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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: history (Seite 6 von 6)

Vilnius

Nach einer erfrischenden Dusche laufen Wiebke und ich zurück in die Stadt und immer der Nase nach die hübschen kleinen Straßen hinauf und hinunter. Der Himmel ist weit und blau über den niedrigen Häuserreihen, und die Altstadt scheint sich kilometerweit zu erstrecken – sie gehört zu den grössten Altstädten in Europa. Der Glockenturm der Sankt Johannis Kirche an der Universität strebt majestätisch gen Himmel, und der kurze Blick in den grossen Innenhof eröffnet eine herrliche Aussicht. Hier zu studieren muss sich schon sehr erhaben anfühlen.Wir laufen zur Kathedrale und setzen uns auf ein Mäuerchen auf dem Vorplatz, um uns gegenseitig aus unseren Reiseführern vorzulesen.

Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.

Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.

Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.

Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:

Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.

Der vollständige Text der Verfassung steht hier.

Nach dem Abendessen  sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.

Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.

Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.

Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.

Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.

Warszawa – Warsaw – Warschau

Die Sonne hängt tief als gleißende weiße Scheibe am Himmel. Es liegt ein sonderbarer fahler Dunst über den brandenburgischen Feldern, von dem ich den Eindruck habe, dass er sich schwer auf die vereinzelten Baumgruppen senken müsste, um dort als heller Kreidestaub die Äste zu zieren wie Frost. Je weiter wir nach Osten vordringen, desto wärmer und glühender wird der Sonnenball. Der Zug müffelt komisch, alt. Ich bin dieses Jahr so viel geflogen, ich bin gar nicht mehr an das langsame Reisen gewöhnt, dass mich die Entfernung wirklich spüren lässt. Nach Warschau. Nach Warschau.
Meine früheste Assoziation mit Warschau stammt aus dem ersten Polenurlaub meines Lebens. Ich bin 8 Jahre alt und fahre mit meiner Familie in einem winzigen Auto, im Interesse der Geschichte behaupte ich, es war in einem Polski Fiat, durch die Masuren, und an den Schildern auf der Landstraße steht es immer wieder: Warszawa. Warschau, erklären meine Eltern. Komisch, wieso gibt es zwei Namen für den gleichen Ort? 
Viel später entdecke ich die Stadt neu, zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Niederschlesien habe ich hier ein Training. Ich finde die Stadt grau und zunächst auch nicht mehr als einfach nur grau. Und sehr kalt, es ist Ende Januar. Aber sie soll sich mir doch noch anders erschließen: als Ort der Geschichte, die lebt und atmet bei jedem Schritt, den man in ihren Straßen tut.

Warschau war mir dennoch nie so nah wie Krakau. Aus dem Hauptbahnhof tretend fällt der erste Blick auf den Kulturpalast mit seiner imposanten Größe, der so grau ist und so ideologisch aufgeladen. Er ist nicht von der feinen und viel konventionelleren Ästhetik, die mir in Krakau an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Dafür ist es vielleicht die authentischste polnische Stadt für mich. Dreckig. Laut. Ehrlich. Geprägt von einer schrecklichen Vergangenheit, aus deren Asche sich eben kein Phönix erheben konnte, sondern eher sowas wie eine Krähe. Die ist vielleicht nicht so bunt, aber wenn man sie sich genau anschaut, erkennt man, wie elegant und wie erhaben sie sich halten kann.

Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik. 

Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.

Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.

So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.

Dubrovnik und Korčula

Ein Erlebnis in Dubrovnik habe ich vergessen zu erwähnen, und es ist es wert, erwähnt zu werden, denn es war so anders als alle meine Eindrücke von Tourismus und überfüllten Straßencafes. Ich habe mich in die kleinen Nebenstraßen der nördlichen Altstadt zurückgezogen, die schattiger sind als der Stradun, die große Prachtstraße in der Mitte der Altstadt. Es ist angenehm kühl und es gibt tatsächlich kleine schmale Treppen, auf denen kein Mensch in lautem Englisch die Stille stört. Das genieße ich, und mache mich nur unwillig wieder auf den Weg Richtung Menschenmassen. Da finde ich, und hier hatte ich sowieso noch hingehen wollen, das Museum war photo limited, in dem Kriegsphotograhie ausgestellt wird.
Im Untergeschoss ist eine temporäre Ausstellung zum arabischen Frühling mit eindrucksvollen Bildern aus Libyen, Ägypten, Bahrain und Jemen. Ich suche aber eigentlich nach den Photos aus den Kriegen auf dem Balkan seit 1991. Sie sind oben in einer digitalen Slideshow. Kinder. Weinende Kinder. Schreiende Kinder.  Schlafende Kinder. Tote Kinder. Tote Mütter. Weinende Mütter. Rennende Mütter. Rennende Soldaten. Stolze Soldaten. Lachende Soldaten. Schreiende Soldaten. Soldaten vor brennenden Häusern. Soldaten in Panzern. Soldaten kurz vorm Abfeuern. Soldaten mit Fahnen. Frauen mit Fahnen. Männer mit Fahnen. Kinder mit Fahnen. Der albanischen Fahne. Der jugoslawischen Fahne. Der Fahne des Islam. Zerfetzte Fahnen voller Blut. Menschen voller Blut. Blutige Körperteile. Arme. Gesichter. Beine. Hände.Hände die beten. Menschen die beten. Menschen die weglaufen. Menschen die schießen. Menschen die Gräber ausheben. Die weinen. Die sterben.
Da betet einer vor einem verbeulten Kreuz in einer ausgebombten Kirche.
Da liegt einer ohne Kopf vor seinem Gemüsestand.
Da hat sich einer im Wald aufgehängt.

Verstehen kann ich das alles nicht wirklich.

Es ist Zeit für Leichtigkeit. Ich fahre mit dem Shuttle nach  Korčula. Dort liegen unbeschwerte Tage vor mir. In der kleinen Gasse, die zu unserer Pension führt, sind die Granatäpfel reif, gründe Mandarinen, die innen orange, saftig und lecker sind, hängen von den Sträuchern, und über einem Tor wächst eine Frucht, die von außen aussieht wie eine längliche Aprikose, aber sich weich und hohl anfühlt wie ein Gummiball und innen aussieht wie eine Maracuja. Ulli kommt einen Tag später an, wir gehen Shrimps und Muscheln essen und Wein trinken und  kommen langsam in der heißen Sommersonne und in der reinen Urlaubsstimmung an. Am ersten ganzen Tag wollen wir den Strand suchen – daraus wird eine eher unfreiwillige zweistündige Wanderung nach Lumbarda. Umwege führen uns ins Dickicht am Rand der Schnellstraße, zu inoffiziellen Müllhalden, kleinen Steinhäuschen, kleinen Tomatenfeldern und verlassenen Ruinen mit stylischen Grafitti. Kurz nach dem Ortseingang nach Lumbarda trinken wir Cappucino in der Sonne am Ufer und breiten uns anschließend an einem Steinstrand aus. Ruhe kehrt ein.
Später in der Woche fahren wir mit dem Wassertaxi nach Lumbarda und landen jetzt am offiziellen Strand. Das Wasser scheint mir hier noch klarer und türkiser zu sein, die Sonne noch wärmer und der Sommer noch ewiger. Wir haben zwei deutsche Mädels im Gepäck, die Ulli im Zug kennengelernt hat und die zufällig in der gleichen Pension untergekommen sind. Mit ihnen erkunden wir auch abends die Stadt. Im alten Stadttor steht eine Klapa und singt so herzzerreißend schön, dass ich mich nicht trennen kann. Die Mädels laufen weiter, ich rauche in der Kühle des Tores eine Zigarette und gehe auf in den Klängen der dalmatinischen Musik.

