In Riga steigen wir am Freiheitsdenkmal aus und laufen durch die Altstadt zur Daugava, dem grossen Fluss, der die Stadt durchzieht. Ein richtiger, anständiger Strom, wie es Flüsse nur dann sind, wenn sie wenig später ins Meer münden. Mit dem Bus fahren wir zurück zu Martin, nur um gleich wieder aufzubrechen in die so genannte Ruhige Altstadt zum Abendessen in einem wunderbaren Restaurant mit dem auch in Übersetzung hübschen Namen „Fliegender Frosch“. Anschliessend trinken wir ein Bier in einer Kellerkneipe mit einer Liveband, die Folkmusik spielt. Martin bestellt Knoblauchbrot. Serviert wird dunkles Schwarzbrot in dicken Stiften, in Knoblauch und Oel eingelegt und dann angebraten, knusprig und noch warm mit Joghurtdip – himmlisch. Auf dem Weg zum Restaurant, von dort zur Kneipe und schliesslich auch nach hause hat Martin an jeder Ecke etwas zu erzählen über die Geschichte der Stadt und über sein Leben dort. Nach vier Jahren kennt er Riga wirklich gut, und man merkt die Liebe zu seiner Wahlheimat jedem seiner Worte an. 

Am nächsten Morgen schlafen wir aus, irgendwann geht Martin Frühstück holen in einer Beķereja. Das ķ spricht man tj, Betjereja also. Da klingt das Wort beim Reden nicht wie das deutsche „Bäckerei“, aber es sieht so aus, nur niedlicher, und weil ich es am Beispiel von Martins Stammbäckerei lerne, wird das Wort für mich zum Synonym für das beste Frühstück der Reise. Die Käsecroissants haben nicht etwa nur ein bisschen Käse oben drauf, sondern sind großzügig damit gefüllt. Die Creme in den Karamellcroissants ist süß und dick und ergänzt sich so herrlich mit dem luftigen, zarten Blätterteig. Der Kuchen ist gar nicht zu beschreiben, er hat so viele Schichten und eigentlich kann ich morgens gar nicht so viel essen, aber es schmeckt so gut. 
Wir fahren anschliessend mit dem Zug nach Jūrmala an den Ostseestrand. Auf dem Weg von der kleinen Bahnstation durch das Städtchen an den vielen Souvenirständen und Touristenfallen vorbei sprechen fast alle Menschen Russisch. Erst Martin weist uns darauf hin, als er nach einer Weile sagt, er habe noch kein Wort Lettisch gehört. Danach fällt es mir auch auf. Hier kommen wohlhabende Russen zum Urlaubmachen hin. Auf der anderen Seite gibt es die grosse russische Minderheit, die so viel mit Primitivität, Alkohol, Kriminalität und Armut assoziiert wird. Eine schlimme Schere, die da aufgeht. Endlich kommen wir über die kleine Düne zum Strand. 

Es ist der erste Blick auf die Ostsee auf dieser Reise, es ist windig und das Meer braust ungestüm vor uns. Ich muss zumindest einmal die Füße ins Wasser halten, obwohl es ziemlich kalt ist. Aber als das Salzwasser meine Knöchel umspült, freue ich mich wie ein kleines Mädchen. Die Ostsee. Sie ist mein Zuhause-Meer. Eine Weile stapfen wir durch den feinen weissen Sand am Wasser entlang, der Wind pustet uns um die Nasen und wir sind ganz froh, dass wir gegen den Sturm unsere Regenjacken angezogen haben, die uns warm halten. Einen freien, klareren Kopf hat mir so ein Ostseespaziergang noch immer beschert. 

