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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: Eastern Europe (Seite 7 von 9)

Rīga / Riga

In Riga steigen wir am Freiheitsdenkmal aus und laufen durch die Altstadt zur Daugava, dem grossen Fluss, der die Stadt durchzieht. Ein richtiger, anständiger Strom, wie es Flüsse nur dann sind, wenn sie wenig später ins Meer münden. Mit dem Bus fahren wir zurück zu Martin, nur um gleich wieder aufzubrechen in die so genannte Ruhige Altstadt zum Abendessen in einem wunderbaren Restaurant mit dem auch in Übersetzung hübschen Namen „Fliegender Frosch“. Anschliessend trinken wir ein Bier in einer Kellerkneipe mit einer Liveband, die Folkmusik spielt. Martin bestellt Knoblauchbrot. Serviert wird dunkles Schwarzbrot in dicken Stiften, in Knoblauch und Oel eingelegt und dann angebraten, knusprig und noch warm mit Joghurtdip – himmlisch. Auf dem Weg zum Restaurant, von dort zur Kneipe und schliesslich auch nach hause hat Martin an jeder Ecke etwas zu erzählen über die Geschichte der Stadt und über sein Leben dort. Nach vier Jahren kennt er Riga wirklich gut, und man merkt die Liebe zu seiner Wahlheimat jedem seiner Worte an. 

Am nächsten Morgen schlafen wir aus, irgendwann geht Martin Frühstück holen in einer Beķereja. Das ķ spricht man tj, Betjereja also. Da klingt das Wort beim Reden nicht wie das deutsche „Bäckerei“, aber es sieht so aus, nur niedlicher, und weil ich es am Beispiel von Martins Stammbäckerei lerne, wird das Wort für mich zum Synonym für das beste Frühstück der Reise. Die Käsecroissants haben nicht etwa nur ein bisschen Käse oben drauf, sondern sind großzügig damit gefüllt. Die Creme in den Karamellcroissants ist süß und dick und ergänzt sich so herrlich mit dem luftigen, zarten Blätterteig. Der Kuchen ist gar nicht zu beschreiben, er hat so viele Schichten und eigentlich kann ich morgens gar nicht so viel essen, aber es schmeckt so gut. 
Wir fahren anschliessend mit dem Zug nach Jūrmala an den Ostseestrand. Auf dem Weg von der kleinen Bahnstation durch das Städtchen an den vielen Souvenirständen und Touristenfallen vorbei sprechen fast alle Menschen Russisch. Erst Martin weist uns darauf hin, als er nach einer Weile sagt, er habe noch kein Wort Lettisch gehört. Danach fällt es mir auch auf. Hier kommen wohlhabende Russen zum Urlaubmachen hin. Auf der anderen Seite gibt es die grosse russische Minderheit, die so viel mit Primitivität, Alkohol, Kriminalität und Armut assoziiert wird. Eine schlimme Schere, die da aufgeht. Endlich kommen wir über die kleine Düne zum Strand. 

Es ist der erste Blick auf die Ostsee auf dieser Reise, es ist windig und das Meer braust ungestüm vor uns. Ich muss zumindest einmal die Füße ins Wasser halten, obwohl es ziemlich kalt ist. Aber als das Salzwasser meine Knöchel umspült, freue ich mich wie ein kleines Mädchen. Die Ostsee. Sie ist mein Zuhause-Meer. Eine Weile stapfen wir durch den feinen weissen Sand am Wasser entlang, der Wind pustet uns um die Nasen und wir sind ganz froh, dass wir gegen den Sturm unsere Regenjacken angezogen haben, die uns warm halten. Einen freien, klareren Kopf hat mir so ein Ostseespaziergang noch immer beschert. 

Nach einem kleinen Mittagsschlaf fahren wir gegen Abend mit dem Bus zu einer Freundin, bei der wir im Garten grillen. Alle, die dort sind, gehören wie Martin, Wiebke und ich dem Ehrenamtlichen-Netzwerk von YFU an. Ieva aus Litauen, die uns in Vilnius beherbergt hat, ist extra angereist. Alle anderen sind Letten. Die Gastgeberin des Abends, sie heisst ebenfalls Ieva, hat mit ihrer Familie erst vor Kurzem das Haus in der ruhigen und hübschen Nachbarschaft bezogen. Auf die Frage danach, wie die Nachbarn so sind, antwortet sie zuerst, dass es sich um Letten handelt. Für Wiebke und mich ist das seltsam. Uns wird aber versichert, dass das eine wichtige Information ist, man hätte mit den Russen nur Unruhe in der Nähe; Lärm, Parties, Alkohol. Das bringt mich dazu, über Stereotypen nachzudenken. Sie klingen so vorurteilsbehaftet, diese Sätze, und ich bin mir doch ganz sicher, dass alle Anwesenden ihre Aussagen auf eigenen Erfahrungen aufbauen. Vorurteile entstehen leider nicht von ungefähr, und sicher können alle diese Menschen ihre Vorurteile beseite lassen, wenn sie jemanden kennen lernen, der sie vom Gegenteil überzeugt. Aber sie werden ihn als Ausnahme einstufen, weil sie eine andere Regel gelernt haben, und es ist schwer, eine neue Regel, eine neue Norm durchzusetzen. Es ist auch schwer, solche gesellschaftlichen Spaltungen wie die zwischen Letten und Russen zu überwinden, in denen die einen zu den anderen kaum Kontakt haben. Über dem guten Essen und dem lustig lodernden Lagerfeuer bleiben wir aber nicht bei ernsten Themen. Es ist ein fröhlicher, schöner Abend mit herzlichen, liebenswerten Menschen. 
Am naechsten Morgen treffen wir uns alle nochmal am Freiheitsdenkmal und laufen durch die Altstadt. Der Turbokapitalismus hat auch hier zugeschlagen, es gibt sehr viele stylische Kneipen und einige Werbeplakate auf englisch. Gleichzeitig ist die Altstadt gespickt mit wunderschönen Gebäuden. Gegründet durch einen Bremer Bischoff erinnert mich Riga tatsächlich an Bremen, es gibt sogar einen Roland und eine Statue der Bremer Stadtmusikanten wie vor dem Bremer Rathaus. Leider können wir wegen des Gottesdienstes nicht in den Dom, der von außen eingerüstet ist und dessen imposante Schönheit auf dem großen Domplatz deshalb nicht ganz zur Geltung kommen kann. Das Erbe der Hanse ist an allen Ecken spürbar, vielleicht besonders für ein Hansestadtkind wie mich. Von unbeschreiblicher Schönheit ist das Melngalvju nams, das Schwarzhäupterhaus am Rathausplatz, (lettisch Rātslaukums). 
Backsteingotik von solcher Pracht, dass man die hanseatischen Kaufleute praktisch noch ein- und ausgehen sieht.
Zu einem Ende kommt unser Stadtbummel außerhalb der Altstadt, die laut unseren lettischen Freunden ohnehin von den Einheimischen nicht oft besucht wird – zu voll, zu teuer, zu touristisch. Ist dies eigentlich das Verhängnis jeder schönen Altstadt Europas? Wir zumindest genießen erst noch das Stadtpanorama von der Riga Terasse auf dem Dach eines edlen Einkaufszentrums.
Dann gehen wir ganz kosmopolitisch zum Mexikaner essen. Nebenher läuft der olympische Marathon. In Litauen und Lettland spielt die Olympiade eine ganz andere Rolle als in Deutschland. Jeder Sport, in dem Chancen auf Medaillen bestehen, wird begeistert verfolgt, jede Medaille frenetisch gefeiert. Bei uns geht die Leistung des Einzelnen oft in der Masse unter. Diskuswerfen habe ich bis in Vilnius noch nie geschaut, und dort nur, weil ein Litauer im Finale stand. Zufällig hat ein Deutscher gewonnen. Das hätte ich sonst niemals zur Kenntnis genommen. Nachdem Lettland im Beachvolleyball Bronze gewann, soll auf google die Suchanfrage „Where is“ durch den Vorschlag „Latvia“ automatisch ergänzt worden sein, weil die Abfrage so häufig gestellt wurde. Dafür sind die Olympischen Spiele da: Ein Land präsentiert der Welt sich und seine Leistung. Ich glaube wir vergessen das häufig.
Schließlich kommt der Abschied von neuen Freunden und der Weg zum Busbahnhof. Heute bringt uns der LuxExpress mit WLAN und kostenlosem Kaffee und Tee nach Tallinn. Estland ist das dreißigste Land in der Reisehistorie meines Lebens. Ich bin ein bisschen aufgeregt.