So fließen die Tage dahin mit Sonne, Strand, Gesprächen und Lektüre weniger anspruchsvoller Bücher. Ich merke jetzt, wie wichtig das war. Als ich schließlich auf die Fähre nach Split steige, bin ich froh, dass noch sechs Stunden Sonne, Wind und Wasser auf mich warten, bis ich in Split ankomme und mich der Nachtzug wieder Richtung Norden und Richtung Alltagsrealtität bringt.

Gdańsk – Danzig II

Auf der Schiffsfahrt hinaus zur Halbinsel Westerplatte nachmittags nieselt es und es ist ziemlich kalt. Auf polnisch und deutsch schallen Informationen aus den Lautsprechern, die erklären, an welchen geschichtsträchtigen Orten wir vorbeifahren. Am żuraw, dem Krantor, an der Werft, an zahlreichen Speichern und Kränen, die unseren Weg säumen, der Festung Weichselmündung und dem Weichseldurchbruch vorbei geht es immer weiter, bis wir schließlich anlegen. Durch den Wald hindurch spaziere ich zwischen den zahlreichen anderen Ausflüglern an die Spitze der Halbinsel, an der auf einem Hügel das große Denkmal steht, das an den Ausbruch des zweiten Weltkriegs erinnert. Als „europäischen Erinnerungsort“ feiern es die Reiseführer, und als „obligatorische Station jedes politischen Staatsbesuchs“. Ich fühle mich etwas in mich gekehrt. Der Gedanke, dass dies einmal ein Ort der Sommerfrische war, bevor Militär einzog, dass hier Menschen mit eleganten Kleidern am Ufer flanierten und Kinder in den Wellen spielten, fühlt sich fremd und unwahrscheinlich an.

Das Denkmal ist groß und pompös. Ich bin eher für die stillen Erinnerungsorte, die versuchen, Gefühl zu vermitteln. Der Steinklotz vermittelt nur Härte – aber vielleicht muss das so sein an diesem Ort? Unterhalb des Hügels stehen große weiße Lettern vor dem Wald – „Nigdy więcej wojny“, Nie wieder Krieg. Ich sitze auf dem Sockel des Denkmals mit dem Blick auf die weiten der Ostsee, von wo aus der Angriff auf Polen gekommen sein muss und singe, mal wieder, leise vor mich hin. Reinhard Mey. „Mein dunkles Land der Opfer und der Täter, ich trage einen Teil von deiner Schuld.“ Aber so richtig kann ich nicht begreifen, an was für einem Ort ich mich hier eigentlich befinde.

Die Rückfahrt in die Danziger Innenstadt ist wunderbar, die Sonne ist hervorgekommen und scheint mir ins Gesicht, der Fahrtwind und eine leichte Gischt um meine Nase geben mir das Gefühl, zuhause zu sein – wie in Hamburg. Als das Krantor wieder in Sicht kommt, freue ich mich auf das Hostel und ein bisschen Ruhe. Jedoch, der Abend wird länger als vermutet – als ich ins Bett gehe, wird es draußen schon wieder hell. Es ist phantastisch, wie viele interessante und unterschiedliche Menschen man in Hostels kennen lernt, wie der Kontakt mit diesen Menschen den eigenen Horizont immer und immer wieder erweitert und wie unkompliziert Menschen, die einander bis vor Kurzem fremd waren, anteil aneinander nehmen.

Am nächsten Tag frühstücke ich mit Lea und Vroni in der Mariacka, der Frauengasse. für mich ist es die schönste Straße in der Danziger Innenstadt. Die Häuser haben alle kleine Terassen vor den Eingängen, die Straße ist schmal und bunt von den hübschen Bürgerhäusern und führt vom Wasser direkt auf die Marienkirche zu.


Kleine Schmuckgalerien und Straßenstände mit Bernsteinschmuck säumen das schmale Gässchen mit Kopfsteinpflaster. Hier kann man mit einem Kaffee durchaus die Zeit vergessen. Gerne bliebe ich länger, aber ich habe noch Pläne. Nach einem kurzen Besuch im Günter Grass Museum fahre ich heute nach Oliwa.

Es nieselt. Die Straßenbahn hält nicht dort, wo mir mein Reiseführer empfohlen hat, auszusteigen. Die Kapuze meiner Regenjacke tief ins Gesicht gezogen versuche ich, mich zu orientieren, es klappt nicht. Ich laufe also geradewegs in die Richtung, in der ich die Ostsee vermute, obwohl die eigentlich viel zu weit weg ist, um zu Fuß dorthin zu gehen. Auf der rechten Straßenseite tut sich ein Park auf. Der gefällt mir, da will ich rein – kaum schaue ich in meinem Reiseführer nach, sehe ich, dass ich hier sowieso noch hätte landen wollen. Der Park von Oliwa ist sehr alt und sehr hübsch. Ich bedaure es sehr, dass das Wetter so schlecht ist, ich hätte mich zu gerne auf eine der Bänke gesetzt und die Blumenrabatten, die kleinen Statuen, Seen und Bächlein auf mich wirken lassen. Einer der Bäume tut es mir besonders an.


Ich streichle den weißen alten Stamm. Er fühlt sich warm und sehr lebendig an, dabei sieht er so trocken und geisterhaft aus.

Direkt an den Park anschließend finde ich den Kirchhof der Kathedrale. Oliwa hat eine lange Geschichte als Sitz eines großen Klosters – ein Hort des polnischen Katholizismus und besonders spannend und spannungsreich im Verhältnis zum preußischen, protestantischen Danzig. In seiner Geschichte hat Oliwa mehrmals zu Danzig gehört, um dann wieder eigenständig zu werden. Immer noch muss die Kathedrale wohl ein wichtiger Identifikationspunkt für die Einwohner sein.

Ich stehe noch am Eingang und schalte mein Handy aus, da sehe ich schon, wie voll es in der Kirche ist. Ich hoffe erst auf einen Gottesdienst, aber es kommt fast noch besser. Es spielt jemand Orgel – und was für eine Orgel! Sie ist wunderschön und riesenhaft, mit dunklem Holz und kitschigen Engelchen, die Instrumente halten. Es erklingt die Bach Toccata und Fuge in d-moll (BWV 565). Zu den Höhepunkten beginnen sich an der Orgel vier Zimbelsterne zu drehen, und die Engel bewegen ihre Posaunen und Trompeten auf und ab. Ich finde das ein bisschen amerikanisch, aber der Organist ist wirklich gut und die Stimmung in der unfassbar schmalen, langen, hohen Kirche ganz besonders. Nach dem Stück löst sich die Masse aus ihrer kurzfristigen relativen Verzauberung, und auch ich streife noch ein bisschen durch das Kirchenschiff mit den ungewöhnlichen Maßen. An einer Wand hängt eine Tafel, auf der das Vater Unser auf Kaschubisch steht. Es liest sich lustig, es kommt mir vor als verhielte es sich zu Polnisch in etwa so wie Platt zu Hochdeutsch.

