An meinem Geburtstag wache ich morgens auf, drehe mich im Hostelbett, schlage langsam die Augen auf und mir gegenüber sitzt Wiebke, in der Hand ein Obsttörtchen mit einer brennenden Kerze und grinst mich an. Mich überfällt ein großes Gefühl von Dankbarkeit, Glück und Liebe, für diese Freundin und für alle Menschen, die auf dieser Reise um mich sind. Ich strahle. Im Common Room des Hostels hängt an der Tür ein Zettel, dekoriert mit einer Traube von Luftballons, darauf steht: „Happy birthday, Mariella!“ Ich könnte die ganze Welt umarmen. Man sollte an jedem Morgen Grund haben, sich so zu freuen – und wenn gerade kein Grund in Sichtweite ist, sollte man sich an Dinge erinnern, die einem einen Grund geben. Denn das Leben ist herrlich, heute besonders.
Um 10 müssen wir an der kleinen Touristeninfo sein. Dort wartet bereits eine kleine Menschenmenge, die sich ebenfalls für den Ausflug in den Lahemaa-Nationalpark angemeldet hat. Wir werden in zwei Gruppen zu je acht Personen aufgeteilt und in Minivans verladen. Unser Guide stellt sich vor: „My name is Yevgeniy, but that’s difficult to say for many people, so just call me JJ.“ Jewgenij, denke ich, das klingt aber nicht estnisch. Wenig später sagt er beiläufig, dass es vielleicht interessant sei zu wissen, dass er Russe sei. Einige Fragen kommen daraufhin aus der Gruppe – ob er die estnische Staatsbürgerschaft habe? Natürlich, er habe die russische nicht. Was er von Putins Politik halte? Das habe nichts weiter mit ihm zu tun, schließlich wohne er nicht in Russland und für ihn sei etwa die Politik der Europäischen Union von weitaus größerer Bedeutung als die Russlands. Trotzdem fühlt er sich als Russe. Ich überlege, ob er jetzt ein estnischer Russe ist oder ein russischer Este. Ich frage ihn, ob er zuhause nur Russisch spricht. Ja, aber seine Eltern seien so klug gewesen, ihn auf die estnische Schule zu schicken, so dass er beide Sprachen gleich gut spricht. Ich muss lachen. Mit den seltsamen Vokalen im Estnischen und der Menge an Konsonanten im Russischen, sage ich zu ihm, muss er ja in der Lage sein, fast jeden Laut zu produzieren, den europäische Sprachen so hergeben. Er grinst verlegen.
Die Autofahrt führt uns zuerst durch eine große Plattenbausiedlung mit riesigen grauen Hochhäusern. JJ beschreibt sie als eine Art Russenghetto, und er spricht von den Vorurteilen gegenüber der russischen Minderheit in Estland. Die Kriminalität in dieser Gegend, sagt er, folgt nicht aus der Nationalität, sondern es handelt sich um ein soziales Problem. Die Menschen hier können oft kein Estnisch, sie haben einen niedrigen Bildungsstand, finden keine Arbeit. Ich freue mich sehr, dass wir einmal die russische Perspektive auf die ethnische Spaltung des Landes bekommen. JJ ist sicher nicht der typische Russe, er ist nicht einer von denen, auf denen die Vorurteile basieren, er ist einer, der die Vorurteile zerstreuen kann. Er äußert sich naturgemäß sehr differenziert zu den Belangen der Russen in Estland, und es ist spannend ihm zuzuhören.
Es geht an der Autobahn zum Jägala Juga, dem größten natürlichen Wasserfall Estlands. Es ist Hochsommer, deswegen führt er nicht so viel Wasser und füllt nur die Hälfte der Kalksteinkante. Das sieht lustig aus, ein bisschen abgebrochen.