Erste Eindrücke von Riga und der Gauja-Nationalpark

Im Bus nach Riga werden wir auf deutsch dazu aufgefordert, unsere Dokumente vorzuzeigen, und als wir dann losfahren, macht der Busfahrer die Ansagen auf litauisch, russisch und deutsch. Wiebke vermutet, dass er nur für uns deutsch spricht, darauf wäre ich gar nicht gekommen; aber es ist schon immer erstaunlich, wenn im Ausland jemand so gutes Deutsch spricht. Englisch ist mir zum Kommunizieren im Ausland viel lieber, schließlich handelt es sich dabei meist auf beiden Seiten um eine Fremdsprache, das ist nur fair. Zu erwarten, dass jemand Deutsch kann, kommt mir immer ein bisschen vermessen vor. Zu erwarten, dass jemand Englisch kann, kommt mir ziemlich selbstverständlich vor. Logisch ist das nicht.
In Riga holt uns Martin am Busbahnhof ab. Wiebke kennt ihn durch unser gemeinsames Ehrenamt. In seiner geräumigen Altbauwohnung macht er uns erstmal eine Riesenportion Bratkartoffeln. Abends kommt eine ganze Menge Freunde von ihm vorbei: noch ein anderer Deutscher und eine Horde Letten. Es wird eine gemütliche Studentenparty, die sich über netten Gesprächen und dem ein oder anderen Bier bis in die frühen Morgenstunden hinzieht. Wiebke und ich schlafen irgendwann angezogen auf dem Sofa ein, als ich aufwache hat uns einer der Jungs zugedeckt und die letzten Gäste feiern in der Küche immer noch. Ich denke an meine frühen Studentenjahre, lächle in mich hinein und schlafe wieder ein.
Am nächsten Morgen schläft Martin noch, als wir ein paar Sachen in unseren kleinen Tagesrucksack packen und uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Durch die Altstadt laufen wir zuerst zu Coffee Inn, einer Art baltischem Starbucks mit phantastisch cremigem Käsekuchen und gutem Kaffee. Dort holen wir uns ein kleines Frühstück und suchen dann den Bahnhof. An einer Strassenecke fragt Wiebke den jungen Mann neben uns an der Ampel. Er spricht nur gebrochen Englisch, aber er sagt gleich bereitwillig: „Train station? I go there, I show you.“ Er fragt uns dann auch gleich sehr interessiert, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Ich bewundere es, wenn Menschen Kontakt in einer Sprache suchen, die sie nicht so gut können. Wenn ich mich in einer Sprache nicht sicher fühle, bin ich meistens sehr unsicher und geradezu schüchtern. Der Kerl ist von einer so angenehmen, unaufdringlichen Freundlichkeit, dass die Sprachbarriere gar nicht ins Gewicht fällt. Er zeigt uns Patronenhülsen, die er auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in der Nähe entdeckt haben will. Seine Augen leuchten vor Begeisterung über diesen Fund. Er hilft uns beim Ticketkauf und bringt uns bis zum Gleis, wo er sich sehr höflich verabschiedet.
Im Zug nach Cesis (dt. Wenden) essen wir unsere Brote. Die Vegetation draussen erscheint mir sehr baltisch: sandige Böden, Nadelwälder, Gräser und Strandhafer. Je weiter wir aber ins Landesinnere vordringen, desto mehr Laubbäume bestimmen auch die Landschaft. Es ist mir vertraut, und es berührt mich mehr, als die litauische Landschaft es bisher getan hat.
Am Bahnhof in Cesis versuchen wir, den Fahrplan zu entschlüsseln, aber er ist sehr kryptisch. Eine ältere Dame sitzt mit ihrem vielleicht sechsjährigen Enkel auf der Bank daneben und spricht uns auf lettisch an. Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir nicht nach Riga wollen, sondern nach Sigulda, und auch erst in ein paar Stunden, aber sie spricht kein Englisch – plötzlich beginnt ihr kleiner Enkel meine langsam gesprochenen Sätze mit einer unglaublichen Routine zu übersetzen. Erstaunlich. Vielleicht häufen sich hier die Reflexionen über Sprache, weil ich wieder in einem Land bin, in dem ich die Landessprache kein bisschen verstehen, geschweige denn sprechen kann. Es ist ein anderes Reisen, man muss viel mehr nachfragen, weil man weniger nebenbei aufschnappen kann. Manche Schriftzüge auf Denkmälern photographiere ich, um später jemanden fragen zu können, was dort steht. Und trotzdem entgeht mir so vieles. Ich beschliesse in allen drei Ländern dieser Reise, dass ich die Sprache lernen möchte. Hätte man doch nur mehrere Leben zur Verfügung, um all das unterzukriegen, was man gerne machen möchte.
Wir laufen durch einen hübschen kleinen Park an einem See entlang, ohne den Stadtplan zu entfalten, und wie es in einer so kleinen Stadt zu vermuten war, taucht sie plötzlich auf ihrem Hügel thronend vor uns auf, die Burg von Cesis.

Unten am Parkteich führt ein kleiner Treppenabsatz zum Ufer, der von zwei weissen Statuen gesäumt ist, die sich in Richtung der Burg verneigen. Weiter oben am Hang gibt es eine Freitreppe, auf deren Geländer kleine weisse steinerne Engel Musikinstrumente spielen, als wollten sie den, der die Treppe beschreitet, mit Glanz und Gloria zur Burg geleiten. Alles erinnert ein bisschen an eine Kulisse für Schwanensee. Im Nieselregen wandern wir in unseren leuchtend blauen Regencapes einmal die Burgmauer ab. Graue Feldsteine, rote Backsteine und auf dem Turm des neuen Schlosses die lettische Fahne.

1988 wehte sie zum ersten Mal in ganz Lettland wieder hier. Auch gestern auf der Party ging es darum: Lettland hat gelitten, bevor es seine Unabhängigkeit wieder erlangt hat, und Wiebke findet, dass man den älteren und alten Menschen hier ihr hartes Leben ganz anders ansieht als noch in Litauen. Vielleicht lag es an Vilnius, das sehr herausgeputzt ist. Und mich fasziniert wieder Lettland, wieder ein Land, das eine Schwere mit sich trägt und trotzdem eine lebendige, fröhliche Gegenwart zu gestalten vermag.

Abends fahren wir nach Sigulda. Martin hat uns hier eine Unterkunft bei seinem Freund Karlis besorgt. Er zeigt uns noch auf dem Weg vom Bus ein paar herrliche Ausblicke über das Gauja-Tal, in dem sich der Fluss, eben die Gauja, in der Abendsonne friedlich dahinschlängelt.

Anschliessend gibt es Abendbrot in der Wohnung seiner Eltern in der kleinen Küche. Wir unterhalten uns lange mit seiner Mutter, die Geschichtslehrerin ist, am Baltischen Weg teilgenommen hat und deren Mann 1991 bei den Barrikaden in Riga im Kampf um die lettische Unabhängigkeit teilgenommen hat. Sie erklärt uns, was es mit der Singenden Revolution auf sich hat, im Rahmen derer im Baltikum durch das Singen von traditionellen patriotischen Liedern denr Sowjetmacht der Kampf angesagt wurde. Karlis hat uns schon ein bisschen darüber erzählt, er sagt viel, dass mit militärischen Mitteln ja nichts auszurichten gewesen sei. Aber wieviel schöner ist es auch, wenn ein Land behaupten kann, durch Musik zur Unabhängigkeit gekommen zu sein. Blut hat es bei den Barrikadenkämpfen in allen drei Ländern genug gegeben. Wir schlafen in einem Zimmer in der Zweiraumwohnung, die Familie zu dritt in dem anderen. Die osteuropäische Gastfreundschaft, die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, ich kann mir so etwas in Deutschland kaum vorstellen.

Am nächsten Morgen schüttet und giesst es, dass man kaum vor die Tür gehen mag. Wir nehmen den Bus zur Ordensburg von Turaida, die wir am Abend zuvor schon leuchtend rot in der Ferne auf der anderen Seite des Gauja-Tals entdeckt haben.

Das Gelände ist gross, wegen des Regens können wir es nicht so ausführlich erkunden, wie wir es gerne würden. Wir halten uns deshalb in den Gebäuden der Burg auf, in denen Ausstellungen über die Geschichte der Livländischen Schweiz, in der wir uns befinden, aufklären. Der Blick, ins Land vom Burgturm zeigt schwarze, dampfende Wälder, aus denen dicke Nebelschwaden aufsteigen wie in einem Märchen über einen bösen Zauberer. Die Gauja macht unter uns einen grossen, mächtigen Bogen und ist von fast bleierner Farbe, schwer und beruhigend.

