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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: capitol (Seite 3 von 4)

Erste Eindrücke von Riga und der Gauja-Nationalpark

Im Bus nach Riga werden wir auf deutsch dazu aufgefordert, unsere Dokumente vorzuzeigen, und als wir dann losfahren, macht der Busfahrer die Ansagen auf litauisch, russisch und deutsch. Wiebke vermutet, dass er nur für uns deutsch spricht, darauf wäre ich gar nicht gekommen; aber es ist schon immer erstaunlich, wenn im Ausland jemand so gutes Deutsch spricht. Englisch ist mir zum Kommunizieren im Ausland viel lieber, schließlich handelt es sich dabei meist auf beiden Seiten um eine Fremdsprache, das ist nur fair. Zu erwarten, dass jemand Deutsch kann, kommt mir immer ein bisschen vermessen vor. Zu erwarten, dass jemand Englisch kann, kommt mir ziemlich selbstverständlich vor. Logisch ist das nicht.
In Riga holt uns Martin am Busbahnhof ab. Wiebke kennt ihn durch unser gemeinsames Ehrenamt. In seiner geräumigen Altbauwohnung macht er uns erstmal eine Riesenportion Bratkartoffeln. Abends kommt eine ganze Menge Freunde von ihm vorbei: noch ein anderer Deutscher und eine Horde Letten. Es wird eine gemütliche Studentenparty, die sich über netten Gesprächen und dem ein oder anderen Bier bis in die frühen Morgenstunden hinzieht. Wiebke und ich schlafen irgendwann angezogen auf dem Sofa ein, als ich aufwache hat uns einer der Jungs zugedeckt und die letzten Gäste feiern in der Küche immer noch. Ich denke an meine frühen Studentenjahre, lächle in mich hinein und schlafe wieder ein.
Am nächsten Morgen schläft Martin noch, als wir ein paar Sachen in unseren kleinen Tagesrucksack packen und uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Durch die Altstadt laufen wir zuerst zu Coffee Inn, einer Art baltischem Starbucks mit phantastisch cremigem Käsekuchen und gutem Kaffee. Dort holen wir uns ein kleines Frühstück und suchen dann den Bahnhof. An einer Strassenecke fragt Wiebke den jungen Mann neben uns an der Ampel. Er spricht nur gebrochen Englisch, aber er sagt gleich bereitwillig: „Train station? I go there, I show you.“ Er fragt uns dann auch gleich sehr interessiert, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Ich bewundere es, wenn Menschen Kontakt in einer Sprache suchen, die sie nicht so gut können. Wenn ich mich in einer Sprache nicht sicher fühle, bin ich meistens sehr unsicher und geradezu schüchtern. Der Kerl ist von einer so angenehmen, unaufdringlichen Freundlichkeit, dass die Sprachbarriere gar nicht ins Gewicht fällt. Er zeigt uns Patronenhülsen, die er auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in der Nähe entdeckt haben will. Seine Augen leuchten vor Begeisterung über diesen Fund. Er hilft uns beim Ticketkauf und bringt uns bis zum Gleis, wo er sich sehr höflich verabschiedet.
Im Zug nach Cesis (dt. Wenden) essen wir unsere Brote. Die Vegetation draussen erscheint mir sehr baltisch: sandige Böden, Nadelwälder, Gräser und Strandhafer. Je weiter wir aber ins Landesinnere vordringen, desto mehr Laubbäume bestimmen auch die Landschaft. Es ist mir vertraut, und es berührt mich mehr, als die litauische Landschaft es bisher getan hat.
Am Bahnhof in Cesis versuchen wir, den Fahrplan zu entschlüsseln, aber er ist sehr kryptisch. Eine ältere Dame sitzt mit ihrem vielleicht sechsjährigen Enkel auf der Bank daneben und spricht uns auf lettisch an. Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir nicht nach Riga wollen, sondern nach Sigulda, und auch erst in ein paar Stunden, aber sie spricht kein Englisch – plötzlich beginnt ihr kleiner Enkel meine langsam gesprochenen Sätze mit einer unglaublichen Routine zu übersetzen. Erstaunlich. Vielleicht häufen sich hier die Reflexionen über Sprache, weil ich wieder in einem Land bin, in dem ich die Landessprache kein bisschen verstehen, geschweige denn sprechen kann. Es ist ein anderes Reisen, man muss viel mehr nachfragen, weil man weniger nebenbei aufschnappen kann. Manche Schriftzüge auf Denkmälern photographiere ich, um später jemanden fragen zu können, was dort steht. Und trotzdem entgeht mir so vieles. Ich beschliesse in allen drei Ländern dieser Reise, dass ich die Sprache lernen möchte. Hätte man doch nur mehrere Leben zur Verfügung, um all das unterzukriegen, was man gerne machen möchte.
Wir laufen durch einen hübschen kleinen Park an einem See entlang, ohne den Stadtplan zu entfalten, und wie es in einer so kleinen Stadt zu vermuten war, taucht sie plötzlich auf ihrem Hügel thronend vor uns auf, die Burg von Cesis.

Unten am Parkteich führt ein kleiner Treppenabsatz zum Ufer, der von zwei weissen Statuen gesäumt ist, die sich in Richtung der Burg verneigen. Weiter oben am Hang gibt es eine Freitreppe, auf deren Geländer kleine weisse steinerne Engel Musikinstrumente spielen, als wollten sie den, der die Treppe beschreitet, mit Glanz und Gloria zur Burg geleiten. Alles erinnert ein bisschen an eine Kulisse für Schwanensee. Im Nieselregen wandern wir in unseren leuchtend blauen Regencapes einmal die Burgmauer ab. Graue Feldsteine, rote Backsteine und auf dem Turm des neuen Schlosses die lettische Fahne.

1988 wehte sie zum ersten Mal in ganz Lettland wieder hier. Auch gestern auf der Party ging es darum: Lettland hat gelitten, bevor es seine Unabhängigkeit wieder erlangt hat, und Wiebke findet, dass man den älteren und alten Menschen hier ihr hartes Leben ganz anders ansieht als noch in Litauen. Vielleicht lag es an Vilnius, das sehr herausgeputzt ist. Und mich fasziniert wieder Lettland, wieder ein Land, das eine Schwere mit sich trägt und trotzdem eine lebendige, fröhliche Gegenwart zu gestalten vermag.

