Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.
Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.
Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!
Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.
Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.
Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.
Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.
Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.
Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.
Wien ist wunderbar, aber vor allem wegen Nele und der schönen entspannten Zeit, die wir miteinander verbringen. Die Stadt und ich werden keine besten Freunde mehr, ich halte sie auf Distanz. Sie ist mir zu kühl und zu adrett.
Umso schöner der Tagesausflug nach Bratislava. Die Stadt wirkt kaum wie eine Hauptstadt, zu verschlafen und gemütlich kommt sie daher an diesem Schönwettersonntag. Aber gegen die Abwesenheit von Hektik habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Nele und ich schauen in die Martinskathedrale hinein, dort gibt es ein kostenloses Konzert, ich glaube es ist eine Passion. Herrlich! Anschliessend gehen wir ausgesprochen gut und günstig essen in einem Restaurant, das der Lonely Planet empfiehlt. Um uns herum spricht man trotzdem, Gott sei Dank, nur Slovakisch, es ist also keine Touristenfalle und die Atmosphaere stimmt auch mit Haekelvorhaengen und alten Radios und Schreibmaschinen als Deko. Ich versuche auf Polnisch zu bestellen und das klappt ganz gut.
Und ploetzlich ist schon Montagmorgen und ich steige in Wien an einer der zahlreichen Baustellen, die ein Bahnhof sein wollen, wenn sie gross sind, in den Zug nach Budapest. Drei Stunden dauert die Fahrt, jetzt ist es endlich so richtig losgegangen!
Am Keleti Bahnhof steige ich aus, das Gebaeude ist wunderschön und alles ist aufregend. Es ist ein Kopfbahnhof, und zwischen Gleisende und Absperrung spielen alte Maenner Schach. Das Wetter ist fast sommerlich warm und es herrscht ein buntes Treiben. Ich gebe meinen Rucksack in die Gepaeckaufbewahrung und stiefele los.
Als erstes lande ich, eher zufaellig, im juedischen Viertel. Die Synagoge ist von aussen herrlich, aber es ist voll und teuer und das Wetter ist zu schön um drinnen zu sein. Ich laufe also weiter und erkunde Pest von allen Seiten. Viele hübsche Ecken gibt es, und ich bin ganz angetan. Mehr oder minder plötzlich stehe ich auf dem Szabadsag ter, der umrahmt ist von herrlichen Gebaeuden, und meine Begeisterung waechst – und dann taucht das Parlament auf und ich kann mich kaum noch halten. Der Reichstag wirkt wie eine schlecht gestrichene Streichholzschachtel dagegen.
Mir faellt auf wie lange ich nicht mehr in einem Land war, in dem ich die Sprache kein bisschen verstehe. Ich habe noch nicht mal eine Ahnung, wie man irgendwas aussprechen könnte. Was die Leute reden ist mir ein völliges Raetsel. Heute, drei Tage spaeter, habe ich mich schon ein bisschen daran gewöhnt, ich spreche jetzt in der Metro dem Ansager die Stationen nach um ein Gefühl für die Sprache zu bekommen, aber es ist so unfassbar anders, dass es mich manchmal etwas anstrengt. Dunkel fühle ich mich an die Zeiten erinnert, in denen das Polnische mir genauso fremd war. Wie schön, dass das vorbei ist!
Nun, ich fahre also abends zu meinen Gastgebern zur ersten Couchsurfing-Erfahrung, ich habe lange niemanden gefunden und Melinda und Laszlo haben sich sehr kurzfristig bereit erklaert, mich aufzunehmen – die beiden sind entzückend und wahnsinnig hilfsbereit und freundlich. Sie müssen die ganze Woche sehr viel arbeiten, aber ich bekomme haufenweise Hinweise auf lohnenswerte Aktivitaeten.
Am naechsten Morgen stehen wir alle frueh auf, da ich keinen Schlüssel habe muss ich mit den beiden das Haus verlassen. Ich erkunde tagsüber das Parlament von innen – für EU-Bürger ist das kostenlos. Besonders gefallen mir die Zigarrenhalter vor den Plenarsaelen und die Tatsache, dass sich der Securitymann am Eingang von dem Hinweis auf das Messer in meiner Tasche (sowas muss man als Backpacker ja dabei haben) kein bisschen beeindrucken laesst. Ich schaue mir auch die Stephanskathedrale an und gehe nachmittags mit einem ungarischen Maedchen, das ich ebenfalls über Couchsurfing kontaktiert habe, zum Schloss hoch. Es ist ein sehr netter Nachmittag mit angeregten Diskussionen.
Heute schliesslich war ich früh am Heldenplatz und dann im Haus des Terrors, einem Museum über die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nationalsozialisten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, und den Soviet-Terror in Ungarn. Museumspaedagogisch erinnert es mich hier an das Museum zum Warschauer Aufstand in Warschau, es ist sehr interaktiv und emotional aufgezogen. Ich lasse mich darauf nicht mehr so stark ein wie früher vielleicht. Ich habe aber auch sachlich einiges mitgenommen, denn ich war so firm zuvor in ungarischer Geschichte nicht. Am fruehen Abend bin ich in einem kostenlosen Konzert im Palast der Kuenste und geniesse anschliessend das Sonnenuntergangs-Panorama auf dem Gellert-Hügel.
Untermalt werden diese vielen kulturellen Eindrücke natürlich von den zugehörigen Kleinigkeiten – zum Beispiel das Geraeusch der Krankenwagen. Es klingt wie ein Laser-Maschinengewehr in einem Computerspiel, das einen besonders scheusslichen Ork töten soll. Oder die roten Postkaesten. Oder die Computertastatur, auf der es ü und ö gibt, aber keinen a-Umlaut, dafür ł und Ł, obwohl die Ungarn das nicht brauchen. Oder der kurze Ausflug in die Markthalle, wo es so wahnsinnig gut duftet nach Gemüse, Gewürzen, frischem Fleisch und ganz viel Knoblauch und Paprika. Diese Kleinigkeiten werden sich noch weiter zu einem Ungarn-Gesamteindruck zusammenfügen. Denn noch ist ja Ungarn nicht abgeschrieben: Morgen geht es erstmal nach Kecskemet, und dann nach Pecs und an den Balaton. Ich hoffe zum Beispiel noch auf ein zünftiges Gulas und auf den ersten Titel in meinem Lieder-Repertoire, das ich mitbringen soll. Da gibt es noch viel zu tun. Also: Szia!
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