Später, von der Brücke im Tal aus nach dem Abstieg übver die glitschigen Holzstufen, ist die Gauja rot von Eisen, aber sie soll sehr sauber sein. Wir nehmen den Sessellift zurück auf die Höhen von Sigulda. Die Sonne scheint wieder, die Regencapes sind im Rucksack verstaut. Wir besuchen das Neue Schloss mit seinen bunten Farben und die dahinterliegende Schlossruine mit ihrer riesigen Sommerbühne und den hübschen kleinen Aussichtspunkten, die wieder den Blick auf die rote Ordenbsurg von Turaida freigeben.

Sigulda ist ein malerischer Ort voll von Geschichte und von Geschichten. Wir hätten gerne noch etwas mehr Zeit im Sonnenschein gehabt. Zu früh müssen wir zurück zum Bus, der uns wieder in die Grossstadt Riga bringen soll.

Die zwei Tage in der freien Natur, sie waren sehr wichtig für uns. Unsere Körper erholen sich von der Schreibtischarbeit, unsere blassen Gesichter haben etwas Farbe und wir sind froh, dass sich unser Eindruck von Lettland nicht auf Riga beschränken wird. Karlis hat gesagt, dass wir in Sigulda ein Stückchen vom „wahren Lettland“ kennen lernen. Nicht zuletzt dank der privaten Geschichtsstunden bei seiner Mutter mag das wohl stimmen.

Vilnius

Nach einer erfrischenden Dusche laufen Wiebke und ich zurück in die Stadt und immer der Nase nach die hübschen kleinen Straßen hinauf und hinunter. Der Himmel ist weit und blau über den niedrigen Häuserreihen, und die Altstadt scheint sich kilometerweit zu erstrecken – sie gehört zu den grössten Altstädten in Europa. Der Glockenturm der Sankt Johannis Kirche an der Universität strebt majestätisch gen Himmel, und der kurze Blick in den grossen Innenhof eröffnet eine herrliche Aussicht. Hier zu studieren muss sich schon sehr erhaben anfühlen.Wir laufen zur Kathedrale und setzen uns auf ein Mäuerchen auf dem Vorplatz, um uns gegenseitig aus unseren Reiseführern vorzulesen.

Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.

Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.

Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.

Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:

Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.

Der vollständige Text der Verfassung steht hier.

Nach dem Abendessen  sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.

Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.

Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.

Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.

Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.

Olsztyn und Ankunft in Vilnius

In Olsztyn habe ich ein bisschen Zeit, bevor Wiebke ankommt. Ich frage eine ältere Dame am Hauptbshnhof nach dem Bus in die Stadt. Wir kommen ins Schnattern, innerhalb von Minuten hat sie mich zu sich nach Hause eingeladen und mich mit ihrem Bekannten Marek verheiratet. Marek ist 30, Hochschulprofessor und reizend, sagt sie. Zwar könne er kein Deutsch, aber mein Polnisch würde schon reichen. Ich solle ihr ein Photo von mir schicken, die Adresse hätte sie mir ja schon gegeben, sie würde dann alles in die Wege leiten. Sehr amüsant.

Der Markt ist wunderbar, nicht ganz so herausgeputzt wie in anderen Städten. Die Bürgerhäuser tragen teils grauen Putz, teils entschieden sozialistisch-realistische Ornamente, aber das alte Rathaus und die Bibliothek in der Mitte des Platzes glänzen. Rechts ab geht es zur Burg, deren roter Backstein in der Sonne leuchtet. Einen Blick werfe ich auch in den Dom, gerade ist Gottesdienst. Das Vater unser, Ojcze nasz, bete ich mit. Am selben morgen habe ich es noch in Szczytno beim schnellen Blick in die dortige evangelische Kirche mitgesprochen. Mit wie viel mehr Prunk der katholische Gottesdienst in dem riesigen Backsteindom gegenüber dem kleinen weißgelben Kirchlein von morgens daherkommt… Ich gehe beim Friedensgruß. Vor dem Dom läuft ein kleines Mädchen herum und reicht allen die Hand.

Schließlich hole ich Wiebke am Westbahnhof Olsztyn Zachodni ab. Wir essen noch einen Happen auf dem kleineren Platz zwischen Hohem Tor und Markt, dann geht es zum Hauptbahnhof und zum Bus. Nach Suwałki verläuft alles ohne Zwischenfälle, wir verschnacken so die Zeit.

In Suwałki haben wir von 23 bis 2 Uhr Aufenthalt. Ich frage den Herrn an der Bahnhofsaufsicht, ob mit unseren Onlinetickets alles in Ordnung ist und wo der Bus fährt. Er zeigt auf ein rotes Haltestellenhäuschen direkt an der Hauptstraße. Etwas skeptisch Blicke ich auf die etwa 20 schicken, asphaltierten Bussteige des Busbahnhofs. Da sollte der Bus halten, erklärt der Herr, tut er aber nie. Wir müssten jetzt aber ja 3 Stunden warten. Wissen wir. Nun ja, wenn was sei, er sei am Schalter. Wir machen es uns auf einer Bank gemütlich. Alle zwanzig bis dreißig Minuten kommt unser Bahnhofsschutzengel heraus, stellt sich mit seiner Zigarette zu uns und macht einen kurzen Schnack mit mir. Wiebke lässt sich dann hinterher von mir übersetzen, worum es ging: Suwałki ist angeblich die sauberste Stadt Polens, und auf der Hauptstraße fahren täglich 4000 LKWs Richtung Russland und Litauen; Inzwischen gehen wohl mehr Polen nach Deutschland als nach England, er selbst war noch nicht da, aber vielleicht kommt er mal, zum Spargelstechen.
Es wird kälter, ich wickle mich in meinen Rock, Wiebke zieht eine Strumpfhose unter. Da kommt die SMS: 50 Minuten Verspätung. Zwar bin ich begeistert von der Technik, die mich informiert, nicht aber von der Aussicht, noch bis 3 Uhr früh warten zu müssen. Über uns scheppert die Bahnhofsuhr, wenn die Zahlen im digitalen Format umspringen. Die Uhr zeigt auch die Temperatur, aber wie 21 Grad fühlt es sich wahrlich nicht an. Als der Bus endlich zwischen den LKWs auftaucht, sind wir doch sehr froh und schlafen auf unseren Sitzen im Oberdeck sofort ein.
Fast verschlafen wir gut vier Stunden später denn auch den Hauptbusbahnhof in Vilnius. Erst auf Nachfrage bei unseren Sitznachbarn merken wir, dass wir da sind und müssen dann etwas eilig aussteigen. Die Sonne scheint, wir laufen mit unseren Rucksäcken durch das Tor der Morgenröte und weiter zu Ernst & Young, wo wir unsere Gastgeberin Ieva treffen. Sie läuft mit uns durch die Stadt nach Hause zu ihrer niedlichen Altstadtwohnung. Schon auf dem Weg wird mir klar, was der stete Hinweis auf die „barocke Pracht“ in den Reiseführern meint. Es ist geradezu erschlagend, so bunt und sauber und verspielt, wenn auch immer wieder schlichtere Renaissancebauten die schillernden Häuserreihen um ein ruhiges Element bereichern. Zwei Tage hier liegen vor uns, die Sonne scheint und es ist Urlaub.

Szczytno (Ortelsburg) und Pasym (Passenheim)

Im Hotel in Szczytno spricht die Rezeptionistin hervorragendes Deutsch. Meine Mutter macht sie auf den Geburtsort im Pass meines Vaters aufmerksam – sie lächelt und sagt routiniert freundlich: „Ja, ich sehe schon.“ Wahrscheinlich passiert ihr das ständig, und nur bei Menschen, in deren Pass eben „Ortelsburg“ steht und nicht etwa „Szczytno“. Wir machen uns in aller Kürze frisch, ziehen unsere Regenjacken über, obwohl es inzwischen nicht mehr pladdert, sondern nur noch droeppelt und gehen am Ufer des Jezioro Domowe Male, des kleinen Haussees eine Kleinigkeit essen – gutes polnisches Essen, das mir ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert: Pieroggi für mich, Watrobki für meinen Vater.
Nach dem Essen brechen wir gleich auf durch den Ort am Rathaus und den Burgfundamenten vorbei zum Grossen Haussee (Jezioro Domowe Duze). Meine Eltern, die 1993 schon einmal hier waren, kommentieren, wie viel hübscher die kleine Hauptstrasse geworden ist, wie viel sie an der Burg restauriert und renoviert haben und wie ansprechend der Stadtstrand gestaltet worden ist. Dann laufen wir in westlicher Richtung am Ufer entlang durch einen hübschen Park, der mir gemessen an der Größe des Stadtzentrums riesig vorkommt. Und ziemlich schnell schon sagt meine Mutter: „Ist das nicht das Haus?“ und mein Vater sagt langsam und unaufgeregt: „Das ist das Haus.“