Abends fahren wir nach Sigulda. Martin hat uns hier eine Unterkunft bei seinem Freund Karlis besorgt. Er zeigt uns noch auf dem Weg vom Bus ein paar herrliche Ausblicke über das Gauja-Tal, in dem sich der Fluss, eben die Gauja, in der Abendsonne friedlich dahinschlängelt.

Anschliessend gibt es Abendbrot in der Wohnung seiner Eltern in der kleinen Küche. Wir unterhalten uns lange mit seiner Mutter, die Geschichtslehrerin ist, am Baltischen Weg teilgenommen hat und deren Mann 1991 bei den Barrikaden in Riga im Kampf um die lettische Unabhängigkeit teilgenommen hat. Sie erklärt uns, was es mit der Singenden Revolution auf sich hat, im Rahmen derer im Baltikum durch das Singen von traditionellen patriotischen Liedern denr Sowjetmacht der Kampf angesagt wurde. Karlis hat uns schon ein bisschen darüber erzählt, er sagt viel, dass mit militärischen Mitteln ja nichts auszurichten gewesen sei. Aber wieviel schöner ist es auch, wenn ein Land behaupten kann, durch Musik zur Unabhängigkeit gekommen zu sein. Blut hat es bei den Barrikadenkämpfen in allen drei Ländern genug gegeben. Wir schlafen in einem Zimmer in der Zweiraumwohnung, die Familie zu dritt in dem anderen. Die osteuropäische Gastfreundschaft, die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, ich kann mir so etwas in Deutschland kaum vorstellen.

Am nächsten Morgen schüttet und giesst es, dass man kaum vor die Tür gehen mag. Wir nehmen den Bus zur Ordensburg von Turaida, die wir am Abend zuvor schon leuchtend rot in der Ferne auf der anderen Seite des Gauja-Tals entdeckt haben.

Das Gelände ist gross, wegen des Regens können wir es nicht so ausführlich erkunden, wie wir es gerne würden. Wir halten uns deshalb in den Gebäuden der Burg auf, in denen Ausstellungen über die Geschichte der Livländischen Schweiz, in der wir uns befinden, aufklären. Der Blick, ins Land vom Burgturm zeigt schwarze, dampfende Wälder, aus denen dicke Nebelschwaden aufsteigen wie in einem Märchen über einen bösen Zauberer. Die Gauja macht unter uns einen grossen, mächtigen Bogen und ist von fast bleierner Farbe, schwer und beruhigend.

Später, von der Brücke im Tal aus nach dem Abstieg übver die glitschigen Holzstufen, ist die Gauja rot von Eisen, aber sie soll sehr sauber sein. Wir nehmen den Sessellift zurück auf die Höhen von Sigulda. Die Sonne scheint wieder, die Regencapes sind im Rucksack verstaut. Wir besuchen das Neue Schloss mit seinen bunten Farben und die dahinterliegende Schlossruine mit ihrer riesigen Sommerbühne und den hübschen kleinen Aussichtspunkten, die wieder den Blick auf die rote Ordenbsurg von Turaida freigeben.

Sigulda ist ein malerischer Ort voll von Geschichte und von Geschichten. Wir hätten gerne noch etwas mehr Zeit im Sonnenschein gehabt. Zu früh müssen wir zurück zum Bus, der uns wieder in die Grossstadt Riga bringen soll.

Die zwei Tage in der freien Natur, sie waren sehr wichtig für uns. Unsere Körper erholen sich von der Schreibtischarbeit, unsere blassen Gesichter haben etwas Farbe und wir sind froh, dass sich unser Eindruck von Lettland nicht auf Riga beschränken wird. Karlis hat gesagt, dass wir in Sigulda ein Stückchen vom „wahren Lettland“ kennen lernen. Nicht zuletzt dank der privaten Geschichtsstunden bei seiner Mutter mag das wohl stimmen.

Vilnius

Nach einer erfrischenden Dusche laufen Wiebke und ich zurück in die Stadt und immer der Nase nach die hübschen kleinen Straßen hinauf und hinunter. Der Himmel ist weit und blau über den niedrigen Häuserreihen, und die Altstadt scheint sich kilometerweit zu erstrecken – sie gehört zu den grössten Altstädten in Europa. Der Glockenturm der Sankt Johannis Kirche an der Universität strebt majestätisch gen Himmel, und der kurze Blick in den grossen Innenhof eröffnet eine herrliche Aussicht. Hier zu studieren muss sich schon sehr erhaben anfühlen.Wir laufen zur Kathedrale und setzen uns auf ein Mäuerchen auf dem Vorplatz, um uns gegenseitig aus unseren Reiseführern vorzulesen.

Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.

Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.

Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.

Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:

Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.

Der vollständige Text der Verfassung steht hier.

Nach dem Abendessen  sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.

Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.

Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.

Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.

Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.

Olsztyn und Ankunft in Vilnius

In Olsztyn habe ich ein bisschen Zeit, bevor Wiebke ankommt. Ich frage eine ältere Dame am Hauptbshnhof nach dem Bus in die Stadt. Wir kommen ins Schnattern, innerhalb von Minuten hat sie mich zu sich nach Hause eingeladen und mich mit ihrem Bekannten Marek verheiratet. Marek ist 30, Hochschulprofessor und reizend, sagt sie. Zwar könne er kein Deutsch, aber mein Polnisch würde schon reichen. Ich solle ihr ein Photo von mir schicken, die Adresse hätte sie mir ja schon gegeben, sie würde dann alles in die Wege leiten. Sehr amüsant.

Der Markt ist wunderbar, nicht ganz so herausgeputzt wie in anderen Städten. Die Bürgerhäuser tragen teils grauen Putz, teils entschieden sozialistisch-realistische Ornamente, aber das alte Rathaus und die Bibliothek in der Mitte des Platzes glänzen. Rechts ab geht es zur Burg, deren roter Backstein in der Sonne leuchtet. Einen Blick werfe ich auch in den Dom, gerade ist Gottesdienst. Das Vater unser, Ojcze nasz, bete ich mit. Am selben morgen habe ich es noch in Szczytno beim schnellen Blick in die dortige evangelische Kirche mitgesprochen. Mit wie viel mehr Prunk der katholische Gottesdienst in dem riesigen Backsteindom gegenüber dem kleinen weißgelben Kirchlein von morgens daherkommt… Ich gehe beim Friedensgruß. Vor dem Dom läuft ein kleines Mädchen herum und reicht allen die Hand.

