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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: seat of government

Tallinn II – Stadterkundungen mit dem Fahrrad

Um 16 Uhr geht auf dem Harju-Hügel die Fahrradtour los. Unser Guide ist eine ausgesprochen hübsche Studentin namens Epp. Bevor ich mir auf die Zunge beißen kann, habe ich schon nachgefragt: „As in an iPhone?“ Sie lacht: „Yes, like an iPhone App, only spelled with an E.“ „How often do you hear that question?“ grinse ich. „Only every day. It’s ok. I’m your tourist app for this afternoon, ask me anything.“ Ihr Lachen ist so herzlich und ihre Augen so offen und klar, dass wir uns in ihrer Anwesenheit sofort wohlfühlen. Außer Wiebke und mir ist noch ein sympathischer Neuseeländer, Ian, dabei. Wir schwingen uns auf die Räder und rattern über das altstädtische Kopfsteinpflaster in Richtung Wasser.
Unsere erste Station ist ein Denkmal kaum außerhalb der Stadtmauern, das mich an das Denkmal am Platz der Luftbrücke in Berlin erinnert: Ein abgebrochener großer Bogen. Es soll an die gesunkene MS Estonia erinnern, deren Untergang 1994 das schwerste Schiffsunglück der Nachkriegsgeschichte in Europa markiert. Epp bemerkt, dass fast jeder Este mindestens einen Verunglückten kannte und dass es sich so kurz nach der wiedererlangten Unabhängigkeit nicht besonders angenehm angefühlt hat, dass ein Schiff mit dem Namen des eigenen Landes gesunken war. Ich mag ja eigentlich Symbolik, aber bei solchen Dingen habe ich oft das Gefühl, dass sie übertrieben wird. Immerhin ist Estland ja noch da und schlägt sich, soweit ich das beurteilen kann, ganz gut. Das erste Schiff, das damals zur Rettung eilte und Schiffbrüchige bergen konnte, hieß übrigens wie ich: Mariella.
Wir fahren weiter an einigen ganz klassischen Plattenbauten vorbei. Epp macht wieder Halt und sagt ein paar Sätze dazu. Wiebke und ich nicken wissend; dass die Wohnungen in den Häusern alle gleich geschnitten waren und man sich überall zurecht finden kann, auch wenn man noch nie in genau diesem Gebäude war, das wissen wir – ich aus meiner Greifswalder Zeit und von meinen beruflichen Recherchen, Wiebke deswegen, weil sie gebürtig aus Potsdam kommt. Mir ist das in Berlin auch schon oft aufgefallen, wenn ich Couchsurfer oder Freunde zu Besuch hatte: Man muss alles, was mit Geschichte zu tun hat, sehr zielgruppenorientiert verpacken. Der Neuseeländer hat natürlich zu einer sozialistischen Vergangenheit viel weniger Bezug als wir.
Nun bewegen wir uns langsam aus der Stadt heraus und landen endlich in Kadriorg oder Catherinethal, einem Stadtteil mit wunderschönen kleinen Holzhäusern und grünen Alleen. Zunächst bleiben wir am Wohnhaus von Anton Hansen Tammsaare stehen, einem großen estnischen Realisten und Existenzialisten. Mich kann man mit Schriftstellern natürlich immer ködern, aber Epp spricht so lebendig über sein Leben und sein Werk, dass vermutlich auch ein Bücherwurm Lust bekäme, sein Monumentalwerk „Wahrheit und Gerechtigkeit“ zu lesen. Es hat allerdings fünf Bände.
Nun fahren wir durch einen bezaubernden Park, in dem uns Epp die Grundzüge estnischer Geschichte erklärt. Ich begreife endlich ein bisschen besser, was es mit den deutschen Einflüssen auf sich hat: Überall im Baltikum haben im Mittelalter die Kreuzritter versucht, die heidnischen Stämme zu christianisieren; und da sie zuhause meist schlechter gestellt waren als hier, sind sie geblieben – und auch wenn Estland nie zu einem deutschen Staat gehört hat, waren die Deutschen immer präsent und haben als Baltendeutsche die Kultur mitgeprägt. Die Esten selbst sind dagegen immer Bauern gewesen, und im 19. Jahrhundert, als das nationale Erwachen in ganz Europa um sich griff, begannen auch hier einige kluge Menschen, sich weiterzubilden und für einen estnischen Staat zu streiten. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Region zum Russischen Reich. An den Ersten Weltkrieg schloss sich dann ein Unabhängigkeitskrieg an und 1920 gewann Estland seine Unabhängigkeit und existierte zum ersten Mal als eigenständiger Staat. Dann kamen, wie in den anderen baltischen Staaten auch, die Russen, dann die Deutschen, dann wieder die Russen, und seit 1991 ist Estland da, wo es eigentlich schon vor 150 Jahren sein wollte. Die Geschichte des estnischen Staates ist nicht lang. Die seines Volkes schon.