Wir kommen von der Rückseite darauf zu, es ist grau verputzt und ziemlich unspektakulaer. Meine Eltern sind sich nicht einig, wo vor 19 Jahren der Weg am Haus vorbei entlangführte; meine Mutter ist sich sicher, dass es den Weg von damals links am Haus vorbei nicht mehr gibt, während mein Vater den Weg, der rechts zum Haus und weiter zur Strasse führt, als denselben von damals wiedererkennen will, obwohl er von viel Gestrüpp befreit sei. Ich schenke meinem Vater da etwas mehr Vertrauen. Wir laufen zur Strasse hoch. Von vorne ist das haus wunderschön aus rotem Backstein mit viel weissem Stuck. Durch die Treppenhausfenster über der Haustür sieht man ein weisses altmodisches Holzgeländer. Rechts oben, Dachgeschosswohnung. Da ist es.
Die Haustür steht offen. Nun steigen wir also tatsächlich die Treppe hoch und wollen dort klingeln. Als meine Eltern das letzte Mal hier waren, haben sie sich nicht getraut, diesen Schritt zu gehen, ohne Polnischkenntnisse und so kurz nach der Wende. Ich habe ein bisschen Angst und weiss gar nicht so richtig was nun passieren wird. Wir stehen vor der Wohnungstür, ich finde, dass mein Vater klingeln muss, reden kann dann ja ich. Also drückt mein Papi auf den Klingelknopf der Wohnung, in der er zur Welt gekommen ist. Erst passiert nichts. Kinder plärren hinter der Tür. Ich stehe zwischen meinen Eltern und frage mich eigentlich die ganze Zeit, wie diese Situation für andere Menschen ist – für meinen Vater, für meine Mutter und für die Bewohner dieser Wohnung. Dann hören wir doch Schritte. Ein junger Mann in seinen 30ern mit nacktem, etwas untersetztem Oberkörper steht vor uns und guckt uns reichlich perplex an. Ich fange sofort an zu reden und habe das Gefühl ich spreche polnisch wie am dritten Kurstag. Ich entschuldige mich für die Störung, erkläre, dass mein Vater hier vor 70 Jahren geboren ist und frage ob wir vielleicht mal ganz kurz die Wohnung angucken können. Im Hintergrund sehe ich in dem langen schmalen Badezimmer eine Frau zwei Kinder in der Duschwanne baden. Was für ein schlechter Zeitpunkt… Mein Vater sagt zu mir auf deutsch: „Oder morgen!“ Ich wiederhole auf polnisch: „Oder morgen.“ Und ergänze: „Oder später.“ Der junge Mann, winkt ab – er wirkt genervt, aber nicht böse, nicht genervt aus grossen kulturhistorischen Beweggründen heraus, sondern nur, weil er gerade die Kinder ins Bett bringen und wahrscheinlich Sportschau gucken will – und sagt: „Nein nein, bitte reinkommen“ mit einem starken östlichen Akzent, er sagt „Proszę wajść“, nicht „wejść“, und irgendwie beruhigt mich das. Wir stehen also im Flur dieser Wohnung, drehen uns einmal um die eigen Achse, um in alle Zimmer zu sehen, meine Eltern sprechen ein wenig über damals und heute und wie schön die Wohnung jetzt ist, das Ganze dauert ungefähr anderthalb Minuten, ich bedanke mich für uns und wir gehen wieder.

Draussen gehen wir zurück zum Wasser und machen uns auf den Weg einmal rund um den See. Meine Eltern reden schon über die anderen Häuser, über die Pläne für die nächsten Tage und dann noch kurz darüber, dass die Wohnung gar nicht so klein ist, wie mein Vater dachte. Ich bin noch bei dem jungen Mann, der dort wohnt. Was hat er wohl von uns gedacht? Meine Eltern fragen sich das anscheinend nicht. Meine Mutter bezeichnet ihn als nicht besonders kooperativ. Ich verstehe irgendwie gut, was sie meint, aber finde es dennoch ein bisschen unfair, können wir doch davon ausgehen, dass er mit diesem Teil der Geschichte nichts anzufangen weiss und dass er uns immerhin dann doch ziemlich freundlich in die Wohnung eingeladen hat. Natürlich hat er nicht seinerseits Dinge gefragt oder gesagt, aber warum sollte es ihn auch interessieren, was wir dort wollen und wer wir sind. Ich frage meinen Vater, ob er irgendetwas Besonderes fühlt an diesem Ort. Er spricht über sein Verständnis von Heimat; davon, dass Heimat von persönlichen Erinnerungen und von Menschen her entsteht, und dass er weder das eine noch das andere hier hat. Ich hake nach: Auch jenseits von Heimat, fühlt es sich nicht irgendwie anders an hier zu sein als anderswo? Mein Vater hat Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten, fast habe ich das Gefühl, er denkt, dass er sich rechtfertigen muss, wenn er nichts Außergewöhnliches empfindet. Und da verstehe ich, dass man dieses Erlebnis nicht zwanghaft mit Bedeutung aufladen kann. Mit manchen Orten spürt man eine besondere Verbindung. Mit anderen nicht. Man vermutet natürlich, dass ein Ort, mit dem eine reale Bindung besteht, zu denjenigen gehört, die Gefühle hervorrufen. Aber warum sollte das zwangsläufig so sein? Mein Vater findet Szczytno schön. Es fühlt sich nicht an wie ein Zuhause. Zwei Sätze, die auch auf mich zutreffen. Wir sollten vielleicht nicht krampfhaft nach mehr suchen.

Am naechsten Tag fahren wir nach Pasym, nach Passenheim, und schauen das kleine entzückende Städtchen an, das zugegebenermassen mehr Charme hat als Szczytno. Die Kirche kuschelt sich malerisch an den See, das Tudor-Rathaus steht mitten auf dem kleinen Marktplatz und die Blumen blühen so schön. Wir legen uns an den kleinen Stadtstrand und als ich schließlich in das grüne Wasser springe und unter dem strahlenden blauen Himmel auf die schwarzen schweigenden Wälder am anderen Ufer zuschwimme, kann ich das Bild vom ewigen Ostpreußen ein bisschen verstehen. Vieles an dieser Landschaft erinnert mich an Brandenburg und Vorpommern, es ist eben die nordmitteleuropäische Ostsee-nahe Seenlandschaft, und trotzdem scheint es mir hier besonders ursprünglich zu sein. Wieviel Romantik lege ich wohl da hinein? Immerhin denke ich, dass dieses herrliche Fleckchen Erde nicht Ostpreußen heißen muss, um so schön zu sein, sondern als Warmia i Mazury ebenso bezaubernd ist.

 