Schließlich hole ich Wiebke am Westbahnhof Olsztyn Zachodni ab. Wir essen noch einen Happen auf dem kleineren Platz zwischen Hohem Tor und Markt, dann geht es zum Hauptbahnhof und zum Bus. Nach Suwałki verläuft alles ohne Zwischenfälle, wir verschnacken so die Zeit.

In Suwałki haben wir von 23 bis 2 Uhr Aufenthalt. Ich frage den Herrn an der Bahnhofsaufsicht, ob mit unseren Onlinetickets alles in Ordnung ist und wo der Bus fährt. Er zeigt auf ein rotes Haltestellenhäuschen direkt an der Hauptstraße. Etwas skeptisch Blicke ich auf die etwa 20 schicken, asphaltierten Bussteige des Busbahnhofs. Da sollte der Bus halten, erklärt der Herr, tut er aber nie. Wir müssten jetzt aber ja 3 Stunden warten. Wissen wir. Nun ja, wenn was sei, er sei am Schalter. Wir machen es uns auf einer Bank gemütlich. Alle zwanzig bis dreißig Minuten kommt unser Bahnhofsschutzengel heraus, stellt sich mit seiner Zigarette zu uns und macht einen kurzen Schnack mit mir. Wiebke lässt sich dann hinterher von mir übersetzen, worum es ging: Suwałki ist angeblich die sauberste Stadt Polens, und auf der Hauptstraße fahren täglich 4000 LKWs Richtung Russland und Litauen; Inzwischen gehen wohl mehr Polen nach Deutschland als nach England, er selbst war noch nicht da, aber vielleicht kommt er mal, zum Spargelstechen.
Es wird kälter, ich wickle mich in meinen Rock, Wiebke zieht eine Strumpfhose unter. Da kommt die SMS: 50 Minuten Verspätung. Zwar bin ich begeistert von der Technik, die mich informiert, nicht aber von der Aussicht, noch bis 3 Uhr früh warten zu müssen. Über uns scheppert die Bahnhofsuhr, wenn die Zahlen im digitalen Format umspringen. Die Uhr zeigt auch die Temperatur, aber wie 21 Grad fühlt es sich wahrlich nicht an. Als der Bus endlich zwischen den LKWs auftaucht, sind wir doch sehr froh und schlafen auf unseren Sitzen im Oberdeck sofort ein.
Fast verschlafen wir gut vier Stunden später denn auch den Hauptbusbahnhof in Vilnius. Erst auf Nachfrage bei unseren Sitznachbarn merken wir, dass wir da sind und müssen dann etwas eilig aussteigen. Die Sonne scheint, wir laufen mit unseren Rucksäcken durch das Tor der Morgenröte und weiter zu Ernst & Young, wo wir unsere Gastgeberin Ieva treffen. Sie läuft mit uns durch die Stadt nach Hause zu ihrer niedlichen Altstadtwohnung. Schon auf dem Weg wird mir klar, was der stete Hinweis auf die „barocke Pracht“ in den Reiseführern meint. Es ist geradezu erschlagend, so bunt und sauber und verspielt, wenn auch immer wieder schlichtere Renaissancebauten die schillernden Häuserreihen um ein ruhiges Element bereichern. Zwei Tage hier liegen vor uns, die Sonne scheint und es ist Urlaub.

Warszawa – Warsaw – Warschau

Die Sonne hängt tief als gleißende weiße Scheibe am Himmel. Es liegt ein sonderbarer fahler Dunst über den brandenburgischen Feldern, von dem ich den Eindruck habe, dass er sich schwer auf die vereinzelten Baumgruppen senken müsste, um dort als heller Kreidestaub die Äste zu zieren wie Frost. Je weiter wir nach Osten vordringen, desto wärmer und glühender wird der Sonnenball. Der Zug müffelt komisch, alt. Ich bin dieses Jahr so viel geflogen, ich bin gar nicht mehr an das langsame Reisen gewöhnt, dass mich die Entfernung wirklich spüren lässt. Nach Warschau. Nach Warschau.
Meine früheste Assoziation mit Warschau stammt aus dem ersten Polenurlaub meines Lebens. Ich bin 8 Jahre alt und fahre mit meiner Familie in einem winzigen Auto, im Interesse der Geschichte behaupte ich, es war in einem Polski Fiat, durch die Masuren, und an den Schildern auf der Landstraße steht es immer wieder: Warszawa. Warschau, erklären meine Eltern. Komisch, wieso gibt es zwei Namen für den gleichen Ort? 
Viel später entdecke ich die Stadt neu, zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Niederschlesien habe ich hier ein Training. Ich finde die Stadt grau und zunächst auch nicht mehr als einfach nur grau. Und sehr kalt, es ist Ende Januar. Aber sie soll sich mir doch noch anders erschließen: als Ort der Geschichte, die lebt und atmet bei jedem Schritt, den man in ihren Straßen tut.

Warschau war mir dennoch nie so nah wie Krakau. Aus dem Hauptbahnhof tretend fällt der erste Blick auf den Kulturpalast mit seiner imposanten Größe, der so grau ist und so ideologisch aufgeladen. Er ist nicht von der feinen und viel konventionelleren Ästhetik, die mir in Krakau an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Dafür ist es vielleicht die authentischste polnische Stadt für mich. Dreckig. Laut. Ehrlich. Geprägt von einer schrecklichen Vergangenheit, aus deren Asche sich eben kein Phönix erheben konnte, sondern eher sowas wie eine Krähe. Die ist vielleicht nicht so bunt, aber wenn man sie sich genau anschaut, erkennt man, wie elegant und wie erhaben sie sich halten kann.

Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik. 

Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.

Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.

So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.