Nach einem kleinen Mittagsschlaf fahren wir gegen Abend mit dem Bus zu einer Freundin, bei der wir im Garten grillen. Alle, die dort sind, gehören wie Martin, Wiebke und ich dem Ehrenamtlichen-Netzwerk von YFU an. Ieva aus Litauen, die uns in Vilnius beherbergt hat, ist extra angereist. Alle anderen sind Letten. Die Gastgeberin des Abends, sie heisst ebenfalls Ieva, hat mit ihrer Familie erst vor Kurzem das Haus in der ruhigen und hübschen Nachbarschaft bezogen. Auf die Frage danach, wie die Nachbarn so sind, antwortet sie zuerst, dass es sich um Letten handelt. Für Wiebke und mich ist das seltsam. Uns wird aber versichert, dass das eine wichtige Information ist, man hätte mit den Russen nur Unruhe in der Nähe; Lärm, Parties, Alkohol. Das bringt mich dazu, über Stereotypen nachzudenken. Sie klingen so vorurteilsbehaftet, diese Sätze, und ich bin mir doch ganz sicher, dass alle Anwesenden ihre Aussagen auf eigenen Erfahrungen aufbauen. Vorurteile entstehen leider nicht von ungefähr, und sicher können alle diese Menschen ihre Vorurteile beseite lassen, wenn sie jemanden kennen lernen, der sie vom Gegenteil überzeugt. Aber sie werden ihn als Ausnahme einstufen, weil sie eine andere Regel gelernt haben, und es ist schwer, eine neue Regel, eine neue Norm durchzusetzen. Es ist auch schwer, solche gesellschaftlichen Spaltungen wie die zwischen Letten und Russen zu überwinden, in denen die einen zu den anderen kaum Kontakt haben. Über dem guten Essen und dem lustig lodernden Lagerfeuer bleiben wir aber nicht bei ernsten Themen. Es ist ein fröhlicher, schöner Abend mit herzlichen, liebenswerten Menschen. 
Am naechsten Morgen treffen wir uns alle nochmal am Freiheitsdenkmal und laufen durch die Altstadt. Der Turbokapitalismus hat auch hier zugeschlagen, es gibt sehr viele stylische Kneipen und einige Werbeplakate auf englisch. Gleichzeitig ist die Altstadt gespickt mit wunderschönen Gebäuden. Gegründet durch einen Bremer Bischoff erinnert mich Riga tatsächlich an Bremen, es gibt sogar einen Roland und eine Statue der Bremer Stadtmusikanten wie vor dem Bremer Rathaus. Leider können wir wegen des Gottesdienstes nicht in den Dom, der von außen eingerüstet ist und dessen imposante Schönheit auf dem großen Domplatz deshalb nicht ganz zur Geltung kommen kann. Das Erbe der Hanse ist an allen Ecken spürbar, vielleicht besonders für ein Hansestadtkind wie mich. Von unbeschreiblicher Schönheit ist das Melngalvju nams, das Schwarzhäupterhaus am Rathausplatz, (lettisch Rātslaukums). 
Backsteingotik von solcher Pracht, dass man die hanseatischen Kaufleute praktisch noch ein- und ausgehen sieht.
Zu einem Ende kommt unser Stadtbummel außerhalb der Altstadt, die laut unseren lettischen Freunden ohnehin von den Einheimischen nicht oft besucht wird – zu voll, zu teuer, zu touristisch. Ist dies eigentlich das Verhängnis jeder schönen Altstadt Europas? Wir zumindest genießen erst noch das Stadtpanorama von der Riga Terasse auf dem Dach eines edlen Einkaufszentrums.
Dann gehen wir ganz kosmopolitisch zum Mexikaner essen. Nebenher läuft der olympische Marathon. In Litauen und Lettland spielt die Olympiade eine ganz andere Rolle als in Deutschland. Jeder Sport, in dem Chancen auf Medaillen bestehen, wird begeistert verfolgt, jede Medaille frenetisch gefeiert. Bei uns geht die Leistung des Einzelnen oft in der Masse unter. Diskuswerfen habe ich bis in Vilnius noch nie geschaut, und dort nur, weil ein Litauer im Finale stand. Zufällig hat ein Deutscher gewonnen. Das hätte ich sonst niemals zur Kenntnis genommen. Nachdem Lettland im Beachvolleyball Bronze gewann, soll auf google die Suchanfrage „Where is“ durch den Vorschlag „Latvia“ automatisch ergänzt worden sein, weil die Abfrage so häufig gestellt wurde. Dafür sind die Olympischen Spiele da: Ein Land präsentiert der Welt sich und seine Leistung. Ich glaube wir vergessen das häufig.
Schließlich kommt der Abschied von neuen Freunden und der Weg zum Busbahnhof. Heute bringt uns der LuxExpress mit WLAN und kostenlosem Kaffee und Tee nach Tallinn. Estland ist das dreißigste Land in der Reisehistorie meines Lebens. Ich bin ein bisschen aufgeregt.