Ich wage mich wieder in den Regen und klettere noch auf den Pachołek, den Pollerhügel. Wenn das Wetter schön ist, muss die Aussicht atemberaubend sein, aber auch so gefällt mir der Blick auf die wolkenumrahmten Hügel und Freudenthal, Dolina Radości. Schließlich laufe ich noch ein ganzes Stück durch die kleinen Oliwaer Straßen, von denen viele mit herrlichen Lindenbäumen gesäumt sind, um die Stelle zu finden, an der das Haus des Professors Hanemann aus Stefans Chwin gleichnamigem Roman (in deutscher Übersetzung: „Tod in Danzig“) stehen soll – kein besonders lohnenswerter Ausflug, dort ist ein Mischgebiet, und das Haus gibt es gar nicht. Durchgefroren und klamm fahre ich wieder in die Innenstadt, ich habe mir wohl eine kleine Erkältung geholt. Im Hostel haben Vroni und Lea schon für mich mitgekocht. Noch ein Abend in ausgelassener Reiseheiterkeit liegt vor mir.

Am nächsten Morgen reicht es nur noch für ein weiteres Frühstück in der Mariacka und schon muss ich wieder zum Bahnhof. Danzig hat sich mir viel eher als Gdańsk erschlossen, ich finde die Stadt erstaunlich wenig deutsch – aber ich bin auch Schlesien gewöhnt, das wenig polnische Geschichte hat und eigentlich fast immer deutsch war, während Danzig tatsächlich auf ein wirres Hin und Her zwischen der deutschen und der polnischen Kultur und Herrschaft in seiner Geschichte zurückblickt. Schon wieder ein Ort, an den ich zurückkehren möchte. Wie gut, dass Danzig nicht weit ist von Berlin. Wenn mich das Fernweh packt, kann ich auch kurzfristig ein paar Tage dorthin fliehen. Mir würde es gefallen, wenn ich das Zuhause-Gefühl, das ich in dieser Stadt hatte, auf diese Weise vertiefen kann. Es gibt dort zumindest noch tausend Dinge zu entdecken.

Gdańsk – Danzig I

Im Zug zwischen Szczecin (Stettin) und Gdańsk bietet sich mir ein verrücktes Schauspiel beim Blick aus dem Fenster – Regen und Sonne scheinen sich alle Viertelstunde abzuwechseln, es ist nicht abzusehen, welches Wetter mich an der polnischen Ostseeküste erwartet. Ich unterhalte mich mit zwei deutschen Mädchen, die auf einer dreiwöchigen Reise Zuflucht in Polen suchen, so muss man es wohl sagen, vor den hohen Preisen in Norwegen. Als wir zu dritt in Danzig aussteigen, scheint die Sonne und es ist warm. Schon der Bahnhof selbst gibt einen Vorgeschmacke auf die Backsteinschönheit, auf die ich mich so gefreut habe, und die ich dunkel, sehr dunkel im Gedächtnis habe. Ich war schon einmal hier, 1993. Immer wieder werden Erinnerungsfetzen zurückkommen während meines Aufenthaltes.
Nach dem Einchecken im Hostel gehe ich mit Vroni und Lea essen – Pierogi ruskie, nur damit ich wieder weiß, wo ich bin. Die Tortelloni-ähnlichen Maultaschen sind mit einem quarkartigen Weißkäse und Kartoffeln gefüllt, man isst sie mit saurer Sahne. Deftig und lecker, das richtige Essen nach einem langen Tag im Zug ohne Verpflegung. Die Mädels bestellen Lachs, den ich probieren darf – er zergeht auf der Zunge! Zum Nachtisch Szarlotka, den gedeckten Apfelkuchen, warm und mit Sahne. Vroni und Lea sind begeistert und ich freue mich, dass meine kulturelle Vorbildung jemandem zugute kommt. Wir sitzen direkt am Wasser der Motława (Mottlau), große Fähren und kitschige Segelschiffe fahren an uns vorbei, eines heißt doch tatsächlich Czarna Perła – Black Pearl, wie das Piratenschiff in „Fluch der Karibik“, wenn das keine Touristenfalle ist.
Wir schlendern am Fluss und an den verschiedenen alten Stadttoren entlang, den Blick habe ich noch im Kopf und im Herzen von damals. Überall in der Stadt ist Dominiks-Jahrmarkt, ein Mitreisender im Zug hat uns das schon erzählt. Auf dem Targ Węglowy (Kohlenmarkt) stehen Fahrgeschäfte. Auf dem Długi Targ (Langer Markt) stehen Stände mit Schmuck, Nippes und Kleidung und Fressbuden. Die Sonne scheint und taucht die Stadt mit ihren Bürgerhäusern und dem roten Backstein an Toren, Kirchen, Häusern in ein warmes Abendlicht.


Es ist bezaubernd. Eine Straßenmusikerin singt leichten, sehnsüchtigen polnischen Jazz, der die Stimmung einfängt, als wäre die Musik eigens für diesen Anlass komponiert worden. Auf dem Weg zurück Richtung Hostel sehen wir einen riesiegn Regenbogen. Ich freue mich auf die Entdeckungen der nächsten Tage.

Am nächsten Morgen laufe ich zunächst an der Polnischen Post vorbei, die einen ähnlichen Stellenwert für die Polen einnimmt wie die Westerplatte, wo am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Die dezidiert polnischen Orte wurden damals gezielt angegriffen. Ein Onkel von Günter Grass hat sich bei der Verteidigung der Post engagiert und ist deswegen später standesrechtlich erschossen worden. Ein sozrealistisches Denkmal steht auf dem Platz vor dem eher unscheinbaren und wieder weitgehend hergestellten Gebäude. Es zeigt eine Nike-Figur.
Auf dem Weg hinüber zur Danziger Werft liegen auf dem aufgerissenen Straßenpflaster kleine überreife gelbe Mirabellen und eine Menge giftig roter Vogelbeeren. Es sieht herbstlich aus mit den grellbunten Farben, und das Wetter erinnert auch eher an einen warmen Oktober: nicht zu kalt, aber grau und nieselig. Ich passiere die herrliche riesige Bibliothek, erhasche durch eine Seitenstraße schon einen Blick auf das Tor der Werft und bin ein bisschen aufgeregt. Hier haben die Menschen 1970 gegen Preiserhöhungen protestiert, hier hat die Solidarność-Bewegung ihren Anfang genommen. Rechter Hand erreiche ich den Plac Solidarności – den Solidarnośc-Platz mit seinem überdimensionalen Denkmal in Form einer hohen Säule.