London – City of London, East End, Hyde Park und South Bank

Manchmal hat man seltsame Gründe dafür, einen bestimmten Ort sehen zu wollen. Ich wollte zum Beispiel immer nach Prag. Ich hatte nämlich mit etwa 9 Jahren mal ein Lustiges Taschenbuch, in dem es eine Comic-Adaption von Franz Kafkas „Verwandlung“ mit Donald Duck als Gregor Samsa gab, und dieser Comic begann mit den Worten: „Prag – die goldene Stadt an der Moldau“. Vor meinem inneren Auge sah ich goldene Dächer und einen goldenen Fluss und goldenen Sonnenschein und wollte unbedingt nach Prag. Dieser Wunsch erfüllte sich im Jahr 2007. Nach London wollte ich auch schon sehr lange. Aber nicht wegen der Dinge, von denen ich schon berichtet habe. Ich wollte immer nur zur St. Paul’s Cathedral. Wegen des Disneyfilms „Mary Poppins“, in dem Mary Poppins Jane und Michael das Lied von der uralten Vogelfrau vorsingt, die jeden Morgen auf den Stufen der Kathedrale sitzt und Vogelfutter verkauft.
Eigentlich will ich an diesem Morgen in die Westminster Abbey zum Gottesdienst. Aber dort ist Wachschutz und alles ist voll von Menschen in seltsamen Uniformen, die diese künstlichen steifen Bewegungen machen und häufig eher lustig als ehrfurchterweckend aussehen. Man kommt nur mit einer Karte in den Gottesdienst. Ich pese über verschiedene U-Bahnhöfe und komme etwas außer Atem an der St Paul’s Cathedral an. Der Gottesdienst dort ist noch nicht losgegangen, aber es wird Zeit, deswegen ist mein erster Eindruck des imposanten Bauwerks nicht von der langsamen Freude des Entdeckens geprägt, die ich mir ausgemalt habe. Stattdessen eile ich die Stufen hinauf und lasse mir einen Gottesdienstzettel in die Hand drücken, um dann, endlich langsam, das Kirchenschiff zu durchqueren und schließlich unter der Kuppel zu stehen – und mir schießen die Tränen aus den Augen. Ich bin völlig überwältigt. Ein Kirchendiener fragt mich: „Alright?“ Ich stammle: „It’s so beautiful!“ Der Gottesdienst ist von einer wunderbaren Feierlichkeit, die Kirchenlieder getragener, mächtiger als zuhause, die Predigt dagegen von einer so anmutigen Mischung aus philosophischer Tiefe und lebensnaher Fröhlichkeit, dass ich fast noch einmal weinen muss. Es geht um Gleichheit, und ich gehe glücklicher aus dem Gottesdienst hinaus als ich es vorher war, und wieder ein bisschen idealistischer. Vielleicht mag ich das an der Kirche. Sie nimmt mir den Zynismus, den mir der Alltag aufzwingt.

Ich sitze nach dem Gottesdienst noch eine Stunde vor der Kathedrale um dann gemütlich zum Tower Hill hinüber zu laufen. Vor der Tower Bridge lasse ich ein klassisches Touristenphoto von mir machen von einem freundlichen Passanten, und am Tower Hill bestaune ich die uralten mächtigen grauweißen Mauern von außen. Es ist sehr lebendig hier, Eltern mit Kindern, junge Paare, Freundinnen, ältere Herrschaften, alle sitzen und laufen durcheinander, man hört alle zwei Meter eine andere Sprache und Londons ganze Lebendigkeit wird vor der Kulisse des ewigen alten Steins und der 2000jährigen Geschichte nur noch deutlicher.

Ich treffe mich mit Alexa am Trafalgar Square und wir gehen in Soho Kaffeetrinken, um dann ins East End zu fahren. Unterwegs treffen wir den Tod nicht auf Latschen, sondern auf dem Fahrrad – im Schaufenster des Liberty-Kaufhauses.

  

Im East End reizt ein kleiner Markt mit stylischen Klamotten, Taschen und Hüten zum Einkaufen, ich bin aber zu arm. Wir laufen durch die Brick Lane, anscheinend ist hier ein Festival, von überall kommt laute Musik unterschiedlicher Stilrichtungen. Wir gehen in einen phantastischen Plattenladen, der so viel Stil hat, dass Berlin mir dagegen vorkommt wie ein kleines Provinzstädtchen. Anschließend trinken wir Saft in einer Künstlerbar mit Lichtinstallationen und Filmprojektionen an den Wänden. Einer der Filme hat den Titel „Guilty Pleasure“. Der Schriftzug lautet: „My guilty pleasure is letting my girlfriend cut my toe nails. Don’t tell anyone though.“ Darauf folgt eine Animation mit blauen Füßen, einer Schere und riesigen Zehennägeln. Es ist großartig und ein bisschen abgedreht.

Wir fahren wieder nach Brixton und gehen bei einem kleinen, vollen Vietnamesen essen. Ich sage zu Alexa, dass in Berlin Inder, Vietnamesen und Thailänder doch häufig ziemlich ähnlich sind. Sie guckt mich entgeistert an. „Those are completely different things!“ sagt sie. Dafür gibt es in Berlin gutes türkisches Essen, denke ich mir. Das Curry schmeckt wunderbar, und ich habe danach große Lust, mir in einem Pub um die Ecke noch ein bisschen Jazz anzuhören. Das Pub hat Ähnlichkeit mit Irish Pubs in Deutschland, mit einer großen hölzernen Theke und bemalten Fenstern, die Jazzmusik will so gar nicht dazu passen, aber auch diese Reibung übt ihren besonderen Reiz aus. Wir kommen mit zwei Jungs an unserem Tisch ins Gespräch, einer von beiden macht Stand-up Comedy und redet auch so. Normalerweise, versichert mir Alexa, passiert sowas in London nie, die Leute kümmern sich lieber um sich selbst. Ich erzähle, dass in meinem Reiseführer steht, man solle keine fremden Menschen anlächeln, sie würden einen nur für verrückt halten. Der Comedian sagt: „If it was me, I’d be so grateful, it’d mean that you want to talk! I’d be like: What are your five favorite — food items??“ Der Cider schmeckt gut, und ich bin glücklich, als wir uns durch die sternklare Nacht auf den Weg nach Herne Hill machen.