Wir bleiben hier nur kurz, um anschließend im Nationalpark ein Stück durch den Wald zu spazieren und uns eine alte sowjetische Wasserkraftanlage anzuschauen, die dort unbenutzt vor sich hinmodert. Die schweren Betonplatten sind moosüberzogen, eine Industrieruine am Grunde des tiefen, dichten Waldes und ein eindrucksvolles Denkmal estnischer Geschichte. Hier erzählt JJ auch noch einmal etwas über die Sowjetzeit, und er sagt etwas, von dem ich nicht behaupten kann, dass ich damit uneingeschränkt einverstanden bin, was mich aber dennoch zum Nachdenken bringt: „Hitler was a horrible man, but in my personal opinion, he killed people he thought were his enemies, and he did it in public. Stalin killed his own people, and he did it secretly.“ So einfach ist es natürlich nicht, und Vergleiche soll man sowieso nicht anstellen. Es zeigt vielleicht nur umso eindrücklicher, wie in diesem Teil Europas historisches Leid gewichtet wird.
Der Kontrast zur nächsten Station könnte nicht größer sein. Wir machen Halt an einem der alten deutschen Herrenhäuser in Sagadi. Was Epp gestern über die deutsche Bevölkerung gesagt hat, hier gewinnt es Gestalt: Die Deutschen waren zuhause vielleicht arm, hier waren sie Herren über wunderschöne Anwesen.
Am Eingangstor sind zwei Platten mit Inschriften auf Deutsch in den rosa gestrichenen Stein eingelassen – Bitten für die Altvorderen und für die Nachkommen, aus dem späten 18. Jahrhundert, in altmodischer, feierlicher Sprache. Sie erinnern mich an die Grabinschriften auf Friedhöfen in Niederschlesien – aber hier findet sich deutsches Erbe mal nicht auf einem Friedhof, nicht im Zusammenhang mit Krieg oder Vertreibung oder Unrecht, sondern einigermaßen unschuldig. Oder denke ich das nur, weil ich nicht genug über die Geschichte der Baltendeutschen weiß? Zumindest rühren mich diese Tafeln irgendwie. Wir schreiten in der Gruppe durch den Garten des Anwesens. Wunderschöne Blumen, ein hübscher, etwas verwilderter Gartenteich, und die Sonne wagt sich vorsichtig durch die graue Wolkendecke. Architektonisch bildet die Pracht des Herrenhauses wirklich einen Kontrast zu dem, was ich bisher in Tallinn am eindrucksvollsten fand – den hübschen kleinen Holzvillen in Catherinenthal. Wir schauen uns das Haus nicht von innen an, vermutlich hätte mich das auch völlig aus dem Bewusstsein, in Estland zu sein, herausgerissen.
Weiter geht es mit dem Auto über Võsu, eine der größeren Siedlungen im Park mit etwa 500 Einwohnern, nach Käsmu: ein entzückendes kleines Fischerdorf auf der östlichen Seite der gleichnamigen Halbinsel. Hier gibt es im kleinen See-Museum Mittagessen – frischen Lachs mit Pellkartoffeln und einer herrlichen Joghurt-Dill-Sauce. Ich habe vielleicht noch nie so guten Fisch gegessen. Dazu stehen große Karaffen mit Blaubeersaft auf dem Tisch, in dem die Früchte obenauf schwimmen, und zum Nachtisch Butterkuchen. Die Tafel ist entzückend hergerichtet mit blauweißem Porzellan und einer hübschen Tischdecke, und durch das Fenster, das mit blauen Glasflaschen dekoriert ist, hat man einen traumhaften Blick auf die Bucht, die jetzt unter einem strahlend blauen Himmel leuchtet.
Wir bekommen auch eine kleine Führung durch das Museum mit ein bisschen Seemannsgarn und hübschen Anekdoten zur Geschichte der Fischerei in Käsmu. Anschließend schauen wir uns draußen noch um. Ein kleiner Leuchtturm aus Holz schmiegt sich malerisch in die sanften Hügelchen am Ufer, und dann steht da noch ein abgerissener Aussichtsturm. Wiebke und ich klettern hoch. Der Blick ist einfach bezaubernd schön, die Sonne lacht, und ein leichter Wind weht uns um die Nase. Das Meer… Ich kann mir nicht helfen, Berge können mit dem Meer einfach nicht mithalten.