Wege nach Polen

Am Tag vor der Abfahrt in den Nordosten Europas räume und renne ich, was meine Beine so hergeben. Abends beim Packen suche ich meinen Reiseführer. Da er an so vielen Stelle nicht aufzufinden ist, bleibt irgendwann nur noch eine realistische Möglichkeit: Ich muss ihn in meinem Schreibtisch eingeschlossen haben. Der Schlüssel liegt bei einer Freundin. Eigentlich wollte ich jetzt schon im Bett liegen, stattdessen mache ich mich durch das regnerisch-schwüle Berlin auf den Weg nach Kreuzberg, um den Schlüssel zu holen. Immerhin ist der Lonely Planet dann auch am vermuteten Ort. Ich ärgere mich ein bisschen über meine Kopflosigkeit – aber nicht besonders lange. Es ist eine von diesen Reisepannen, die einfach passieren. 
Überraschend fit mache ich mich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg zum Hauptbahnhof, finde mein Gleis, meinen Wagen und meinen Sitz und mache es mir gemütlich für die ersten drei Stunden Fahrt nach Poznan – bzw. Posen. Normalerweise halte ich mich so gut wie immer an die polnischen Namen aller Städte, denn so heissen sie nunmal heute. Ich spreche ja auch nicht von „Neu Jork“ oder bezeichne Sri Lanka noch immer als Ceylon. Aber was ich die nächsten zwei Tage vorhabe, ist ja nun doch so eine Art Heimwehtourismus, und wenn schon Nostalgie, warum dann nicht auch den deutschen Namen für die Orte in Masuren Raum geben. Ich weiss noch nicht genau wie wohl ich mich damit fühle, aber ich weiss, dass ich neugierig bin auf den Ort, an dem mein Vater geboren ist.
Im Abteil sitzen drei reizende ältere Herrschaften, die mir vom Baltikum vorschwärmen, als sie von meinen Plänen hören, und ein Pole, der aber seit sieben Jahren in den USA studiert und nur ein bisschen deutsch kann, aber natürlich sehr gutes Englisch spricht, Dawid. Er will nach Olsztyn (Allenstein) wie ich. In Poznan steigen wir gemeinsam um. Auf der Weiterfahrt teilen wir das Abteil mit zwei jungen Mädchen, die ein bisschen wortkarg sind, und einem Herrn zwischen 40 und 50, der den armen Dawid einem solchen Redeschwall aussetzt, dass ich zwischendurch gerne eingreifen würde. Dawid erträgt es mit stoischer Ruhe. Irgendwann ist sein Gesprächspartner bei den Banken und sagt: „Aber wir wissen doch alle, wer die Banken in der Hand hat, ich bitte Sie, wir wissen es doch alle ganz genau.“ In meiner grenzenlosen Naivität denke ich: Die Amerikaner? Die Deutschen vielleicht? Oder mal wieder die Russen? Der Herr sagt: „Ich bin ja kein Antisemit, aber…“ Den Rest verstehe ich vor lauter Schreck kurz nicht. Vielleicht ist das auch besser so, denn der Satz danach lautet: „Ohne Adolf Hitler hätten wir Polen heute keinen eigenen Staat.“ Eine ziemlich lange Ausführung folgt, die ich nicht wiedergeben kann und will. Es ist ein bisschen wie ein Autounfall: Es ist fürchterlich, aber ich kann einfach nicht weggucken oder -hören. Mehrere Male bin ich kurz davor einzugreifen, aber auf Polnisch hätte ich keine Chance in einer sachlichen Diskussion, bei der es vermutlich auch gar nicht lange bleiben würde. Ich begreife, wie zwecklos ein Eingriff wäre, und es deprimiert mich. Nachdem der Mann mit den fragwürdigen Ansichten ausgestiegen ist und ich mich noch ein bisschen mit Dawid unterhalte, erwähnt der in einem Nebensatz, dass er jüdische Wurzeln hat – ich frage ihn, wie zum Teufel er unter diesen Umständen das Gerede des Mitfahrers so gelassen hat ertragen können. Er sagt: „In Polen passiert das so häufig, da darf man einfach nicht hinhören.“ 
In Olsztyn suche ich vergeblich meinen Zug auf der Anzeigetafel. Er scheint nicht zu fahren. Am Schalter erkundige ich mich, ich muss stattdessen einen Bus nehmen, der junge Mann am Schalter ist rührend und sehr bemüht, mir den richtigen Weg zu zeigen, fast habe ich das Gefühl er wollte mich am liebsten selbst zum Bus bringen. Am Busbahnhof steht gerade ein Bus abfahrtsbereit, ich renne zum Bussteig, die Türen sind schon zu, der Busfahrer öffnet, ich zeige ihm mein Ticket. „Was ist das denn?“ „Mein Ticket…“ „Das kann ich nicht nehmen, das ist ja eine ganz andere Firma.“ Ich bin ja inzwischen in der Reisestimmung angekommen und rege mich nicht auf, kaufe ein Ticket beim Schaffner, und bin nun tatsächlich auf dem Weg nach Szczytno, nach Ortelsburg. Der Fahrer, stelle ich beim Blick auf das Ticket fest, hat mir den ermäßigten Preis abgerechnet, das ist wirklich nett von ihm. Die Erlebnisse aus dem Zug wirken aber noch nach. So hilfsbereit und wunderbar ich dieses Land immer wieder erlebe – es hat mit Sicherheit seine dunklen Seiten.
Draussen giesst und stürmt es. Ich höre Sommermusik, die zu den herbstlichen Wetter nicht passen will und muss darüber lächeln, dass sich in mit trotzdem alles nach Sonnenschein anfühlt. Ich kann die Landschaft um mich kaum erkennen, nur schemenhaft sehe ich dichte Wälder und grosse Seen, grüne Felder und kleine niedliche Ortschaften. Durch Pasym, Passenheim hindurch fahren wir Richtung Szczytno. Ich weiss, dass mein Vater an der Passenheimer Strasse gewohnt hat, bevor er mit vier Jahren im Jahr 1944 mit seiner Schwester, Mutter und Grossmutter aus Ostpreussen geflohen ist. Ich suche an der Strasse, die in den Ort hineinführt und heute folgerichtig ulica Pasymska (also eben: Passenheimer Strasse) heisst, nach Häusern, die in Frage kommen könnten, aber nicht nur der Regen hindert mich an Entdeckungen – ich habe ja auch einfach gar keine Ahnung, wie sie gelebt haben hier, vor 68 Jahren. Am Busbahnhof steht mein Vater und hebt die Arme, als er mich sieht. Wenn er sich freut, sieht er aus wie ein kleiner Junge. Ich bin so gespannt auf die nächsten Tage.

Istanbul genießen

Die Zeitumstellung von Samstag auf Sonntag stellt uns vor schwierige Aufgaben. Julia und ich wissen nämlich beide nicht, ob unsere Handys automatisch umstellen oder nicht, und fragen uns deshalb, auf welche Zeit wir den Wecker stellen sollen. Ohnehin ist es ein ziemliches Chaos damit – am Freitag beim Hinflug eine Stunde vor, Samstag Nacht eine Stunde vor, Montag beim Rückflug wieder eine Stunde zurück. Trotzdem bin ich nicht wirklich müde, als wir am Sonntagmorgen aufbrechen. Es ist eine seltsame Angelegenheit mit der Zeit in dieser Stadt. Sie vergeht anders als anderswo, viel langsamer. Jedesmal, wenn ich auf die Uhr sehe, habe ich das Gefühl, es müssten viele viele Stunden vergangen sein, und meistens ist es höchstens eine. Ich bin darüber immer wieder erstaunt und dankbar. Es heißt ja, dass ich noch mehr Zeit übrig habe, um sie hier zu genießen.
Mit der Tram fahren wir nach Kabataş zum Fähranleger. Eigentlich wollten wir auf die Prinzeninseln, aber die Fähren gehen zu ungünstigen Zeiten. Stattdessen überlegen wir nach Asien überzusetzen, aber wir verstehen das Bezahlsystem nicht und plötzlich ist die Fähre weg. Lange ärgern wir uns darüber nicht, zu schön ist das Wetter und zu herrlich die leichte Brise am Ufer des Bosporus. Wir beschließen, am Ufer nach Norden Richtung Ortaköy zu laufen. Vorbei am Dolmabahçe Sarayı, der von starkem Wachschutz umgeben ist, gelangen wir erstmal nach Beşiktaş.
 Eine schlichte kleine Strandpromenade lädt zum Teetrinken ein, und das tun wir denn auch. Hier spricht der Kellner nur wenig englisch, wir verständigen uns mit den Händen. Ich kann keine Touristen mehr erkennen. Ganz normale Leute laufen an uns vorbei, sitzen neben uns und trinken Tee und schauen auf das Wasser. Nach den zwei starken türkischen Çay ist mir ein bisschen schwummrig, auf dem Weg weiter kaufe ich mir schnell im Starbucks einen Keks – nicht einmal hier wird englisch gesprochen. Irgendwie untergräbt das so nett das Prinzip eines großen internationalen Unternehmens.

In Ortaköy war ich bisher nur bei Nacht, wenn sich die bunten Lichter von der Bosporus-Brücke  im Wasser spiegeln. Ich verbinde mit dem Ort eine besondere Magie. Emre, mein Couchsurfing-Gastgeber hat damals mit ein paar wenigen Worten alles gesagt: „Ah, Istanbul. Great place.“ Mit einem stillen, andächtigen Lächeln und in einem langsamen, bedächtigen Tonfall ausgesprochen klang das wie die größte Liebeserklärung, die ein Mensch einer Stadt machen kann. Als wir nun an der vielbefahrenen Straße Ortaköy immer näher kommen, bin ich wieder ziemlich aufgeregt. Die Bosporus-Brücke erscheint hoch über der Straße wie ein absurdes Stück Zukunft aus einem Science Fiction Film. Als wir nach rechts Richtung Ufer einbiegen, stoßen wir zuerst auf einen kleinen Basar. Er ist angenehmer zu entdecken als der Großen Basar in Sultanahmet. Hier wird man nicht aggressiv umworben, sondern kann auch mal einfach an einem Stand stehenbleiben und gucken. Wir haben inzwischen ziemlichen Hunger, mit drei Kilometern war die Wanderung von Kabataş hierher zwar nicht weit, aber die frische Luft und die Sonne machen großen Appetit.