 
Am nächsten Morgen frühstücken Alexa und ich zusammen Weetabix, dann muss sie zur Arbeit. Ich packe noch gemütlich meine Sachen, nehme einen leisen und fröhlichen Abschied aus der hübschen Straße in Herne Hill und fahre zur Victoria, schließe mein Gepäck ein und nehme den Bus zum Hyde Park. 
Der Park ist so weit und groß, dass man sich tatsächlich fast in ihm verlieren kann. Ich sitze am Serpentine Lake und betrachte die Morgen-Jogger, die Spaziergänger und ein lustiges Pärchen mit ungefähr 12 Hunden. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, es ist ein bisschen kühl und schon herbstlich. Langsam gehe ich über die Brücke zu den Kensington Gardens. Dort steht ein Schild: „DANGER! Shallow water. Do not jump  from the bridge.“ Jemand hat Teile der Schrift weggekratzt, statt „DANGER“ steht sort nun „ANGEL“. Mir gefällt’s. Ich folge dem Ufer des Sees nach Norden und staune über die Fauna, da sind viele verschiedene Enten, Schwäne, von denen einige grau sind und viel schöne als die weißen, Kormorane und Reiher, die unbeeindruckt und stocksteif auf den Planken im Wasser stehen. Am Peter Pan Denkmal bleibe ich kurz stehen. Ich  möchte auch nicht erwachsen werden. Wenn ich reise, ist es leichter, Kind zu bleiben mit einer unbändigen Neugier und Begeisterungsfähigkeit.

 
Von Paddington fahre ich nach Hammersmith, wo ich mich mit Steve zum Mittagessen treffe. Wir sind letztes Jahr zusammen in Montenegro und Albanien gereist. Ich kenne ihn nur mit Shorts und T-Shirt, plötzlich steht er mir mit blauem Nadelstreifenanzug gegenüber. Es braucht keine Minute Eingewöhnungszeit und es ist, als hätten wir uns gestern erst gesehen. Reisen verbindet auf eine ganz besondere Art. Die Sonne scheint, so schön auf den kleinen Platz vor der Deli, das Essen schmeckt und wir sprechen von unseren Leben, die so unterschiedlich sind und von unseren Reiseträumen, die sich so ähneln. Viel zu schnell müssen wir uns wieder verabschieden. 

Nachdem ich vorhin einen verrückten Umweg auf mich genommen habe, weil ich dachte, dass nur die Hammersmith and City tube nach Hammersmith fährt, bin ich auf dem Rückweg mit der District Line in kürzester Zeit wieder in der Innenstadt. Ich fahre bis Embankment und laufe auf die Südseite der Themse hinüber. Herrliche Aussichten tun sich auf, aber die Sonne steht hinter den Houses of Parliament und ich kann sie nur gegen die Sonne photographieren.

 
Also beschließe ich, die Atmosphäre einfach zu genießen und höre eine halbe Stunde den Straßenmusikern zu, die Johnny Cash spielen und singen mit einer Gitarre, einem Cello und einer Kiste, auf der einer Töne produziert wie andere es nicht einmal auf einem vernünftigen Schlagzeug könnten.

Schließlich muss ich doch einmal wieder zum Bus und zum Flughafen fahren. Etwas hat mich nach England gezogen, bevor ich diese Reise unternommen habe, und etwas zieht mich weiter dorthin. Es ist so ganz anders als die melancholisch-entspannte, fröhlich-ausgelassene, tragische und herzliche Schönheit des Balkans. Vielleicht war es Zeit für mich in ein Land zu kommen, das nicht so viele offene Wunden zeigt. Und es ist wirklich wunderbar, einen Ort wie London zu entdecken, den man aus Liedern, aus Texten oder Erzählungen präsent hat, ohne ihn zu kennen. Meine kugelrunden  neugiereigen Kinderaugen sind wenigstens noch nicht, auch und gerade auch im Blick auf London nicht, vollends erwachsen geworden.

London – St. James’s Park, Westminster und Trafalgar Square

Mein Blog hieß zwar bis vor Kurzem „Unterwegs nach Osteuropa“, aber ich kann es unmöglich bleiben lassen, meinen ersten England-Aufenthalt zu beschreiben. Namen sind Schall und Rauch, und meine geneigte Leserschaft möge es mir verzeihen, wenn ich Osteuropa in Zukunft um den Rest der Welt erweitere. Gleichzeitig ist es schwierig, über einen Ort wie London zu schreiben, den so viele so viel besser kennen als ich. Während meines Aufenthalts bemerke ich jedoch, dass ich dankbar dafür bin, London jetzt zum ersten Mal und ganz neu zu entdecken – um es mit Matisse zu sagen: Man darf nicht verlernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Das geht mir leicht von der Hand in London, ich staune und habe das Gefühl, dass ich von morgens bis abends kugelrunde große Augen mache, die gar nicht genug sehen können von all dem, was mich umgibt.

Chaotische Tage liegen hinter mir, als ich in London aus dem Flieger klettere. 48 Stunden vorher war ich noch in Zagreb und stand in der heißen Morgensonne vor dem imposanten Bahnhofsgebäude. Nun fährt mich ein Bus durch eine sanfte grüne Landschaft, die ich sofort bereit bin, unglaublich englisch zu finden. Schuld sind Jane-Austen- und, oh Schreck, Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen. Der Cockney-Akzent des Busfahrers trägt  ebenfalls zu meiner guten Laune bei. Mein amerikanisches Englisch kommt mir fehl am Platz vor, aber umso lieber höre ich darauf, was die Menschen um mich herum erzählen – nicht wegen der Inhalte, nur wegen des Klangs. Die Umgebung wird schließlich städtischer, wir müssen schon auf Londoner Stadtgebiet sein und ich habe es gar nicht bemerkt. Wir fahren durch Hempstead, überall stehen hebräische Schriftzüge an den Läden, viele jüdische kleine Läden und Delis und das London Jewish Cultural Center ziehen am Fenster vorbei. Jüdische Viertel haben für mich bisher irgendwie hauptsächlich nach Osteuropa gehört. Weiter geht die Fahrt, nun richtig in die Stadt hinein – Baker Street, Marble Arch, endlich Victoria Train Station. Ich steige aus und bin ein bisschen aufgeregt. Langsam wird mir klar, dass ich wieder eine neue Grenze überschritten habe. Ich bin zum ersten Mal in einem neuen Land. Wie ich dieses Gefühl liebe!

Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich  am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.

Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.

Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.

Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.

Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.

Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.

Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.

Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.

Mostar, Stolac, Kravice, Pocitelj und Sarajevo

In Split am Flughafen empfaengt mich die Hitze, die ich den Sommer ueber in Berlin vermisst habe. Palmen stehen vor der Ankunftshalle. Die Luft flimmert. Ich teile mit zwei Australierinnen ein Taxi in die Innenstadt und springe fast uebergangslos in den Bus nach Mostar.
Die kroatische Kueste ist mir vertraut mit ihrer sich sanft schlaengelnden Strasse, den vereinzelten Glockentuermen in den kleinen Siedlungen und dem Blick auf ueberfuellte Straende. Verkarstete Berge liegen zu meiner linken, die Adria zur rechten. Noch vor der bosnischen Grenze wird der Himmel langsam dunkler, die Nacht senkt sich auf die Landschaft herab. Nach einer Busfahrt, die mir laenger vorkommt als im letzten Jahr, scheucht mich der Busfahrer in Mostar aus dem Bus. Ich habe diesen Busbahnhof noch nie gesehen. Ich mache mir kurz Sorgen, dass ich in der falschen Stadt ausgestiegen bin. Ein Geisterbahnhof, er sieht aus als waere er noch nicht ganz fertig gebaut, als wuerde hier eigentlich niemals ein Bus halten. Lebendig ist nur die Tankstelle an der Strasse. Ich fasse mir die zwei schwedischen Maedels, mit denen ich mich im Bus unterhalten habe, laufe vor zur Tankstelle, zeige dem Tankwart meinen Mostarstadtplan im Lonely Planet und frage auf bosnisch, wo wir sind. Unbestimmt zeigt er auf eine Gegend im kroatischen Teil der Stadt. Ich frage nach der Altstadt. „Taxi…“ lautet die Antwort. Ich bitte ihn, ein Taxi fuer uns zu rufen, weil wir keine bosnischen Telephone haben, und fuenf Minuten spaeter kommt auch eins. Ich nenne die Adresse von Majdas Hostel, der Taxifahrer weiss gleich bescheid. Die Schwedinnen sagen ihre Adresse, der Taxifahrer kennt sie nicht. Viel spaeter wird mir klar, dass das Hostel der Schwedinnen auf der bosniakischen Seite der Stadt liegt, der Busbahnhof ist neu, er wird auf der kroatischen Seite gebaut, damit Busse aus Kroatien und aus der vornehmlich kroatisch bevoelkerten Umgebung nicht mehr bis in den bosniakischen Teil fahren muessen. Ich bin wieder in die politische Sphaere eingedrungen, die Mostar heisst.
Im Hostel gibt es ein grosses Hallo und herzliche Begruessungen. Wie nicht anders erwartet: Ich fuehle mich, als sei ich nie weg gewesen. Der erste ganze Tag vergeht in entspannter Traegheit. Bosanska kahfa, an den Moscheen in der Altstadt vorbeitroedeln, in kurzes Bad in der reissenden Neretva, um der Hitze zu entfliehen. Abends gehen wir ein Bier trinken auf einer der kleinen Terassen ueber dem Fluss, die den wunderschoenen Blick auf die Bruecke freigeben. Dahinter ist eine Islamschule fertig restauriert, die letztes Jahr noch nicht da war. In meinem Kopf ersetze ich die Klaenge der Balkanmusik durch Bombenlaerm und Kriegsgeraeusche. Alles an diesem Ort ist herzzerreissende Schoenheit und abgrundtiefe Traurigkeit zugleich.
Am naechsten Tag fahre ich mit Brent, Else und Nick aus dem Hostel nach Stolac. Es muss im Krieg voellig dem Erdboden gleichgemacht worden sein, und man sieht deutlich mehr Kriegsschaeden als in Mostar – Einschussloecher an den Waenden, mitunter Haeuser von denen nur noch die Waende stehen. In den Ruinen hinter der Moschee liegen, wie in Vukovar, noch die Bosenfliesen in einem rotweissen Karomuster, ein intakter Fussboden in einem vollstaendig zerschossenen Haus.
Wir klettern ueber verschlungene Pfade einen eindeutig inoffiziellen Weg hoch zur Burg. Eine Herde Ziegen versteckt sich vor der brennenden Hitze in einem der alten Wachtuerme. Sie maehen uns klaeglich an. Weiter nach oben durch das Gestruepp, immer hoeher, bis wir im obersten Burghof ankommen. Hier steht ein ueberdimensionales Steinkreuz, davor ein grosser steinerner Altar. Mich erinnert die Szene an die Chroniken von Narnia und die Szene, in der der Loewe Aslan sich auf dem steinernen Tisch opfert. Die Steine sind neu, und der Putz auch, eindeutig sind diese Dinge hier erst nach dem Krieg hingesetzt worden, um kroatische Besitzansprueche zu demonstrieren. Immerhin ist die Moschee im Tal in sehr gutem Zustand und von aussen entzueckend mit einem kleinen gepflegten Friedhof voller bluehender Rosen. Leider ist sie geschlossen.
Wir fahren durch die Umgebung, schauen uns die grossen Grabsteine der bosnischen Kirche an, die von eben dieser christlichen Bewegung des Mittelalters zeugen. In Mostar gibt es ein altes ausgebombtes Einkaufszentrum, das noch immer ruinoes in der Innenstadt steht und dessen Aussenwaende ebensolche Zeichnungen aufweisen, wie wir sie hier auf den Grabsteinen finden. Die bosnische Kirche ist durchaus Teil der genuin bosnischen Identitaet.
Die bosnische Kirche soll auch Blagaj bereits als heiligen Ort genutzt haben, wo wir ebenfalls noch Halt machen. Heute steht dort die herrliche Tekke, in der ich letztes jahr so viele ruhige friedliche Stunden zugebracht habe. Sie wird durch tuerkische Geldgeber restauriert und man kann nicht hinein, aber die Quelle der Buna ist ein Naturereignis wie eh und je. Dennoch kommt mir der Ort irgendwie entweiht vor durch den Baulaerm, und ich habe auch den Eindruck, dass mehr Restaurants dort geoeffnet haben und alles etwas touristischer geworden ist. Bata versichert mir spaeter, dass dort genauso viele Gebaeude stehen wir letztes Jahr und es schon immer genauso touristisch war wie jetzt. Aber mir wird trotzdem etwas wehmuetig, als ich dort stehe und auf die Tekke hinuebersehe.
Der Weg zurueck nach Mostar fuehrt durch eine trostlose Landschaft. Auf der einen Seite verbrannte Erde, auf der anderen karges Heideland. Ich habe Bosnien gruener in Erinnerung. Ob der lange heisse Sommer die Gegend so ausgetrocknet hat? Ich bin froh, wieder in Mostar anzukommen, die gruene Neretva im Blick. Abends gehen wir mit Hostelgaesten essen. Im Restaurant hoere ich eine Gruppe am Nebentisch aufbrechen, einer der jungen Maenner sagt: „Ajde!“ Mein Herz huepft. Ich bin tatsaechlich wieder auf dem Balkan.
Ich fahre noch einmal mit auf die wunderbare Tagestour, die Bata anbietet. Sie ist etwas anders als im letzten Jahr und umfasst nur noch zwei Orte, darunter die wunderbaren Wasserfaelle in Kravice, an denen wir viel Zeit verbringen. Bata bringt uns diesmal etwas abseits von der Fuelle der Badegaeste in abgeschiedenere Gegenden. Ich springe von einem elf Meter hohen Kliff in das gruene Wasser und schreie dabei laut. Es ist befreiend.
Die zweite Station heisst Pocitelj, und die Schoenheit des Ortes geht mir wieder ans Herz. Die anderen Reisenden erklimmen einen der Festungstuerme der mittelalterlichen Stadt, ich bleibe unten, schaue auf die Moschee hinueber und sehe zu, wie das letzte bisschen Sonnenlicht hinter den Bergen verschwindet.
Am naechsten Morgen geht der Zug in aller Fruehe nach Sarajevo. Ich fuehle mich nicht ganz gesund, habe Magenprobleme und bin sehr muede, ich habe die letzten drei Naechte sehr schlecht geschlafen, weil die Klimaanlage so kalt eingestellt war. In Sarajevo angekommen checke ich im Hostel ein und gehe in dem kleinen Innenhof hinter dem Taubenplatz eine bosanska kahfa trinken. Anschliessend beschliesse ich, mich im Hostel ein bisschen hinzulegen. Nach zwei Stunden wache ich auf, mir ist eiskalt, ich zittere, aber ich fuehle mich heiss an, ich glaube ich habe ein kleines Fieber. Ich gehe direkt schlafen – aus einem schoenen Tag in Sarajevo wird so nichts, aber ich kenne die Stadt ja und bin froh, wenigstens ein bisschen das besondere Flair der tuerkisch gepraegten Innenstadt aufgesogen zu haben. So werde ich hoffentlich wenigstens fit sein fuer die lange Busfahrt nach Trebinje am naechsten Tag.

