Unten am Parkteich führt ein kleiner Treppenabsatz zum Ufer, der von zwei weissen Statuen gesäumt ist, die sich in Richtung der Burg verneigen. Weiter oben am Hang gibt es eine Freitreppe, auf deren Geländer kleine weisse steinerne Engel Musikinstrumente spielen, als wollten sie den, der die Treppe beschreitet, mit Glanz und Gloria zur Burg geleiten. Alles erinnert ein bisschen an eine Kulisse für Schwanensee. Im Nieselregen wandern wir in unseren leuchtend blauen Regencapes einmal die Burgmauer ab. Graue Feldsteine, rote Backsteine und auf dem Turm des neuen Schlosses die lettische Fahne.
1988 wehte sie zum ersten Mal in ganz Lettland wieder hier. Auch gestern auf der Party ging es darum: Lettland hat gelitten, bevor es seine Unabhängigkeit wieder erlangt hat, und Wiebke findet, dass man den älteren und alten Menschen hier ihr hartes Leben ganz anders ansieht als noch in Litauen. Vielleicht lag es an Vilnius, das sehr herausgeputzt ist. Und mich fasziniert wieder Lettland, wieder ein Land, das eine Schwere mit sich trägt und trotzdem eine lebendige, fröhliche Gegenwart zu gestalten vermag.
Anschliessend gibt es Abendbrot in der Wohnung seiner Eltern in der kleinen Küche. Wir unterhalten uns lange mit seiner Mutter, die Geschichtslehrerin ist, am Baltischen Weg teilgenommen hat und deren Mann 1991 bei den Barrikaden in Riga im Kampf um die lettische Unabhängigkeit teilgenommen hat. Sie erklärt uns, was es mit der Singenden Revolution auf sich hat, im Rahmen derer im Baltikum durch das Singen von traditionellen patriotischen Liedern denr Sowjetmacht der Kampf angesagt wurde. Karlis hat uns schon ein bisschen darüber erzählt, er sagt viel, dass mit militärischen Mitteln ja nichts auszurichten gewesen sei. Aber wieviel schöner ist es auch, wenn ein Land behaupten kann, durch Musik zur Unabhängigkeit gekommen zu sein. Blut hat es bei den Barrikadenkämpfen in allen drei Ländern genug gegeben. Wir schlafen in einem Zimmer in der Zweiraumwohnung, die Familie zu dritt in dem anderen. Die osteuropäische Gastfreundschaft, die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, ich kann mir so etwas in Deutschland kaum vorstellen.
Das Gelände ist gross, wegen des Regens können wir es nicht so ausführlich erkunden, wie wir es gerne würden. Wir halten uns deshalb in den Gebäuden der Burg auf, in denen Ausstellungen über die Geschichte der Livländischen Schweiz, in der wir uns befinden, aufklären. Der Blick, ins Land vom Burgturm zeigt schwarze, dampfende Wälder, aus denen dicke Nebelschwaden aufsteigen wie in einem Märchen über einen bösen Zauberer. Die Gauja macht unter uns einen grossen, mächtigen Bogen und ist von fast bleierner Farbe, schwer und beruhigend.
Später, von der Brücke im Tal aus nach dem Abstieg übver die glitschigen Holzstufen, ist die Gauja rot von Eisen, aber sie soll sehr sauber sein. Wir nehmen den Sessellift zurück auf die Höhen von Sigulda. Die Sonne scheint wieder, die Regencapes sind im Rucksack verstaut. Wir besuchen das Neue Schloss mit seinen bunten Farben und die dahinterliegende Schlossruine mit ihrer riesigen Sommerbühne und den hübschen kleinen Aussichtspunkten, die wieder den Blick auf die rote Ordenbsurg von Turaida freigeben.
Sigulda ist ein malerischer Ort voll von Geschichte und von Geschichten. Wir hätten gerne noch etwas mehr Zeit im Sonnenschein gehabt. Zu früh müssen wir zurück zum Bus, der uns wieder in die Grossstadt Riga bringen soll.