Es wurde schon 1980 errichtet und ist eindrucksvoll in seinem Detailreichtum, der trotzdem der Schlichtheit keinen Abbruch tut. In seiner schmalen schlanken Höhe fügt es sich in die Stadtsilhouette mit den vielen Kränen ein. Auf der einen Seite steht ein Gedicht von Czesław Miłosz: 

Który skrzywdziłeś człowieka prostego
Śmiechem nad krzywdą jego wybuchając,
 

Nie bądź bezpieczny. Poeta pamięta.
Możesz go zabić – narodzi się nowy.
Spisane będą czyny i rozmowy.

Mein Versuch einer nicht ganz linearen deutschen Übersetzung:

Der du einem einfachen Menschen Unrecht getan hast,
ein Lachen über sein Leid auf dem Gesicht,
sei dir nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer wird geboren.
Geschrieben werden die Taten und Worte.

Der Wind braust mir um die Ohren, es ist kalt und ich bin zweifelsohne in Ostsee-Nähe. Vor mir die Wand mit Marmortafeln zum Gedenken an diejenigen, die 1970 durch die Gewalt der Polizei umgekommen sind. Rechts von mir das Tor zur Werft, die früher Lenin-Werft hieß und heute wieder Danziger Werft, Stocznia Gdańska. Mir wird klar, wie wichtig Danzig tatsächlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen ist, wie stark die großen Ereignisse hier verwurzelt sind. In Krakau atmet man auch Geschichte, aber Mittelalter, k.u.k. Monarchie und Avantgarde sind dort präsenter als Zweiter Weltkrieg und Sozialismus. Hier, in Danzig, kommt man weder am einen noch am anderen vorbei. Ich beschließe, später zur Westerplatte zu fahren – davon werde ich später berichten. Erst zieht es mich jedoch in den „Vorort der Dichter“, so mein Reiseführer, nach Wrzeszcz, zu deutsch Langfuhr.

Mit der Straßenbahn ist Wrzeszcz leicht zu erreichen. Ich steige an der Aleja Mickiewicza aus – ach, eine Straße dieses Namens gibt es doch in jeder polnischen Stadt, ich bin froh, ich bin in einem fremden Land, in dem ich mich nicht fremd fühle, und ich bin glücklich, dass ich solche Orte habe. Durch unspektakuläre Straßen laufe ich auf der Suche nach dem einen Ort – da ist es, das Geburtshaus von Günter Grass, in dem auch der Protagonist der Blechtrommel, Oskar Matzerath wohnt.


Ein kurzes Zitat aus der Blechtrommel steht auf einer Plakette am Haus, es ist grau und hässlich verputzt, und trotzdem stehe ich kurz andächtig davor und frage mich, ob mein Großvater vielleicht in einem ähnlichen Haus in Danzig geboren und aufgewachsen ist.
Ein Stückchen die Straße hinunter gibt es einen kleinen Platz. Da sitzt er auf einer Bank, mit stummem Blick und seinem Instrument: Oskar Matzerath höchstpersönlich. Ich setze mich auf eine Zigarette neben ihn. Gesprächig ist er nicht – schade. Ich würde gerne von ihm hören, wo ich noch hinlaufen soll in Wrzeszcz.


Ich schließe meinen Ausflug in die Vorstadt mit einem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche. Leider ist sie zu, ich kann nur durch die Gitterstäbe ins innere schauen. Leise singe ich ein polnisches Kirchenlied. Roter Backstein, herrliche Rundbögen, weiße Wände und ein ganz besonderes Licht. Ich muss nicht zum ersten Mal an Lübeck und Greifswald denken. Die hanseatische Vergangenheit, sie trägt sicherlich dazu bei, dass ich Gdansk schon jetzt lieben gelernt habe.