Wir beobachten den Wachwechsel am Präsidentenpalast. Kaum Zäune, auch keine Besucher, alles sehr verschlafen und hübsch. Wir stehen zu viert da und unterhalten uns darüber, was es für ein lästiger Job sein muss, hier mehrere Stunden zu stehen und sich zu langweilen; und wir sprechen lange über kulturspezifische Vorstellungen von Sicherheit. Undenkbar, das man sich z.B. in den USA so nah vor das Weiße Haus stellen könnte; und in Berlin am Reichstag werden die Sicherheitsvorkehrungen meines Wissens auch immer umfangreicher. Epp erzählt, dass die Enkeltöchter des Präsidenten im Palast mal eine riesige Party gefeiert haben, als der Präsident nicht da war. Der Zugangscode für das Tor hatte vorher per SMS die Runde unter den jungen Leuten in Tallinn gemacht, und die Einrichtung sei hinterher recht ramponiert zurückgelassen worden. Unvorstellbar, aber sympathisch. Sowas passiert schonmal, wenn man Enkeltöchter hat.
Wir sprechen auch über die Preise in Tallinn und über die Krise. Laut Epp hat die Krise in Estland nur mäßig zugeschlagen, es seien sehr früh Gehälter gekürzt und Einsparmaßnahmen gemacht worden. Die Esten beschwerten sich auch über solche Dinge nicht. Nur bei einer Frage seien mal Leute auf die Straße gegangen: Als es um das ACTA ging. Epp sagt: „We are an E-country. You can cut our wages, you can raise the prices, but don’t touch our internet!“ Manchmal muss man eben Prioritäten setzen.
Nun fahren wir ein etwas längeres Stück mit dem Fahrrad zum Song-Festival Gelände. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Erwachen entstand das estnische Sängerfest schon im 19. Jahrhundert. Die Anlage ist für die Festivals im heutigen Ausmaß Ende der 1950er Jahre gebaut worden. Alle fünf Jahre singen hier Chöre, gemeinsam kommt der Festivalchor auf bis zu 30.000 Mitglieder. Wir stehen unter der großen Kuppel, Epp spricht nochmals von der Singenden Revolution, von der Bedeutung, die die traditionelle Musik für ihr Land und seine Unabhängigkeit gespielt hat, und ich bin gerührt. Wie wunderbar, wenn sich Menschen durch Musik von Gewaltherrschaft befreien können! Es hört sich natürlich alles sehr romantisch an, und man vergisst die politischen Begebenheiten dabei, aber hier mag ich sie wieder, die große, bewegende Symbolik. An der Seite der Anlage ist eine Plakette, dort steht der Text eines der wichtigsten estnischen Volkslieder, mit dem das Sängerfest traditionell beendet wird. Ian, Wiebke und ich lesen Teile davon vor, Epp muss lachen. Ian hat natürlich die größten Schwierigkeiten, Wiebke und mich, sagt sie, hätte man gut verstehen können. Es hört sich doch sehr skandinavisch an, als sie es nun vorliest, und ist an manchen Stellen dem Deutschen auch sprachverwandt. Epp gibt uns später die Internetseite für Busfahrpläne zur weiteren Planung unserer Reise – sie lautet www.bussireisid.ee, wie niedlich das klingt!
Über den Weg am Rand der Rasenfläche fahren wir auf den Hügel. Von oben sieht die Anlage noch imposanter aus. Ich versuche mir vorzustellen, wie hier alles voller Menschen ist, und wie Musik die klare blaue Sommerluft erfüllt. Es muss unbeschreiblich sein. Eine von den Parkbänken hat Lautsprecher eingebaut – da kommt das Lied, von dem wir eben unten noch sprachen, „Mu isamaa on minu arm“, Mein Vaterland ist meine Liebe. Es hat diese ursprüngliche, getragene Macht und ist wunderschön. Ein Video vom Sängerfest 2004 gibt es hier.
Zum Abschluss geht es noch zum sowjetischen Ehrenmal am Ostseeufer. Die Aussicht hinüber auf das Stadtzentrum über die graublauen Fluten ist weit, offen und herrlich. Der Wind weht, und ich fühle mich aufgehoben in dieser winzigen internationalen Gruppe von liebenswerten Menschen, während mein Blick über die Landschaft schweift. Das Mahnmal selbst ist von jener faschistischen Ästhetik, die man nicht schön finden kann und deren imposantem Eindruck man sich doch nicht entziehen kann. Der Weg zurück in die Stadt führt noch an der Rusalka vorbei, einem Denkmal, das auf fast jeder Ansichtskarte von Tallinn zu sehen ist – Rusalka ist russisch und bedeutet Meerjungfrau, auch diese Statue erinnert an ein Schiffsunglück, aber die Urban Legend behauptet, es handele sich um Lenin mit Flügeln, wie Epp und augenzwinkernd berichtet.  Die Esten haben Humor, das ist nicht zu leugnen.
Unter strahlend blauem Himmel kommen wir wieder am Harju-Hügel an. Wir verabschieden uns voneinander wie alte Freunde. Europa wird immer kleiner, und ich freue mich an dem Gefühl, dass dieses Konzept, dieses Europa, das wir nun seit etwas mehr als 20 Jahren aufbauen und mit dem aufzuwachsen ich das große Glück hatte, uns solche Glücksmomente schenken kann wie diesen Nachmittag.