Wir kaufen uns Kumpir, die leckeren Backkartoffeln, deren Fleisch mit Käse und Butter noch in der Schale zu einem sämigen Kartoffelbrei aufgeschlagen wird und die dann mit Salaten gefüllt werden. Es herrscht ein reges Gewusel um uns, und trotzdem gibt es genug freie Plätze auf den Bänken und Steinstufen am Ufer vor der Moschee, die leider wegen Sarnierung eingerüstet ist. Über uns brausen die Autos nach Asien, und vor uns schlagen leichte Wellen an.
Plötzlich applaudieren die Leute um uns herum und schauen auf die kleine Plattform hinter uns. Da steht ein junges Paar umringt von Menschen und umarmt sich – ein Heiratsantrag. Wir gucken zu, wie sie sich Ringe anstecken. Sie küssen sich nicht, sie halten sich nur fest, und auch das nicht lange, schon werden sie von allen Seiten von ihren Freunden beglückwünscht. Beide strahlen aus dem tiefsten Innern. Trotzdem halten sie eine Distanz, die Julia und mir ein wenig seltsam vorkommt. Sie hat wohl mit der Öffentlichkeit dieses Antrags zu tun, das allein ist vermutlich schon etwas ganz besonderes. Und Ortaköy ist für diese Geste wirklich ein geeigneter, ein wunderschöner Ort, dessen Romantik dennoch nicht so sehr auf der Hand liegt, dass ein Antrag allzu kitschig wirkt. 

Wir schlendern zurück nach Kabataş. Bei Beşiktaş flattern selbstgemachte gelbe Drachen im Wind und stürzen wieder gen Boden. Wir kaufen uns ein Eis. Am Fähranleger zeigt das Thermometer 24 Grad. Ich denke darüber nach, dass es sich so anders anfühlt, mit Julia hier zu sein. Sie sieht Dinge, die ich nicht sehe. Und ihr gefallen andere Dinge als mir. Vielleicht ist es so, dass man jeden Ort, den man zur Gänze erleben will, einmal mit und einmal ohne Gesellschaft erkunden sollte.

Mit der Tram fahren wir wieder nach Eminönü und laufen mehr oder weniger der Nase nach zur Süleymaniye Moschee. Dort war auch ich noch nie. In den kleinen Gassen, gibt es wieder die absurdesten Dinge zu erstehen. Julia kauft hübsche türkische Teegläser mit Untertassen und kleinen Löffeln. Vor vielen Läden stehen große Säcke mit Tabak in unterschiedlichsten Farben. Ein bisschen stelle ich mir vor, dass es so früher in Hamburg in der Speicherstadt ausgesehen haben könnte, nur mit einer größeren Warenvielfalt. Der Muezzin beginnt zu rufen, und wir verlassen das dichteste Getümmel, um über eine kleine Treppe auf eine Straße zu gelangen, die schon von der Mauer des Moschee-Areals begrenzt wird. Hier erstehe ich in einem kleinen Laden noch eine neue Džezva, wie sie auf dem Balkan heißen, oder türkisch: Cezve. Das sind die Kannen, in denen der türkische Kaffee gebrüht wird. Dann klettern wir über eine kurze Treppe in den Vorhof der Moschee. Wir genießen für einen Moment die atemberaubende Aussicht und betreten dann das wunderschöne Gebäude.

Im Gegensatz zur Blauen Moschee wird in dieser um das Tragen eines Kopftuchs gebeten, und die Schuhe müssen natürlich auch ausgezogen werden. Wir betreten das riesenhafte Gebäude, und rechts von uns sitzen in den kleinen abgetrennten Ecken die Frauen und beten – richtig, der Muezzin hat ja gerade erst gerufen. Ganz vorn am Mihrab stehen die Männer. Die Besucher sitzen auf dem Boden. Wir sind mitten ins Gebet geraten, dürfen aber offensichtlich bleiben. Mein Herz schlägt schneller. Ich habe das schon so lange gerne einmal miterleben wollen. Im Schneidersitz mache ich es mir auf dem Teppich bequem. Mein Kopftuch rutscht ein bisschen, ich muss es immer wieder zurechtzuppeln. Das macht mich ein bisschen nervös. Aber schließlich ist der Gesang des Imam von vorne so beruhigend, die Stimmung so friedlich und besonnen, dass auch ich die Ruhe finde, im Moment anzukommen.

Ich befinde mich in einer merkwürdigen Schwellensituation zwischen Beobachten und Mitmachen. Da gibt es so viele Eindrücke, so viele Fragen – warum hängen die kreisförmigen riesenhaften Leuchter so tief, dass man sich an ihnen den Kopf stoßen müsste, wenn man stünde oder liefe? Wie funktioniert dieses System von Stehen, Knien und Verbeugen zu dem Gesang, das dort vorne passiert? Wie fühlen sich die Frauen damit, dass zwischen ihnen und den Männern etwa 50 Meter Distanz liegen, und ihre Räume sogar mit sichtdurchlässigen spanischen Wänden versehen sind? Ist es das Takbir, „allahu akbar“, das ich im Gesang immer und immer wieder ausmachen kann, oder bilde ich mir das ein, weil es die einzigen arabischen Wörter sind, die ich kenne? Neben all diesen Fragen aber ist da die Spiritualität des Augenblicks, die mich zur Ruhe bringt und mich mit Gedanken der Demut und Dankbarkeit erfüllt. Wie glücklich bin ich, dass es diesen Ort, diese Stadt und diese Gefühle gibt!

Abends gehen wir noch einmal Shisha rauchen in dem gleichen kleinen Cafe wie am Abend zuvor. Wir lernen zwei deutsche Mädchen kennen, unterhalten uns den ganzen Abend und bleiben wieder viel länger als geplant. Duman fährt heute nicht nur Tee auf, sondern auch leckeres Gebäck, und er überlässt und eine Shisha kostenlos. Als der Laden fast leer ist kommt er mit einer Tüte an unseren Tisch, lässt uns unsere Teegläser leer trinken, und gießt uns Raki ein. Er bittet uns aber, die Gläser mit den Händen so zu umschließen, dass keiner sehen kann, was darin ist – wegen der Nähe zum alten Sultanspalast und den großen Moscheen Sultanahmets darf er hier keinen Alkohol ausschenken. Aber wer kann eine so fröhliche Einladung schon abschlagen, und er nimmt ja von uns kein Geld dafür. Wir lachen viel und ausgelassen. Weil die letzte Tram schon lange gefahren ist, nimmt Duman uns auf dem Heimweg im Taxi mit und verlangt auch dafür kein Geld von uns. Zwar machen wir uns unterwegs kurz Sorgen, in welche Richtung das Taxi uns bringt, denn es muss in einer riesigen Kurve Sultanahmet umfahren, aber wir landen wohlbehalten an der uns bekannten Straßenecke. Duman verabschiedet uns beide mit einer herzlichen Umarmung. Und meine Skepsis gegenüber hilfsbereiten Menschen ist endgültig gewichen.

Am nächsten Morgen kommen wir noch auf einen letzten türkischen Kaffee und Tee im Shisha-Cafe vorbei, bevor wir zum Flughafen müssen. Tagsüber herrscht eine andere Stimmung – aufgeräumter. Erst jetzt bemerke ich, dass die gepflasterte Straße vor den Terassen voller kleiner bunter Plastik-Mundstücke für die Shishas liegt. Und auch die Kunstgalerie gegenüber kann ich ich jetzt erst richtig schätzen. „Don’t think“ steht dort an der Wand. Ein schönes Motto, wenn man dazu tendiert, die Dinge manchmal zu viel zu reflektieren. Ich habe in den letzten drei Tagen mehr gefühlt und getan als gedacht. Vielleicht liegt darin das große Potential dieser Stadt. Sie erlaubt es mir zu fühlen. Julia und ich sind uns beide einig: Wir waren nicht zum letzten Mal hier.

Istanbul erleben

In Taksim laufen wir die große Promenade entlang. Auch Julia bemerkt es – hier sind wir etwas abseits der großen Touristenströme in Sultanahmet, hier sind wir im normalen Leben angekommen. Für mich ist Sultanahmet wie Berlin Mitte, und Taksim ist wie Kreuzberg. Die İstiklal Caddesi, die Unabhängigkeitsstraße hinunter stehen schöne alte Häuser, zum Teil im Jugendstil. Es gibt keine Autos, hier verkehrt nur die Straßenbahn, und auch die kommt selten vorbei.


Wir machen Halt an der Antonius Basilika. Jetzt, nachdem ich nachgelesen habe, weiß ich, dass es tatsächlich eine römisch-katholische Kirche ist. Das habe ich nicht zwangsläufig bemerkt, von innen sieht sie auch ein bisschen aus wie griechisch-orthodoxe Kirchen. Wir zünden Kerzen an und treten danach wieder in den schattigen Innenhof, den ein großer steinerner Torbogen von der Straße trennt. Einmal mehr so offensichtlich: Der Unterschied zwischen der stillen Demut einer Kirche und der lebendigen Andacht einer Moschee.