Levoča, Spišský hrad und Prešov

Nach einem abend voller Lieder besuchen wir am nächsten Morgen den evangelischen Gottesdienst in Kežmarok. Da ich spät im Bett war, bin ich ein bisschen zu spät dran, die anderen sitzen schon in einer vorderen Bank in dem großen grauen Kirchenschiff. Ich leise setze ich mich in eine der hinteren Bänke. Ich versuche, das Kirchenlied mitzusummen, das gerade angestimmt worden ist. Da steht plötzlich Mikuláš Liptak, der uns am vorigen Tag die Stadt gezeigt hat, neben mir und hält mir mit einem lieben Lächeln sein Gesangbuch hin. Slowakisch ist nicht schwer zu lesen, ich kann gleich mitsingen. Von der Predigt verstehe ich aber nicht viel. Meine Gedanken schweifen ein wenig ab und mein Blick fällt auf die linke Kirchenwand. Dort ist ein Soldat abgebildet, der vor einem Engel kniet, und es steht auf Deutsch – wir befinden uns ja in der Region der Karpathendeutschen – darunter: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde.“ Es ist ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Ich finde den Spruch makaber. Für Freunde? Für ein Land, für eine abstrakte Idee! Menschen waren in den Weltkriegen auch gezwungen, Freunde zu töten, vielleicht häufiger, als für sie zu sterben.
In zwei Kleinbussen fahren wir nach Levoča, ewige Konkurrentin von Kežmarok und, wie ich finde, noch hübscher, wenn auch weniger lebendig. Es sind kaum Menschen unterwegs. Auch hier steht uns wieder ein kompetenter Stadtführer zur Verfügung: Herr Chalupecky ist Historiker und spricht wie Herr Liptak dieses reizende Zipser Deutsch mit den langgezogenen Vokalen und dem leicht gerollten R. In Kežmarok haben wir uns den ganzen Tag in ausgekühlte Gebäude angeschaut, in der Burg waren es 4 Grad. In Levoča strahlt die Sonne jetzt richtig warm und die bunten Häuser am Marktplatz leuchten. Viele sind gelb und orange. Dadurch sieht die Stadt warm und fröhlich aus. Es ist wieder zu wenig Zeit, ich würde gerne die Seitenstraßen erkunden und ein bisschen auf dem Platz vor dem Rathaus sitzen.
Anschließend bringen uns die Busse auf die Zipser Burg, Spišsky Hrad. Mitten in der weiten Landschaft steht sie grau und behäbig auf ihrem Hügel. Auf dem höchsten Turm hat man einen vollständigen Rundum-Ausblick in die weite Landschaft. Es ist windig und frisch dort oben, und herrlich in der Sonne.
Ausgehungert lassen wir uns von unseren Bussen zu einem nahegelegenen Ausflugslokal bringen. Vor dem Eingang steht ein winziger Käfig mit einem Lämmchen darin. Das arme Tier hat nicht einmal Platz um aufzustehen und mäht kläglich. Wir debattieren lange, ob wir gehen oder bleiben, zumal die Bedienung unfreundlich ist. Schließlich landen wir aber doch auf der Terasse des Restaurants. Müdigkeit und das milde Entsetzen über die Tierquälerei sind nur zu ertragen, wenn man sie nicht so schwer nimmt, und wir werden zügig unglaublich albern. Nachdem die Mägen wieder mit den gewohnt fleisch- und käselastigen Speisen gefüllt sind, geht es wieder besser und wir besteigen etwas ausgeruhter den Bus nach Prešov.
Das Hotel in Prešov ist das erste und das einzige auf der Reise, das nicht modern und schön wäre. Verwöhnt von den vorigen Unterkünften können wir uns eines leisen Erstaunens nicht erwehren, als der Bus an einem waschechten Plattenbau hält. Die Einrichtung in den Zimmern wirkt ebenfalls wie ein Relikt aus dem Sozialismus. Die meisten von uns sind sich jedoch einig, dass es nichts zu meckern gibt. Die Betten sind bequem, es ist nicht ungepflegt und überhaupt hätte man ja sonst schon fast vergessen, dass man in Ostmitteleuropa unterwegs ist. In der Tat scheint die Slowakei in vielerlei Hinsicht mitten in Europa angekommen zu sein – Schengen, Euro und Turbokapitalismus haben das ihrige dazu getan. In den nächsten Tagen werden uns jedoch noch einige Menschen und Situationen begegnen, die auch die Rückstände des Landes aufzeigen. All das ist jedoch weit weg, als ich auf dem Balkon unseres kargen Zimmers stehe und in den Sonnenuntergang schaue. In der Ferne auf einem Hügel ragt ein hübscher Kirchturm in den Himmel. Während die Sonne rot am Horizont untergeht, wird seine Silhouette immer schwärzer und schwärzer. Angesichts dieses ausgesprochen romantischen Naturschauspiels fallen die Plattenbauten in direkter Umgebung kaum mehr ins Gewicht.
Am nächsten Tag haben wir morgens Programm an der Universität und eine ausgesprochen schlechte Stadtführung. Das ist schade, lieber hätten wir uns die Stadt unter diesen Umständen unabhängig angeschaut, aber man kann ja vorher nicht wissen, wer so etwas gut macht und wer nicht.
Umso spannender wird der Nachmittag. Wir treffen uns mit Roman Čonka, dem Chefredakteur der Romazeitung Romsky Novy List. Er stößt beim Mittagessen zu uns, und als er den Raum betritt, kann ich erst gar nicht zuordnen, wer dieser indisch aussehende Mensch sein mag. Er hat ein gutes Gesicht und eine feine, höfliche, jedoch entschiedene Stimme. Martin übersetzt ins Deutsche, was uns Herr Čonka auf Slowakisch erzählt. In einer unserer Fragen geht es um die Sprache in der Zeitung. Martin übersetzt: „Die meisten Artikel sind auf Slowakisch, weil eben viele Roma nicht lesen können…“ und korrigiert sich sofort: „… nicht Romani lesen können.“ Eine Auseinandersetzung mit der Minderheit der Roma ist hier zwangsläufig politisch stark aufgeladen. Ein harmloser Versprecher kann einem sehr unangenehm sein. Dies ist umso mehr der Fall, dass wir am Morgen im Gespräch mit den slowakischen Studierenden befremdliche Reaktionen auf das Thema der Roma erfahren haben. Glaubt man einigen Aussagen, so geht es den Roma im Gefängnis sowieso am besten. Abgesehen davon werden die Roma ohnehin nie als solche bezeichnet, stattdessen ist der gute alte „Zigeuner“ gängig. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Mangel kultureller Sensibilität bei manchen meiner Bekanntschaften in Ungarn und wünschte, ich hätte ein Rezept, Vorurteile und Ressentiments einfach auszuradieren. Mir fällt jedoch nichts anderes ein als Bildungsarbeit. Die wird laut Roman Čonka auch betrieben – aber weit kann es damit noch nicht sein, wenn junge Akademiker ein so eingeschränktes Bild von dieser großen Minderheit im eigenen Land haben.
Wir gehen anschließend ins Russinentheater. Die Russinen oder Ruthenen sind eine weitere Minderheit in der Slowakei und eine ostslavische Bevölkerungsgruppe, den Ukrainern verwandt. In dem kleinen Theater werden Stücke auf Ukrainisch und Russinisch gespielt. Der Herr vom Theater spricht ebenfalls russinisch mit uns – es hört sich an wie panslavisch, ein bisschen ukrainisch, ein bisschen russisch, ein bisschen polnisch, ein bisschen slowakisch. Ich schaue mir die Requisiten am Rand der Bühne an – ein Pferdekopf, Ritterrüstungen, ein Thron. Über der Bühne hängt ein verschlissener roter Vorhang, dahinter ein transparentes schwarzes Rollo mit einem Hügelmuster darauf. Der Scheinwerfer dahinter wirft sein fahles Licht auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

In Mostar leben – Impressionen

Das Hostel hat zwei Zweigstellen. Meine liegt direkt am Ufer der Neretva. Das Haus hat frueher Batas und Majdas Grosseltern gehoert. Es ist hell und geraeumig. Majda pflanzt Blumen im Hof. Ich schlafe im Gemeinschaftsraum in einem Bett mit weissen Laken. Sie erinnern mich an fruehere Griechenlandurlaube mit meiner Familie.

Wenn ich von der kleinen Terasse aus dem Tor trete, trennt mich nur ein asphaltierter Basketballplatz vom gruenen Wasser des Flusses. Nur ein paar hundert Meter flussabwaerts erhebt sich majestaetisch die Alte Bruecke. Sehen kann man sie von hier aus nicht, aber ihre Praesenz ist in der Stadt ja stets allgegenwaertig.

Ich sitze in der Abendsonne auf dem Maeuerchen vor dem Hosteltor und rauche eine Zigarette. Der Himmel faerbt sich langsam rosa ein. Ein Schweizer, der im Hostel wohnt, spielt mit einem Haufen bosnischer Jugendlicher Basketball. Zwei weitere Grueppchen von Kindern und Jugendlichen verteilen sich ueber den Platz. Lautes Lachen, Schreien und Triezen erklingt von dort unten. Von den zwei nahegelegenen Moscheen beginnen die Muezzine zum Abendgebet zu rufen. Es ist als wuerfen sie sich die Zeilen aus dem Koran gegenseitig zu. Auf dem Asphalt am Rande des Basketballplatzes stehen in bunten froehlichen Farben die Worte „Strpljenje – Uzdržljivost – Prijaznost“ – Geduld – Maessigung – Freundschaft – und auf der anderen Seite „Ljubav – Radost – Dobrota“ – Liebe – Freude – Guete. Hinter dem Platz ragen Brueckenpfeiler aus dem Wasser, die keinen Steg mehr tragen. Es dunkelt ganz langsam, Muetter rufen ihre Kinder von Balkonen nach hause, „ajde!“, „dođi!“ Es liegt Frieden ueber Mostar, der geteilten Stadt.