London – St. James’s Park, Westminster und Trafalgar Square

Mein Blog hieß zwar bis vor Kurzem „Unterwegs nach Osteuropa“, aber ich kann es unmöglich bleiben lassen, meinen ersten England-Aufenthalt zu beschreiben. Namen sind Schall und Rauch, und meine geneigte Leserschaft möge es mir verzeihen, wenn ich Osteuropa in Zukunft um den Rest der Welt erweitere. Gleichzeitig ist es schwierig, über einen Ort wie London zu schreiben, den so viele so viel besser kennen als ich. Während meines Aufenthalts bemerke ich jedoch, dass ich dankbar dafür bin, London jetzt zum ersten Mal und ganz neu zu entdecken – um es mit Matisse zu sagen: Man darf nicht verlernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Das geht mir leicht von der Hand in London, ich staune und habe das Gefühl, dass ich von morgens bis abends kugelrunde große Augen mache, die gar nicht genug sehen können von all dem, was mich umgibt.

Chaotische Tage liegen hinter mir, als ich in London aus dem Flieger klettere. 48 Stunden vorher war ich noch in Zagreb und stand in der heißen Morgensonne vor dem imposanten Bahnhofsgebäude. Nun fährt mich ein Bus durch eine sanfte grüne Landschaft, die ich sofort bereit bin, unglaublich englisch zu finden. Schuld sind Jane-Austen- und, oh Schreck, Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen. Der Cockney-Akzent des Busfahrers trägt  ebenfalls zu meiner guten Laune bei. Mein amerikanisches Englisch kommt mir fehl am Platz vor, aber umso lieber höre ich darauf, was die Menschen um mich herum erzählen – nicht wegen der Inhalte, nur wegen des Klangs. Die Umgebung wird schließlich städtischer, wir müssen schon auf Londoner Stadtgebiet sein und ich habe es gar nicht bemerkt. Wir fahren durch Hempstead, überall stehen hebräische Schriftzüge an den Läden, viele jüdische kleine Läden und Delis und das London Jewish Cultural Center ziehen am Fenster vorbei. Jüdische Viertel haben für mich bisher irgendwie hauptsächlich nach Osteuropa gehört. Weiter geht die Fahrt, nun richtig in die Stadt hinein – Baker Street, Marble Arch, endlich Victoria Train Station. Ich steige aus und bin ein bisschen aufgeregt. Langsam wird mir klar, dass ich wieder eine neue Grenze überschritten habe. Ich bin zum ersten Mal in einem neuen Land. Wie ich dieses Gefühl liebe!

Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich  am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.

Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.

Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.

Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.

Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.

Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.

Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.

Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.

Wien / Bratislava / Budapest

Man haette ja auch fliegen können. Aber Zugfahren erlaubt es, so richtig Abstand zu bringen zwischen den Ort, den man verlaesst, und den, zu dem man reist. Im Übrigen ist so eine Bahnfahrt von Berlin nach Wien doch sicherlich immer für eine Überraschung gut und überdies unschlagbar günstig. Ich steige morgens um halb 9 in Berlin in den Zug und – schwupps! – zehn Stunden spaeter bin ich in Wien. Dazwischen liegt ein Abenteuer: Ich teile eine Sitzgruppe im Grossraumwagen mit einer sechsköpfigen bosnischen Familie, Mama und fünf Söhne, der aelteste so um die 15, die jüngsten Zwillinge von etwa 4 Jahren – halleluja! Wenn ich nicht aufgeregt gewesen waere und ausgesprochen gut gelaunt, haette mich nach etwa einer halben Stunde der Geruch von warmgewordenen Milchprodukten aus der riesigen Provianttüte tödlich genervt, und das Geschrei der Zwillinge erst recht. Ich bin aber gut gelaunt, und laechle die arme Mutter immer wieder an, damit sie kein schlechtes Gewissen hat. Dafür bietet sie mir spaeter in gebrochenem, aber ausgesprochen charmantem Deutsch Waffeln an. Jetzt freue ich mich noch mehr auf Bosnien!

Wien ist wunderbar, aber vor allem wegen Nele und der schönen entspannten Zeit, die wir miteinander verbringen. Die Stadt und ich werden keine besten Freunde mehr, ich halte sie auf Distanz. Sie ist mir zu kühl und zu adrett.
Umso schöner der Tagesausflug nach Bratislava. Die Stadt wirkt kaum wie eine Hauptstadt, zu verschlafen und gemütlich kommt sie daher an diesem Schönwettersonntag. Aber gegen die Abwesenheit von Hektik habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Nele und ich schauen in die Martinskathedrale hinein, dort gibt es ein kostenloses Konzert, ich glaube es ist eine Passion. Herrlich! Anschliessend gehen wir ausgesprochen gut und günstig essen in einem Restaurant, das der Lonely Planet empfiehlt. Um uns herum spricht man trotzdem, Gott sei Dank, nur Slovakisch, es ist also keine Touristenfalle und die Atmosphaere stimmt auch mit Haekelvorhaengen und alten Radios und Schreibmaschinen als Deko. Ich versuche auf Polnisch zu bestellen und das klappt ganz gut.