Am Galatsaray Meydanı scheint eine politische Kundgebung stattzufinden. Polizisten und Polizistinnen stehen aufgereiht, die Männer vorn, die Frauen hinten, in voller Montur, dabei ist die Gruppe der Demonstranten ziemlich überschaubar. Ich wüsste wirklich gerne, worum es da geht. Aber zu viel gibt es um uns zu sehen, um sich lange damit aufzuhalten. Da sind zum Beispiel die vielen älteren und jüngeren Männer, die große Pakete auf dem Rücken transportieren – Waren für die vielen kleinen Läden in den Seitenstraßen. Zum Tragen benutzen sie lustige Vorkehrungen, die wie Autokindersitze aussehen. Die werden auf den Rücken geschnallt, und darauf werden Pakete von mitunter aberwitziger Größe montiert. Auf dem Weg zurück nach Tophane gibt es außerdem Apotheken, deren Schaufensterdekoration eigentlich nur aus Viagra-Packungen besteht, und schließlich wunderbare Läden mit Kunst und Musikinstrumenten, oh, die vielen vielen Musikinstrumente…
Mit dem frisch gepresstem Orangen- und Granatapfelsaft könnte ich stundenlang vor den Läden stehen und gucken, am liebsten auch kaufen, aber ich kann das meiste ja nicht selbst spielen. Julia und ich kaufen uns stattdessen weite gemütliche Hosen und ich lege mir endlich eine Nargile, eine Shisha zu. Schon jetzt freue ich mich darauf, dass das schöne Stück mich nach meiner Rückkehr nach Berlin bei jedem Blick daran erinnern wird, dass es Istanbul gibt. Das bedeutet für mich: dass es Lebensfreude gibt. Istanbul ist die gestaltgewordene Lebensfreude. Und auf Taksim trifft das besonders zu.

Von Tophane nehmen wir die Tram zurück nach Sultanahmet und steigen am Gülhane-Park aus. Schon am vorigen Tag habe ich Julia gebeten, mit mir auf blühende Bäume, Störche und Schwalben zu achten, damit ich meiner Martenica gerecht werde. Das ist mein kleines, rotweißes Armband, dass mir meine Kollegin gemäß einem bulgarischen Brauch zum Märzanfang geschenkt hat – rot steht für Gesundheit und rote Wangen, weiß für hohes Alter und weißes Haar. Wenn man einen Frühlingsboten sieht, muss man es abnehmen und darf sich etwas wünschen. Als wir nun den Gülhane Park betreten, schaut Julia nach oben und sagt nur: „Schau mal!“ Ich will es erst gar nicht glauben. Nicht nur ein Storch. Viele!! In Nestern und im Fluge! „Das gibt’s doch nicht…“ kann ich nur sagen. Ich verstecke, wie es sich gehört, meine Martenica unter einem Stein und darf mir etwas wünschen.
 In einigen Beeten blühen schon hunderte von Primeln, andere sind noch einbisschen karger, aber das Gras ist schon grün und saftig und die Sonne scheint so schön warm. Wir laufen bis vor an den Rand des Parks und genießen den atemberaubenden Blick über den Bosporus. Hinter uns liegen die mächtigen Mauern des Topkapı Palasts. Wenn ich Mehmed II. gewesen wäre, hätte ich hier auch meine Residenz gebaut. Noch eine ganze Weile setzen wir uns auf eine Parkbank und schauen zu, wie das bunte Leben an uns vorbeizieht. Mich überkommt wieder eine tiefe Friedlichkeit. Und dann beginnt der Ruf zum Gebet von neuem. Dieses Mal ist es, als läge uns die ganze Stadt zu Füßen und schickte ihren Gesang zu uns herauf in den Park. Langsam schwillt das Geräusch an, bis man kaum noch einzelne Stimmen voneinander unterscheiden kann und die Stadt dissonant summt und brummt wie Fans in einem Fußballstadion. Wenn man sich aber konzentriert, hört man doch die charakteristische Melodieführung heraus. Ab und zu gibt es Pausen, aber dann setzt mit heller Stimme stets noch wieder jemand ein, und die anderen antworten. In mir schmilzt alles. Nun bin ich tatsächlich wieder hier. Und es ist immer noch die große Liebe.

Abends gehen wir in Sultanahmet essen – für mich gibt es Hühnchen şiş und sütlaç, den guten türkischen Milchreis. Das erste Mal habe ich den in Serbien gegessen, dort heißt er Sutlijaš. Diese Lehnwörter aus dem Türkischen in den Sprachen auf dem Balkan sind doch wirklich lustig. Julia isst ein Ćevapčići-ähnliches Kalbfleisch-Gericht. Das Restaurant liegt sehr prestigeträchtig direkt am Eingng zum Gülhane Park, dementsprechend geht es dort ein bisschen touristisch zu, aber für die Lage ist es doch wirklich sehr ruhig und angenehm, und das Essen schmeckt auch.

Anschließend gehen wir direkt um die Ecke in ein kleines Shisha-Cafe. Es kuschelt sich in mehreren Terassen direkt an die 600 Jahre alte Palastmauer des Topkapı Palasts. Wir bestellen Tee und eine Shisha mit Apfeltabak. Der Kellner baut die hübsche Pfeife an unserem Tisch auf und zieht auch für uns an. Ich übernehme von ihm, und der weiche süße Rauch mit der feinen Anisnote füllt meine Lungen. Es raucht sich ganz anders als Zigaretten, und es transportiert ein ganz anderes Lebensgefühl – viel mehr Genuss, weniger Gewohnheit. 

Das Cafe ist gut besucht, aber nicht zu voll. Duman, der Kellner, bringt noch drei Tee, die wir nicht bestellt haben. „One is for me,“ grinst er fröhlich, ehrlich. Ich bin nicht skeptisch dabei wie noch am Flughafen. Duman setzt sich ein bisschen zu uns. Wir kriegen noch viel mehr Tee ausgegeben an diesem Abend und machen uns viel später auf den Weg nach hause, als wir beide vermutet hätten. Duman zuzuhören, wie er verschiedene Nationalitäten imitiert, macht zu viel Spaß. „The Japanese“ – er greift sich meinen Photoapparat und macht in 10 Sekunden 20 verrückte Bilder, ohne auf den Bildschirm zu schauen. „The French“ – er nimmt sich eine Serviette aus dem Spender, faltet sie ordentlich und legt sie um sein Teeglas. Nicht einmal der kleine Skorpion hinter Julia an der Wand kann uns wirklich beunruhigen. Ein langer Tag voller kleiner Wunder liegt hinter uns – und ein weiterer vor uns.

In Istanbul ankommen

Vor zwei Jahren schrieb ich: 

Istanbul und ich, das ist die ganz große Liebe. 