Ich gehe noch einmal in das ausgebombte Bankgebaeude, das alle nur als „Snipers‘ Nest“ bezeichnen. Direkt unter mir liegt das frustrierend bunt restaurierte Gebaeude des Gymnasiums. Es wirkt deplaziert. Aber welche Schule, die Segregation betreibt, koennte schon so wirken, als gehoere sie dahin, wo sie steht. Im Kanton Herzegovina-Neretva gehen bosnische und kroatische Kinder und Jugendliche in unterschiedliche Klassen. Sie haben unterschiedlichen Sprach- und Geschichtsunterricht. Sie lernen, dass sie sich unterscheiden. Sie lernen, die Spaltung der Ethnien in ihrer Gesellschaft fuer normal und richtig zu halten. Der Gedanke tut mir in der Seele weh.

Morgens und abends ist es im Hostel am geschaeftigsten. Da kommen Leute an und fahren ab, sie brauchen Fruehstuck, es gilt unterschiedliche Taxis, Pick-ups und Drop-offs zu organisieren, Schluessel werden eingesammelt und ausgeteilt. Batas und Majdas Mutter, sie heisst fuer uns alle nur Mama, sorgt fuer die Verpflegung. Heute morgen gibt es Ruehrei, Tomaten, frische Feigen, Brot mit cremiger Butter und Marmelade. Das beste kommt zum Schluss: Bosanska kahfa, bosnischer Kaffee. Es gibt ein ganzes Ritual dazu, wie dieses koestliche Getraenk zu geniessen ist. Das macht die Bosanska kahfa zum sozialen Ereignis mehr als nur zu einem Wachmacher am Morgen. Mama serviert mit so viel Liebe, dass auch die zoegerlichsten zugreifen. Bosnische Gastfreundschaft und das Lebensgefuehl des Balkans eroeffnen sich im morgendlichen Fruehstuecksritual. Es macht dieses Hostel so einzigartig, dass die Familie versucht, das alles auch den Reisenden zu eroeffnen.

Veliko Tarnovo / Varna / Burgas

Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal mit dem Zug gefahren bin, ich glaube es war zwischen Sarajevo und Mostar. Zwischen Plovdiv und Stara Zagora faehrt ein alter deutscher Regionalexpress. Es ist immer wieder seltsam, in einem fremden Land in einem Zug, Bus oder einer Strassenbahn aus Deutschland zu sitzen. Meistens sind die Schildchen – „Nicht aus dem Fenster lehnen“, „Notbremse nur im Notfall benutzen“, „Waehrend der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen“- unuebersetzt oder nur provisorisch mit bedruckten Aufklebern ueberklebt.
Wie wir es aus dem Regionalexpress von jeher kennen, gibt es auch hier nicht ausreichend Platz fuer Gepaeck. Mein Rucksack ist staendig im Weg und faellt auch immer um. Mein Sitznachbar fragt mich schliesslich „Na gore?“- „Nach oben?“ und zeigt auf ein Gepaecknetz, und ich nicke engagiert. Er guckt verwirrt. „Ne?“- „Nein?“ Ach du meine Guete, das geht hier ja andersrum mit dem Kopfschuetteln und dem Nicken! Ich sage schnell: „Da, da!“ und nicke wieder – ach nein, wieder falsch! und wechsele dann zum Kopfschuetteln. Ich glaube der arme Mann haelt mich fuer ein wenig seltsam, aber mein Rucksack landet schliesslich auf der Ablage. In Stara Zagora muss ich umsteigen, die Zeit ist knapp, ich laufe auf das zweite Gleis und frage einen Schaffner, der da neben dem Zug sitzt: „Veliko Tarnovo?“ Er schuettelt den Kopf und sagt „Tarnovo, da!“ Gott sei Dank ergaenzt er die Geste um die Worte, auf die ich mich immerhin verlassen kann, sonst waere ich sicherlich endgueltig verwirrt am Bahnsteig stehen geblieben.

Veliko Tarnovo ist heiss. Jeder andere Eindruck verschwindet zunaechst hinter den Temparaturen, es sind wohl an die 40 Grad. Trotzdem mache ich mich nachmittags auf, um auf die Festung Tsaravets zu klettern. Sie ist riesig und ausgesprochen gut erhalten.

Am hoechsten Punkt steht eine Kirche, die mich schwer beeindruckt. Sie ist mit Fresken aus den 1980er Jahren geschmueckt. Ich tue mich sonst so schwer mit moderner Kunst, aber die Waende hier sprechen mich wirklich an. Neben christlichen Motiven finden sich wohl auch Bezuege zur bulgarischen Geschichte. Ich kenne mich leider viel zu wenig aus um irgendetwas zuordnen zu koennen, aber das ist nicht so schlimm. Die Figuren sprechen ihre eigene Sprache, mit der sie Leid und Triumph zum Ausdruck bringen. Abends gibt es im Hostel das Fussballspiel gegen Australien. Ich gehe nach dem 4:0 ausgesprochen gutgelaunt zu Bett.
Am naechsten Tag organisiert das Hostel einen kleinen Trip zu einem nahen Kloster, wo wir versuchen, Fresken bestimmten biblischen Geschichten oder mythologischen Figuren zuzuordnen und schliesslich dahinterkommen, dass das grosse Bild an der Klosterwand den Wechsel der Jahreszeiten darstellt. Alles ist hier von aussen ein bisschen heruntergekommen, aber das Innere der Klosterkirche strahlt im ganzen traditionellen Glanz. Anschliessend fahren wir zum Hotnica-Wasserfall. Wir schwimmen im gruenen Wasser des Flusses und springen die zwei oder drei Meter den Wasserfall hinunter. Eine herrliche Erfrischung!

Ich mache mich zwei Tage spaeter fast etwas wehmuetig auf nach Varna – obwohl oder gerade weil ich in Veliko Tarnovo noch lange nicht alles gesehen habe, hat es mir dort ausgesprochen gut gefallen und ich haette noch viel mehr Zeit dort verbringen koennen. Die Kueste lockt jedoch mit ihren etwas kuehleren Temparaturen. Meine Gastgeberin Boyana kommt mich in Varna vom Bus abholen und wir laufen zu ihrem am Rande des Zentrums gelegenen Appartment, das sie mit ihrem Freund Niki teilt. Vom Balkon aus sehe ich schon das Schwarze Meer, da haelt es mich nicht mehr und ich laufe gleich in die Stadt. Ich bin erstaunt ueber die Schoenheit des Zentrums. Es erinnert mich stark an Opatija in Kroatien und hat viel von oesterreich-ungarischem Kurort-Pomp – wie kann das sein? Die Bulgaren haben das von osmanischer Architektur gepraegte Zentrum Ende des 19. Jahrhunderts nach westlichem Vorbild umgebaut – alles fuer die Distanzierung vom „Joch der tuerkischen Herrschaft“. Niki spricht, vielleicht in Ermangelung besserer Englischkenntnisse, sogar von „Slavery“, wenn es um die tuerkische bestimmte Vergangenheit Bulgariens geht.
Und schliesslich erreiche ich durch den Primorski Park, den Park am Meer, den Stadtstrand von Varna und sitze am Ufer des Schwarzen Meeres. Es ist graugruener als das Mittelmeer und mir dadurch sehr vertraut. Wild, aber bestaendig. Aus irgendeinem Grund ist mir seine Endlichkeit sehr bewusst. Am Ufer von Ostsee und Mittelmeer erscheint mir der Horizont in aller Regel unbeschreiblich weit, als kaeme niemals Land dahinter. Hier denke ich unmittelbar daran, dass auf der anderen Seite des Meeres Asien liegt und die Weiten Russlands. Es weht ein leichter Wind, der mir den Kopf frei macht. Das Mittelmeer ist wunderbar, es ist ein Urlaubsmeer zum Schwimmen und Strandliegen. Das Schwarze Meer, wie meine geliebte Ostsee, ist zum Spazierengehen und Horizontgucken. Es bringt mich anders zur Ruhe.