Und ploetzlich ist schon Montagmorgen und ich steige in Wien an einer der zahlreichen Baustellen, die ein Bahnhof sein wollen, wenn sie gross sind, in den Zug nach Budapest. Drei Stunden dauert die Fahrt, jetzt ist es endlich so richtig losgegangen!
Am Keleti Bahnhof steige ich aus, das Gebaeude ist wunderschön und alles ist aufregend. Es ist ein Kopfbahnhof, und zwischen Gleisende und Absperrung spielen alte Maenner Schach. Das Wetter ist fast sommerlich warm und es herrscht ein buntes Treiben. Ich gebe meinen Rucksack in die Gepaeckaufbewahrung und stiefele los.
Als erstes lande ich, eher zufaellig, im juedischen Viertel. Die Synagoge ist von aussen herrlich, aber es ist voll und teuer und das Wetter ist zu schön um drinnen zu sein. Ich laufe also weiter und erkunde Pest von allen Seiten. Viele hübsche Ecken gibt es, und ich bin ganz angetan. Mehr oder minder plötzlich stehe ich auf dem Szabadsag ter, der umrahmt ist von herrlichen Gebaeuden, und meine Begeisterung waechst – und dann taucht das Parlament auf und ich kann mich kaum noch halten. Der Reichstag wirkt wie eine schlecht gestrichene Streichholzschachtel dagegen.
Mir faellt auf wie lange ich nicht mehr in einem Land war, in dem ich die Sprache kein bisschen verstehe. Ich habe noch nicht mal eine Ahnung, wie man irgendwas aussprechen könnte. Was die Leute reden ist mir ein völliges Raetsel. Heute, drei Tage spaeter, habe ich mich schon ein bisschen daran gewöhnt, ich spreche jetzt in der Metro dem Ansager die Stationen nach um ein Gefühl für die Sprache zu bekommen, aber es ist so unfassbar anders, dass es mich manchmal etwas anstrengt. Dunkel fühle ich mich an die Zeiten erinnert, in denen das Polnische mir genauso fremd war. Wie schön, dass das vorbei ist!
Nun, ich fahre also abends zu meinen Gastgebern zur ersten Couchsurfing-Erfahrung, ich habe lange niemanden gefunden und Melinda und Laszlo haben sich sehr kurzfristig bereit erklaert, mich aufzunehmen – die beiden sind entzückend und wahnsinnig hilfsbereit und freundlich. Sie müssen die ganze Woche sehr viel arbeiten, aber ich bekomme haufenweise Hinweise auf lohnenswerte Aktivitaeten.
Am naechsten Morgen stehen wir alle frueh auf, da ich keinen Schlüssel habe muss ich mit den beiden das Haus verlassen. Ich erkunde tagsüber das Parlament von innen – für EU-Bürger ist das kostenlos. Besonders gefallen mir die Zigarrenhalter vor den Plenarsaelen und die Tatsache, dass sich der Securitymann am Eingang von dem Hinweis auf das Messer in meiner Tasche (sowas muss man als Backpacker ja dabei haben) kein bisschen beeindrucken laesst. Ich schaue mir auch die Stephanskathedrale an und gehe nachmittags mit einem ungarischen Maedchen, das ich ebenfalls über Couchsurfing kontaktiert habe, zum Schloss hoch. Es ist ein sehr netter Nachmittag mit angeregten Diskussionen.
Heute schliesslich war ich früh am Heldenplatz und dann im Haus des Terrors, einem Museum über die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nationalsozialisten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, und den Soviet-Terror in Ungarn. Museumspaedagogisch erinnert es mich hier an das Museum zum Warschauer Aufstand in Warschau, es ist sehr interaktiv und emotional aufgezogen. Ich lasse mich darauf nicht mehr so stark ein wie früher vielleicht. Ich habe aber auch sachlich einiges mitgenommen, denn ich war so firm zuvor in ungarischer Geschichte nicht. Am fruehen Abend bin ich in einem kostenlosen Konzert im Palast der Kuenste und geniesse anschliessend das Sonnenuntergangs-Panorama auf dem Gellert-Hügel.

Untermalt werden diese vielen kulturellen Eindrücke natürlich von den zugehörigen Kleinigkeiten – zum Beispiel das Geraeusch der Krankenwagen. Es klingt wie ein Laser-Maschinengewehr in einem Computerspiel, das einen besonders scheusslichen Ork töten soll. Oder die roten Postkaesten. Oder die Computertastatur, auf der es ü und ö gibt, aber keinen a-Umlaut, dafür ł und Ł, obwohl die Ungarn das nicht brauchen. Oder der kurze Ausflug in die Markthalle, wo es so wahnsinnig gut duftet nach Gemüse, Gewürzen, frischem Fleisch und ganz viel Knoblauch und Paprika. Diese Kleinigkeiten werden sich noch weiter zu einem Ungarn-Gesamteindruck zusammenfügen. Denn noch ist ja Ungarn nicht abgeschrieben: Morgen geht es erstmal nach Kecskemet, und dann nach Pecs und an den Balaton. Ich hoffe zum Beispiel noch auf ein zünftiges Gulas und auf den ersten Titel in meinem Lieder-Repertoire, das ich mitbringen soll. Da gibt es noch viel zu tun. Also: Szia!