Schon wieder müssen wir in den Van klettern. Bei der nächsten Station habe ich ein bisschen die Orientierung verloren, aber ich vermute, dass wir zwischen Virve und Hara in dem Gebiet sind, dem gegenüber die kleine Hara-Insel liegt, die früher Militärgebiet war. Am Strand tut sich vor uns erneut eine Industriruine auf. JJ erklärt, es handle sich dabei um eine Demagnetisierungsanlage für U-Boote. Es dauert ein bisschen, bis ich das Prinzip verstanden habe. U-Boote können über das Magnetfeld, das sie erzeugen, geortet werden. Die Sowjets haben deshalb ihr U-Boote an diesem Ort mit Hilfe von Elektrizität so präpariert, dass sich das magnetische Feld unter Wasser verändert und sich nicht mehr von dem der Umgebung unterscheidet. Natürlich ist die Anlage inzwischen seit vielen Jahren nutzlos und verfällt ebenso wie die Wasserkraftanlage im Wald. Über Scherben und verrostete, abgebrochene Stahlträger klettern wir auf dem Rest des Gebäudes und auf der Mole herum.
Wir schauen auch einmal kurz in eine der früheren Hallen hinein. JJ weist uns darauf hin, dass sich diese zwei Inschriften auf den Trägern direkt gegenüberstehen:
Raucherbereich
Nicht rauchen!
Über sowas kann ich mich königlich amüsieren. Ich komme wieder mit JJ ins Gespräch. Es geht um die Sowjetzeit, die ich bisher hier im Baltikum ja einhellig aus einer Perspektive geschildert bekam: Als Okkupation, als Zeit der Unterdrückung und des Leids. JJ ist der erste, der, wenn auch vorsichtig, davon Abstand nimmt und sagt, dass er durchaus glaubt, dass nicht alles schlecht war. Seine Großeltern erzählten zum Beispiel durchaus auch von schönen Momenten aus der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Eine Perspektive, die ein „estnischer Este“ sicherlich niemals über die Lippen bringen würde.
Unsere letzte Station ist der Viru-Sumpf am südwestlichen Ende des Parks. Ein Pfad aus Holzplanken führt über den weichen, bemoosten Grund, der fest aussieht, es aber an den meisten Stellen nicht ist. Am hölzernen Aussichtsturm verlässt uns JJ, um uns mit dem Auto auf der anderen Seite des Sumpfes wieder abzuholen. Nach dem Blick vom Turm über die weite Fläche aus Wald, Seen und Moorwiesen ziehen Wiebke und ich auf einem Steg unsere Badesachen an und springen in einen der eisenhaltigen kleinen Teiche mit dem rotorangenen Wasser, das sehr gesund sein soll. Das Wasser ist nicht gerade warm, aber es ist angenehm, und ich ziehe so meine Bahnen und bin gefangen von der Landschaft um mich herum. Die Farben sind von großer Intensität – der Himmel, der gleichzeitig hell und tief ist, die verschiedenen Grüntöne des Sumpfes, und das Wasser, in dem meine Haut eine orangebraune Tönung annimmt.
Wir kommen wieder in Tallinn an, die Stadt wirkt plötzlich laut und urban nach der großen Ruhe in Lahemaa. Im Rathaus gibt es ein kleines Mittelalterrestaurant, wir essen Elchsuppe und Blätterteigpasteten und trinken einen herrlichen Rotwein. Danach ziehen wir noch durch mehrere Cafes und landen schließlich im Kehrwieder am Marktplatz, wo die heiße Schokolade zwar teuer ist, aber dick und sämig wie flüssiger Schokoladenpudding. In meiner geburtstäglichen besinnlich-glücklichen Stimmung sprechen wir über Ziele, über Träume und Pläne. Mir scheint heute alles möglich, alles gut, und ich bin froh, dass Wiebke da ist, um diese Stimmung mit mir zu teilen. Bevor wir ins Hostel zurückkehren, liegen wir noch auf dem Harjuhügel auf einer der Holzliegen und schauen in den Sternenhimmel auf der Suche nach den angekündigten Sternschnuppen. Sie wollen sich uns nicht zeigen, vermutlich ist hier in der Stadt die Lichtverschmutzung zu groß. Es stört mich nicht. Der Tag war so wunderschön, dass er mir wie die Erfüllung eines Wunsches vorkommt, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn hatte.