Am naechsten Tag verbringe ich den Morgen am Strand und nachmittags gucken Boyana, Niki und ich das Spiel gegen Serbien, naja, reden wir nicht weiter darueber. Niki geht anschliessend mit mir an den Hafen. Er erklaert mir viel bulgarische Geschichte und wir schauen den Segelschiffen zu, die mit bunten Spinnaker in den Hafen einlaufen.

Die naechste Station heisst Burgas. Es ist eın beschauliches Staedtchen mit Kuestenflair, in dem ich zwei ruhige Tage mit viel Fussball und guten Gespraechen mit meiner Gastgeberin Dora und ihrer Cousine Galina verbringe. Von dort bin ich heute nacht nach Istanbul gereist, das einen eigenen Blog verdient. Es ist bislang noch unbeschreiblich. Mein Bild muss sich erst noch festigen. Soviel vorweg: Ich finde es phantastisch.

Mostar und Umgebung / Travnik / Jajce / Banja Luka / Sarajevo

Die Busfahrt von Split nach Mostar eroeffnet wieder Ausblicke, die mich sprachlos machen. In Kroatien werden die Berge immer hoeher und der Blick ueber die Adria wird immer weiter. Hinter der bosnischen Grenze (diesmal Passkontrolle, aber kein Stempel, ich bin fast ein bisschen enttaeuscht) ist alles weicher und gruener. Die Landschaft ist so harmonisch und friedlich, der Krieg, den man mit Bosnien doch so haeufig als erstes assoziiert, er kommt mir gar nicht in den Sinn. Auffaellig nur die grosse Anzahl kleiner Schrottplaetze mit ausgenommenen Autos deutscher Hersteller… ein paar Stereotypen muss wohl jedes Land bedienen.

Die Ankunft in Mostar ist ziemlich dramatisch. Erst will der Busfahrer mit mir was trinken gehen. Nein danke. Dann setzt er mich irgendwo ab und behauptet, die Innenstadt waere ganz nah. Da der Busbahnhof laut Karte tatsaechlich irgendwo in der Wallachei liegt, glaube ich ihm, steige aus und verlaufe mich hoffnungslos. Da stehe ich dann auch ploetzlich zwischen Kriegsruinen und alles ist ein bisschen unheimlich. Nach einer Stunde finde ich das Hostel, habe, hurra, erstmal einen Asthmaanfall vor lauter Aufregung und bin ganz schoen k.o. Keine halbe Stunde spaeter lachen mich die anderen Hostelgaeste aus, weil ich schon voellig wiederhergestellt bin und ausgesprochen gute Laune habe. So kann es gehen. Das Hostel wird von Majda und Bata betrieben, Geschwister um die 40, und liegt in einer Wohnung in einem Plattenbau. Die Stimmung ist unheimlich familiaer und gemuetlich und man muss sich einfach sofort wohlfuehlen.

Am naechsten Tag bietet Bata eine Tour durch die Region an. Fast alle Hostelgaeste fahren mit, und es ist nicht zu irgendjemandes Schaden. Zuerst bringt Bata uns nach Međugorje. 1981 hatten hier auf einerm einsamen Berghuegel sechs Teenager eine Vision der Heiligen Jungfrau Maria. Seitdem ist der Ort eine Pilgerstaette und wird jaehrlich von bis zu 2 Millionen Menschen besucht. Alles fuehlt sich ein bisschen nach Disneyland an, weil der Ort eigentlich nur aus Restaurants, Souvenirlaeden und Hotels besteht, viel Plastik und Pappe. Aber was fuer eine Macht der Glauben haben kann! In naher Zukunft will der Vatikan die Vorkommnisse ueberpruefen, bislang ist der Vorfall nicht offiziell anerkannt, und trotzdem diese Menge von Pilgern!
Die zweite Station heisst Kravice. Hier gibt es einen wunderbaren Wasserfall von fast 30 Metern Hoehe. Wir baden im eiskalten Wasser, stehen unter Nebenwasserfaellen, und springen mit einem Seil in den Gebirgsfluss. Herrlich!

Weiter geht es nach Počitelj. Das mittelalterliche Dorf war bis zum Krieg ganz regulaer bevoelkert, ist aber 1993 ethnischen Saeuberungen zum Opfer gefallen und wurde weitestgehend zerstoert. Einiges ist heute wieder aufgebaut, und der Blick vom Burgturm auf die gruene Neretva ist so schoen, dass es mir die Traenen in die Augen treibt. Wir kehren bei einer der letzten Bewohnerinnen des Dorfes ein und werden mit Kirschstrudel, bosnischem Kaffee (der uns meistens als tuerkischer Kaffee bekannt ist) und selbstgemachtem Minz-, Salbei- und Granatapfelsirup bewirtet.

Der letzte Halt ist Blagaj, eine Pilgerstaette fuer Moslems mit einer herrlichen Tekke und der Quelle des Flusses Buna. Das erste Mal auf dieser Reise muss ich ein Kopftuch tragen. Ich habe noch viele Diskussionen darueber vor mir, aber ich finde es nicht unangenehm. Blagaj ist ein wirklich zutiefst spiritueller Ort. Ich moechte gerne wiederkommen.

Die ganze Tour ueber versorgt uns Bata mit Informationen ueber die Region, den Krieg, seine Lebensgeschichte und die bosnische Kultur. Er hat unglaublich viel zu teilen, und es ist ein Geschenk, dass er bereit ist so offen darueber zu sprechen. Seine ganze Familie musste im Krieg fliehen, und die Dinge, die sie vorher gesehen haben muessen, entbehren jeder Beschreibung. Ich scheue mich davor, zu viel hier niederzuschreiben. Wer die Geschichten hoeren will, soll selbst nach Mostar fahren.

Wir kommen erst spaet nach Mostar zurueck und deswegen habe ich am folgenden Morgen nur noch wenig Zeit fuer die Stadt. Sie begeistert mich. Sie ist bunt und froehlich und lebensfroh. Die Menschen scheinen aus den Erfahrungen des Krieges einen besonderen Ueberlebenswillen gezogen zu haben. Maedchen mit und ohen Kopftuch sitzen gemeinsam beim Kaffee und schnacken. Die Souvenirstaende mit den herrlichen Schals und Schmuckstuecken nehmen Euro und Bosnische Mark und ueberall spricht man Englisch. Die Bruecke, die beruehmte, sie trohnt ueber allem. Ein herrliches Fleckchen Erde!

