wild werden und ueber die Ufer treten. Ueber auf dem Wawel steht das Schloss mit der Kathedrale. Die Schoenheit greift mir ans Herz. Ich habe mich hier wirklich niemals fremd gefuehlt.
Abends gehen wir im Klezmer Hois in Kazimierz juedisch essen. Im Nebenraum beginnt ein Klezmerkonzert. Wir stellen uns in den Tuerrahmen und sehen verstohlen zu. Vor einem dunkelroten filigranen Vorhang mit goldenen Blattornamenten steht ein Kontrabassist, daneben sitzt ein Akkordeonspieler. Die dritte im Bunde ist eine junge Frau mit einer Geige. Sie spielen suess und schwungvoll, lebendig und melancholisch. Hava Nagila. Bei mir bist du scheen. Wenn die Frau ihre Geige absetzt, tut sie es, um die Harmonie der Instrumente um ihre Stimme zu bereichern. Sie ist tief und samten, wie dunkles Holz. Steinerne Saeulen, gehaekelte Spitzendeckchen. Die tiefe Stimme beginnt zu seufzen, hoch und jazzig, wie es im Klezmer sonst die Klarinette tut. Ich will auch seufzen. Kraków, du Zauberstadt.
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