Die Aussicht auf ein Wiedersehen ist dementsprechend aufregend. Wie begegne ich dieser Stadt nun? Wird alles wieder, wie es war? Will ich das überhaupt? Lernen wir uns ganz neu kennen oder verfolgen wir alte Muster miteinander? Es ist als hätte ich tatsächlich Schmetterlinge im Bauch.
Meine Cousine Julia und ich fliegen gemeinsam von München. Alles geht irrsinnig schnell, ich weiß kaum, wie mir geschieht. Plötztlich sind wir schon da, haben unser Gepäck vom Band genommen und suchen in der Ankunftshalle des Flughafens Atatürk nach unserem Shuttleservice. Aber es gibt die Agentur nicht, die in unseren Reiseunterlagen angegeben ist. Von allen Seiten werden uns Taxis in die Stadt angeboten, aber wir haben unseren Shuttle schon bezahlt. Von einer anderen Agentur leiht uns ein Angestellter mit etwas muffligem Gesicht sein Handy und wir rufen die Notfallnummer an – keiner antwortet. Wir suchen weiter, und ein zweiter junger Mann kommt uns zu Hilfe. Er ruft selbst bei der Nummer an und hat mehr Glück, auf türkisch spricht er mit jemandem und zeigt uns dann den Weg, und dann geht wieder alles ganz schnell. Die Autofahrt in die Stadt mit dem herrlichen Blick auf das Marmarameer ist im Nu vorbei. Kaum habe ich Zeit, darüber nachzudenken, wie skeptisch ich eben am Flughafen den jungen Männern begegnet bin, die uns ihre Hilfe angeboten haben. Mein Alltag in Deutschland scheint mich zynisch zu machen. Ob Istanbul mir die Chance gibt, wieder ein bisschen vertrauensseliger auf das Leben zu blicken?
Das Hotel liegt in Laleli – was für ein herrliches Wort, weich und fließend wie die türkische Sprache überhaupt. Die Gegend ist allerdings nicht besonders türkisch, stattdessen stehen an den Schaufenstern der zahllosen Boutiquen überall Angebote in kyrillischer Schrift – „Wir nehmen auch Rubel“ – und sogar die Straßenverkäufer preisen uns ihre Waren auf Russisch an. Das Hotelzimmer ist klein, einfach und sauber, alles was man braucht. Uns hält es dort nicht lange, wir laufen gleich los. 
An der Universität vorbei geht es auf verschlungenen Pfaden durch kleine Gässchen mit absurdem Verkehr hinüber nach Eminönü – immer Richtung Wasser. Hier hängen in den Schaufenstern ganze ausgeweidete Tiere, der frische Orangensaft wird auf der Straße gepresst, Männer laufen Arm in Arm umher und grüßen sich gegenseitig mit Küsschen und bekopftuchte Frauen bieten Teegläser zum Verkauf. Es gibt unfassbar hässliches Spielzeug, gefälschte Markenartikel und riesige Plastikbeutel mit kleinen Metallteilen, vermutlich zur Herstellung von Schmuck und Gürteln. Julia bemerkt, dass es hier wohl keinen Großhandel gibt, und es scheint wirklich so, als ob die Türken hier in diesen winzigen Lädchen ihren Bedarf an Materialien für ihre eigenen Produkte decken. Ich genieße das Chaos und das pralle Leben, das hier herrscht, und etwas in mir beginnt langsam, sich zu öffnen.
Schließlich erreichen wir die Brücke vom Goldenen Horn, die Galata-Brücke. Der erste Blick auf das türkisblaue Wasser – mein Herz geht wieder ein bisschen auf. Es ist mir diesmal so vertraut, wie die vielen Angler oben auf der Brücke stehen und ihre Angelruten in die Fluten auswerfen. Julia kauft sich einen Döner im Brot, und dann wandern wir langsam über die Brücke nach Beyoğlu. In den zerschnittenen Plastikkanistern, die die Angler neben sich stehen haben, tummeln sich die Fische. Einer windet sich auf dem bloßen Asphalt, der Angler wirft ihn routiniert in seinen Kasten. Tierfreundlich ist das nicht. Ich denke an Taksim und daran, wie dort der frische Fisch in den Auslagen angepriesen wird und so schmackhaft aussieht. Ein unangenehmer Widerspruch.
Auf der Nordseite des Goldenen Horns trinken wir eine Cola in einem Fischrestaurant. Die Möwen kreisen gierig über und neben uns, prächtige Vögel, riesig und elegant. Auf der Mauer stehen ein großer Wasserkanister und eine Flasche mit Seife zum Händewaschen nach dem Fischessen. Wer braucht schon Messer und Gabel, wenn er mit den Fingern essen kann? Eine wohlgenährte junge Katze liegt faul neben uns in der Sonne. Buntes Treiben auf dem Wasser und am Ufer, und gleichzeitig eine große Friedlichkeit. Und dann – ich stoße innerlich einen Jubelschrei aus – ruft der Muezzin zum Gebet. Über das Goldene Horn klingt es von den Minaretten in hin und her. Ich habe mich mehr auf diesen Klang gefreut, als Worte beschreiben können.
Wir laufen dann unten an der Brücke zurück, wo sich ein Restaurant neben das andere reiht. Hier ist schlendern und wandern keine Option mehr; wir eilen, als versuchten wir, uns zu retten. „Lady! Lady! You like the drink? Sit here! I make the drink!“ „You like fish? Lady! Sit! Fresh fish!“ Ich grinse. „No, no. No, no.“ den ganzen Weg entlang. Julia sagt noch höflich „No, thank you!“ Das ständige Werben ist zwar auch ein bisschen anstrengend, aber es amüsiert mich noch immer. Irgendwie gehört es hierher. 
Wieder in Sultanahmet trinken wir in den kleinen Seitenstraßen am Gülhane Park einen Apfeltee und einen türkischen Kaffee. Auch hier werden wir umworben, und hier kommen sie von beiden Seiten gleichzeitig und reden auf uns ein. „Lady, my beautiful roadside terrace, good drink, nice and cold, tea coffee fish!“ „Lady, lady, my garden, my beautiful garden!“ Spontan gehen wir nach links, hier gilt es sich schnell zu entscheiden oder gar nicht – der Gewinner grinst, der Verlierer sagt durchaus gutmütig zu seinem Konkurrenten „I fuck you! I fuck you!“ Mein Kaffee schmeckt nach Fremde und Heimat gleichzeitig. Die bunten Lampen mit den vielen kleinen Glassteinchen baumeln lustig an der Markise, und über die Straße wächst eine knorrige Ranke, die noch kein Grün zeigt. Als es kühler wird, machen wir uns wieder auf den Weg.
Blaue Moschee – Sultanahmet Camii

Bergauf geht es ins Herz von Sultanahmet auf den Platz zwischen Ayasofia und Blauer Moschee. Julia war noch nie in einer Moschee. Ich denke an die Moscheen in Bosnien und Albanien, die ich besucht habe, auch an die in Berlin – alle so unterschiedlich, alle von orientalischer, fremder und wunderbarer Schönheit. So wie die Blaue Moschee ist keine andere gewesen, schon wegen der Größe. Wir werfen einen kurzen Blick hinein. Sehr kurz, denn nach wenigen Minuten werden wir aufgefordert zu gehen, es ist Gebetsstunde. Dennoch: Der weiche Teppich, die Farbenpracht und das lebendige Gewusel geben mir das Gefühl einer fröhlichen Andächtigkeit zurück, das ich auch vor zwei Jahren hier empfunden habe.
Burger King Moschee
Nicht gerade auf dem schnellsten, aber vielleicht tatsächlich auf dem schönsten Weg – vorbei an dem Gebäude, das wir die Burger King Moschee taufen – laufen wir ins Hotel zurück und gehen früh schlafen. 
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück auf der verglasten Dachterasse des Hotels nehmen wir die Tram nach Tophane und laufen an der Straße bis Findikli – hier habe ich vor zwei Jahren am Ufer des Bosporus jeden Morgen Börek und Kaffee gefrühstückt, bevor ich zur Stadterkundung aufgebrochen bin. Wir lassen uns die Sonne auf die Nase scheinen und schauen nach Asien hinüber. Als wir richtig aufgewärmt sind, laufen wir langsame die steile Straße hinauf, nicht ohne bei meinem damaligen Stammbäcker Börek zu kaufen. Er zergeht auf der Zunge, so zart ist er. Der Geschmack des Reisens. Oben gelangen wir an den Taksim Meydani. Schon wieder schlägt mein Herz höher. Etwas an Taksim rührt an bestimmte Orte in meiner Seele, die für ein ganz bestimmtes, überwältigendes Glücksgefühl reserviert sind. Und sie öffnen gerade wieder ihre Türen.

Warszawa – Warsaw – Warschau

Die Sonne hängt tief als gleißende weiße Scheibe am Himmel. Es liegt ein sonderbarer fahler Dunst über den brandenburgischen Feldern, von dem ich den Eindruck habe, dass er sich schwer auf die vereinzelten Baumgruppen senken müsste, um dort als heller Kreidestaub die Äste zu zieren wie Frost. Je weiter wir nach Osten vordringen, desto wärmer und glühender wird der Sonnenball. Der Zug müffelt komisch, alt. Ich bin dieses Jahr so viel geflogen, ich bin gar nicht mehr an das langsame Reisen gewöhnt, dass mich die Entfernung wirklich spüren lässt. Nach Warschau. Nach Warschau.
Meine früheste Assoziation mit Warschau stammt aus dem ersten Polenurlaub meines Lebens. Ich bin 8 Jahre alt und fahre mit meiner Familie in einem winzigen Auto, im Interesse der Geschichte behaupte ich, es war in einem Polski Fiat, durch die Masuren, und an den Schildern auf der Landstraße steht es immer wieder: Warszawa. Warschau, erklären meine Eltern. Komisch, wieso gibt es zwei Namen für den gleichen Ort? 
Viel später entdecke ich die Stadt neu, zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Niederschlesien habe ich hier ein Training. Ich finde die Stadt grau und zunächst auch nicht mehr als einfach nur grau. Und sehr kalt, es ist Ende Januar. Aber sie soll sich mir doch noch anders erschließen: als Ort der Geschichte, die lebt und atmet bei jedem Schritt, den man in ihren Straßen tut.

Warschau war mir dennoch nie so nah wie Krakau. Aus dem Hauptbahnhof tretend fällt der erste Blick auf den Kulturpalast mit seiner imposanten Größe, der so grau ist und so ideologisch aufgeladen. Er ist nicht von der feinen und viel konventionelleren Ästhetik, die mir in Krakau an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Dafür ist es vielleicht die authentischste polnische Stadt für mich. Dreckig. Laut. Ehrlich. Geprägt von einer schrecklichen Vergangenheit, aus deren Asche sich eben kein Phönix erheben konnte, sondern eher sowas wie eine Krähe. Die ist vielleicht nicht so bunt, aber wenn man sie sich genau anschaut, erkennt man, wie elegant und wie erhaben sie sich halten kann.

Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik. 

Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.

Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.

So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.

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