Nach einem kurzen Zwischenstop in Sarajevo (ich hoere das erste Mal in meinm Leben den Muezzin vom Minarett zum Gebet rufen, ich finde es wunderschoen!) brechen mein Gastgeber Nagy, ein Kumpel Fatih und ich am Samstag frueh morgens in den Norden Bosniens auf. Nagy und Fatih kommen aus der Tuerkei und arbeiten beide an einer hiesigen tuerkischen Privatuniversitaet. Beide sind glaeubige Moslems und zwischendurch muessen wir das ganze Wochenende immer mal wieder eine Moschee suchen, weil die beiden beten muessen. Wenn man wirklich will, kann man sowas ja echt in jeden Tagesablauf integrieren! Ich frage viel zum Islam, wir haben eine kleine Kopftuchdiskussion und nebenbei geniessen wir die Schoenheit von Travnik und Jajce.

Banja Lukas, unser Ziel fuer den Tag, ist dagegen erschreckend nichtssagend und beinahe haesslich. Abends treffen wir uns mit ortsansaessigen Couchsurfern – noch eine Kopftuchdiskussion. Ich bin mir in meiner Meinung darueber noch nicht ganz klar, aber die staendige Auseinandersetzung mit dem Thema ist ziemlich spannend. Am naechsten Tag geht es ueber Krupa na Vrbasu, einem Mini-Plitvice, wieder zurueck nach Sarajevo.

Sarajevo selbst ist eine sehr bunte Stadt, und die Kriegswunden stoeren die Aesthetik des Ortes nur bedingt. Zumindest atmet man hier Geschichte, ein bisschen wie in Berlin. Das tuerkische Viertel Baščaršija ist voller Leben und ich moechte am liebsten ueberall Schmuck und Tuecher und Roecke kaufen. Ich sitze an beiden Tagen, die ich hier verbringe, stundenlang vor der grossen Moschee und betrachte das Treiben dort. Auch Kopftuecher folgen unterschiedlichen Moden: alte Muetterchen in traditionellen Farben, stylishe junge Frauen mit abgestimmten Outfits. Abends fahren Nagy und ich zur Festung hoch und geniessen einen herrlichen Blick auf die Stadt. Ich besuche auch das Tunnelmuseum, das den Eingang des Tunnels zwischen Sarajevo und dem freien bosnischen Territorium waehrend der Belagerung 1992-1995 bewahrt. Es hat ein bisschen was von Berliner Luftbruecke und ist sehr bewegend.

Morgen kommt noch mehr Auseinandersetzung mit dem Krieg: Es geht nach Vukovar in Kroatien, das schwer beschaedigt worden ist. Mich macht es ganz verrueckt, dass das erst so kurz her ist und ich so wenig darueber weiss. Nach Vukovar steht Serbien auf dem Plan. Darauf bin ich sehr gespannt, denn Kroaten und Bosnier haben, wenn es um den Krieg geht, doch meistens die Serben als den gemeinsamen Feind genannt. Dort begegnet mir sicher eine neue Sicht auf den Krieg.

Berlin II

In den letzten 8 Tagen, die ich hier verbracht habe, habe ich mir die Stadt von Osten kommend erwohnt.
Treptow ist ein Stadtteil, wie er in vielen deutschen Großstädten gelegen sein könnte. Ein bisschen grau und irgendwie ganz normal. Es erschlägt einen nicht gleich mit voller Kraft diese Empfindung, dass man in Berlin ist. Ich habe das sonst an vielen Stellen in dieser Stadt, dieses Gefühl, dass dir jede Ecke entgegenwirft, ein Teil Berlins zu sein und als solcher unglaublich besonders. Faszinierend ist aber, dass auch Treptow nicht beliebig ist oder langweilig, sondern ebenso einen Berlinstolz in sich trägt wie die Stadtteile, in denen ich danach Station gemacht habe. Es ist dort nur ein bisschen subtiler.
Friedrichshain ist viel plakativer, was das angeht. Am Frankfurter Tor stehe ich und schaue auf die Karl-Marx-Allee, die ehemalige Stalinallee, und mich versöhnt dieser Ort ein wenig mit der Tatsache, dass es den Palast der Republik nicht mehr gibt. Dessen Abwesenheit habe ich auf einem Spaziergang vom Alex zur Museumsinsel empfunden wie eine Wunde im Stadtbild, fast schon wie eine Wunde am eigenen Körper. War der Palast der Republik auch die vielleicht noch so hässliche Narbe, die zurückblieb, nachdem das Stadtschloss gesprengt wurde – jetzt versucht man, diese Narbe wegzulasern und bildet sich ein, dass sie dadurch unsichtbar würde. Ein, wie ich glaube, fataler Irrtum. Nun, Friedrichshain trägt weiter das Gesicht dieses Teils deutscher Geschichte, und es ist siffig und dreckig und links und stolz darauf. Es ist eine sehr ehrlich Gegend.
In Kreuzberg macht sich bemerkbar, was so viele junge Menschen nach Berlin zieht. Es ist ein Gefühl von kreativem Idealismus. Es ist auch ein Gefühl von Szene. Viel reflektieren die Bewohner von Berlin, wie schnell sich derzeit ein Stadtteil verändert. Es geht dabei meistens um den Punkt, an dem aus einem schönen, jungen Standort neuer, kreativer und aufregender Läden, Einrichtungen und Ideen ein Ort entsteht, in dem genau dieses Lebensgefühl zu einer kultivierten Szene stilisiert wird und dadurch seinen Charme verliert. Als Nicht-Berlinerin hat mich der Zauber noch voll ergriffen, und ich habe in Kreuzberg ein Berlin gesehen, das auch mich reizt und herausfordert, das mich lockt und in Versuchung führt mit seiner Sucht nach Leben.
Schließlich bin ich nun in Mitte. Hier ist es zunächst einmal ein bisschen glatt gegenüber den vorigen Stadtteilen, eben und gerade. Gepflegt. Schön. Aber eben doch Berlin und unter der Oberfläche wilder und freier als die entsprechend schicken Stadtteile von Hamburg. Ich bin begeistert von Berlin wie eh und je, und zwar deswegen, weil es mich auch in Mitte, das es mir einfach zu machen scheint, immer noch anstrengt und herausfordert mit seinen tausend Möglichkeiten und seinem Hang zu Überraschungen.
Übermorgen breche ich vom Hauptbahnhof auf nach Wien, mit dem Zug über Tschechien. Berlin präsentiert sich auf der Stadtbahnstrecke von Zoo bis Ostbahnhof von einer Schauseite mit Gedächtniskirche, Siegessäule, Reichstag, Bundeskanzleramt, Museumsinsel, Dom und Fernsehturm. Immer wenn ich dort entlangfahre werde ich ganz aufgewühlt, weil mich diese Schaustücke daran erinnern, was Berlin alles dahinter ist und sein will und was es vom Menschen fordert, der sich dort aufhält. Ich habe es als Besucher wie als Bewohner immer als eine herausfordernde Aufgabe empfunden, in Berlin zu sein. Ich mag Herausforderungen.
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