Manches ist unverhandelbar. Menschenrechte zum Beispiel. Das Internet sieht das zur Zeit einmal wieder ganz anders. Da werden unter dem Deckmantel des „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ Dinge ausdiskutiert, die ich vor nicht allzu langer Zeit in süßer Naivität für den gegebenen gesellschaftlichen Konsens hielt. Das waren goldene Zeiten. Für meinen Kopf. In der Welt waren sie sicher gar nicht so golden. Und doch schockiert es mich, wie schonungslos Menschen in Machtpositionen andere Lebensentwürfe ausblenden und sich an eine „gute alte Zeit“ klammern, in der sie die Welt noch verstanden.

Aufreger 1: Christian Lindner. Die zahlreichen Widersprüche, die Christian Lindners Kritik an #fridaysforfuture aufweist, sind bereits verschiedentlich aufgezeigt worden. Sein Kommentar ist weder mit seinem eigenen Lebensweg noch mit der letzten Wahkampagne der FDP zur Bundestagswahl vereinbar. Dass er Jugendlichen ganz grundsätzlich Kompetenz abspricht, ergibt im Kontext seines bisherigen Auftretens schlicht keinen Sinn. Es liest sich deshalb einfach nur wie der in Arroganz gegossene Machtanspruch eines weltfremden alten weißen Mannes.

Aufreger 2: Annegret Kramp-Karrenbauer. Geschmacklose Witze sind das eine. Und ich bin auch bereit, zu verzeihen, wenn jemand Zeit braucht, um sich in die gesellschaftliche Realität von Enbys und Transmenschen hineinzudenken (wenngleich ich natürlich als heterosexuelle Cisfrau auch leicht reden habe!). Was aber unerträglich ist, ist ihre Reaktion auf begründete Kritik. Anstatt einen Fehler einzuräumen, zementiert sie ihre Position ausschließlich dadurch, dass sie anderen unangemessene Emotionalität unterstellt und damit ihren Argumenten die rationale Grundlage abspricht.

Aufreger 3: Der Verein Deutsche Sprache. Am schlimmsten an der absolut uninformierten Unterschriftenaktion und der frustrierend zu lesenden Liste der Zustimmung ist für mich der Sumpf an weiteren Debatten und Diskussionen, auf die man stößt, wenn man die Sache ein bisschen verfolgt. Ich möchte keine Werbung für Veröffentlichungen machen, die Grundrechte dermaßen schamlos mit Füßen treten, aber man stößt da auf Blogartikel, die Frauen* grundsätzlich die Vernunftfähigkeit absprechen und deshalb das aktive wie auch passive Frauen*wahlrecht in Frage stellen. In größter Ausführlichkeit werden da mittels biologistischer Zuschreibungen nicht nur ein binäres Genderverständnis, sondern auch eine überwältigende geistige Überlegenheit des (weißen!) Mannes konstatiert, und das Ganze in einer Rhetorik, die sich selbst vermutlich für wissenschaftlich, mindestens aber für guten publizistischen Stil hält. Mir ist derweil schon ganz schlecht.

Es gibt eine Gemeinsamkeit in diesen Beispielen. Lindner, Kramp-Karrrenbauer, der Verein Deutsche Sprache und auch diejenigen, die sich im Zuge all dieser Diskussionen zu Vorkämpfer*innen (denn es sind durchaus auch Frauen dabei, aber das ist ein ganz anderes schockierendes Thema) eines vorsintflutlichen Weltbildes der Vorherrschaft von weißen heterosexuellen cisgender Menschen aufschwingen, die zumeist männlich sind – sie alle eint ein gruseliger Mangel an Phantasie.

Lindner kann sich nicht vorstellen, dass Jugendliche sich sehr sehr wohl mit wissenschaftlichen und ökonomischen Zusammenhängen befassen und davon mitunter sehr viel Ahnung haben – es ist genau diese Arroganz übrgens, die Greta Thunberg so häufig entgegengebracht wird. Ich verstehe es nicht: Warum soll eine Sechzehnjährige nicht einfach klüger, engagierter und konsequenter sein als jede beliebige ältere Person?

Kramp-Karrenbauer kann sich nicht vorstellen, dass sich jemand mit einer heteronormativen Männlichkeit oder Weiblichkeit nicht vollends identifizieren kann – ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es ist, Saarländerin zu sein, aber ich behaupte deswegen trotzdem nicht, dass sich Frau AKK ihre Identität nur einbildet und mache mich auf bundesweiter Bühne über ihre spinnerten Vorstellungen lustig.

Und offenbar gibt es immer noch Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass Frauen* und Männer* mit der gleichen Vernunft begabt sind und als Menschen grundsätzlich die gleiche Repräsentation im öffentlichen Raum verdienen. Dazu fehlen mir wirklich alle Worte.

Wer öffentlich, ja politisch agiert, dem*der muss doch klar sein, dass ein Minimum an Einfühlungsvermögen in fremde, ihm*ihr unbekannte Lebensentwürfe integraler Bestandteil der Jobbeschreibung ist. Keine*r von uns kann alles verstehen, geschweige denn gutheißen. Aber man muss doch akzeptieren können, dass es in der Welt mehr gibt als das, was unmittelbar zur eigenen Lebenswirklichkeit gehört. Soviel Vorstellungskraft muss sein. Denn manches ist unverhandelbar. Zum Beispiel, dass man Menschen nicht auf Grund ihres Alters oder ihres Geschlechts (und das sind nur zwei Beispiele!) diskriminiert, nur weil man dieses Alter oder Geschlecht nicht teilt. Es will mir nicht in den Kopf, warum das so schwierig ist.