Košice und Bratislava

Mit dem Zug geht es weiter nach Košice, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Eine erste Stadtführung reicht aus, um uns völlig für diese wunderbare Stadt einzunehmen. Sie ist gerade groß genug, um viel zu bieten und gerade klein genug, um nicht nur kommerziell zu sein. Ganz abgesehen davon ist sie traumhaft schön. Der Turm der Kathedrale leuchtet mit seinen Goldverzierungen.
Die alten Tramschienen, auf denen keine Straßenbahn fährt, gliedern die breite Hauptachse der Fußgängerzone in zwei Seiten, die sich am Theater spalten und jeweils links und rechts am Dom vorbeiführen. Wieder die geliebten Bürgerhäuser, die auf das bunte Treiben herunterschauen. Überall ist Musik. Zwar ist viel modernen Mainstream-Pop dabei, aber es hebt doch die Stimmung, wenn einen Rhythmen und Melodien auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht bleibt Košice für mich deshalb die allerschönste Stadt der Reise – sie hat für mich gesungen, nicht nur auf den Straßen.
Wir besuchen abends eine Aufführung im Theater, ein Tanztheater über Jánošík, den Robin Hood der Slowaken und Polen. Die fünf Musiker auf der Bühne sind phantastisch mit ihren vielen Instrumenten – Streichinstrumente, Zupfinstrumente und Holzblasinstrumente, und einmal sogar eine Maultrommel. Die Geschichte und die ganze Inszenierung sind zwar keine hohe Theaterkunst, aber die schmissige Musik und die Tänze, die Csárdás und Schuhplattler zusammenbringen, sind mitreißend und machen Spaß. Am Ende werden einige von uns auf die Bühne gezogen und tanzen mit in Sneakers und abgewetzten Reisejeans – nun wissen wir auch, warum sich die anwesenden Slowaken alle so schick angezogen haben.
Am nächsten Morgen haben wir einen Termin mit dem Team der NGO Košice 2013, die das Projekt Kulturhauptstadt begleitet und vorantreibt. Sie arbeiten auf dem Gelände einer alten Kaserne, für die es tolle Pläne zu Umbau und Sarnierung gibt. Das Gelände hat in seinem leicht verfallenen Zustand aber so viel Charme, dass ich mir eher Sorgen mache, ob es nicht zu Tode restauriert wird, wenn alle Vorhaben umgesetzt werden. Alte knorrige Bäume stehen zwischen barungelblichen alten Gebäuden, von denen der Putz abblättert. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies ein ausgesprochen kreativer Ort ist.
Nach einem kurzen Mittagessen laufen wir zum Romatheater, dem einzigen staatlich subventionierten Theater für Roma in der Slowakei.
Wir schauen bei der Probe zu, und wenn ich auch nicht alles verstehe, amüsiere ich mich königlich. Ich finde die Menschen auf der kleinen Bühne nicht nur schauspielerisch talentiert. Viel wichtiger ist, dass sie einen unglaublichen Spaß an ihrer Tätigkeit haben. Ein winziger Theatersaal sprüht vor Lebensfreude und Fröhlichkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand davon nicht anstecken ließe. Sie bringen uns ein Lied auf Roma bei. Duj, duj, duj, duj, dešuduj, tečumidav tečumidav parno muj… Wir möchten am liebsten noch mehr lernen. Stattdessen bringen uns der Regisseur und die Choreographin nach unten, wo das Orchester übt. Simona und Renata fangen an zu tanzen, die Musik ist so mitreißend. Die Roma beantworten geduldig unsere Fragen. Sie freuen sich über unser Interesse. Sie haben charismatische Gesichter und ein offenes, herzliches, warmes, lautes Lachen. Ja, Košice hat für mich gesungen, in verschiedenen Sprachen und Melodien, die ich mit mir nach hause trage.
Ungern verlassen wir Košice, um zu unserer letzten Station aufzubrechen – nach Bratislava. Natürlich darf die Hauptstadt im Programm der Exkursion nicht fehlen. Wir haben hier noch einige Termine am Literaturzentrum und am Filminstitut. Da die Gruppe immer enger zusammenrückt und die Mitreisenden immer mehr zu echten Freunden werden, werden auch die Nächte immer länger, und so interessant es besonders am Filmzentrum ist, fallen mir zwischendurch doch einmal die Augen zu.
Anders bei der Stadtführung mit Michal Hvorecky, einem erfolgreichen jungen Autor, der in Bratislava lebt und arbeitet. Einige seiner Bücher gibt es auch bereits auf Deutsch. Anna hat mir vorher davon erzählt – was Hvorecky schreibt, hört sich ziemlich verstörend an, geht es doch um beispielsweise um eine Geschlechtsumwandlung auf Grund einer Überdosis Antibabypille oder um den kalten Entzug von der Sucht nach Pornographie. Hvorecky entpuppt sich als ausgesprochen höflicher, fröhlicher und kluger Begleiter auf einer Stadtführung. Er spricht ausgezeichnet deutsch mit einem ganz leichten Akzent und gibt uns auf vage Fragen detaillierte Antworten, die mitunter Informationen enthalten, von denen wir gar nicht wussten, dass sie uns interessieren würden. Mit großer Zuneigung spricht er von der Donau und schafft es, trotz kritischer Bemerkungen über seine Heimat keinen Zweifel daran zu lassen, dass er Bratislava liebt und schätzt.
Ein Tag in Bratislava ist mir wieder viel zu kurz. Es ist zwar schon eine Steigerung zu den drei Stunden, die ich letztes Jahr zu Beginn meiner Reise hier verbracht habe, aber ich war immer noch nicht auf der Pressburger Burg oder auf der Burg Devin, und ich habe noch nicht ausreichend die hübsche Innenstadt erkundet, ich habe noch nicht verstanden, welche Gegensätze diese Stadt zerreißen, die eigentlich nie slowakisch war, sondern fast immer deutsch, und die es doch zur Hauptstadt gebracht und ihren ganz eigenen Charme entwickelt hat. Nachts stehe ich mit einigen von uns auf einer der Donaubrücken. Der Wind pfeift uns um die Ohren, die Donau wälzt sich grau und wogenschlagend unter uns vorbei. Man muss sich gegen den Sturm lehnen, wenn man vorankommen will, sich gegen ihn auflehnen, ihn bezwingen. Und am nächsten Morgen? Eine leichte Brise, warmer Sonnenschein und Friedlichkeit.
Das Ende der Reise ist schließlich doch viel zu schnell gekommen. Aber es ist doch so, dass jedes Erlebnis durch seine Endlichkeit umso schöner wird. Für immer hätte sicher keiner von uns so weiterreisen können, mit dem vollen Programm und der ständigen Gesellschaft von 16 Menschen. 10 Tage lang haben wir ein fremdes Land erkundet. Dabei sind Freundschaften entstanden, die bleiben werden. Als ich an der Bratislava Hlavna Stanica in den Zug steige, begleiten mich neun liebe Menschen: Tilman, Renata, Vaclav, Stefan, Martin, Anna, Zina, Katja und Michal. Auf dem Bahnsteig singen wir noch einmal Duj duj duj und natürlich unser slowakisches Quotenlied, To ta Hel’pa. Dunaj, Dunaj, Dunaj, Dunaj, aj to širé pole, len za jedným, len za jedným, počešenie moje… Wie ich in der Tür des Zuges stehe und sie alle so anschaue, die da auf dem Bahnsteig stehen und mich wegwinken wollen, weiß ich nicht, wohin mit meinem Glück und meiner Dankbarkeit für die Möglichkeit, so wunderbare Erfahrungen machen und so tolle Menschen kennen lernen zu dürfen.

Sofia / Prishtina / Peja / Prizren / Niš

Von Istanbul nach Sofia zu kommen ist ein Schock. Nach der menschlichen und klimatischen Waerme in der Tuerkei ist die bulgarische Hauptstadt grau und kalt. Ich habe zwar im Nachtbus gut geschlafen, bin aber einfach kaputt von der Reise – ich bin Istanbul-verkatert. Ich schlafe sogar fuer 20 Minuten am Anfang des Fussballspiels Deutschland – England einfach ein. Dafuer bin ich abends aufgedreht und feiere mit vielen Reisenden im Hostel bis spaet in die Nacht. Mein Rhytmus ist voellig durcheinander. Auch das gehoert zum Reisen dazu.
Am zweiten Tag in Sofia schaue ich mir die Stadt an. Sie ist viel huebscher als alle immer sagen, und die Sonne scheint auch wieder.

Die gelbe Kopfsteinpflasterstrasse, die an allen huebschen Gebaeuden vorbeilaeuft, zwingt zur Referenz auf den Zauberer von Oz. Mir fehlen nur Dorothys rote Schuhe. Abends gibt es wieder viele spannende Geschichten im Hostel auszutauschen. Ein Schwede radelt von Stockholm nach Jordanien. Ein Amerikaner ist gestrandet, weil er sein Visum fuer die Tuerkei ueberschritten hat und nun nicht zurueck kann. Vier Maedels aus Hamburg haben gerade Abitur gemacht und strahlen die besondere Lebensfreude aus, die einem das Bewusstsein von Freiheit nach dem Schulabschluss gibt.

Am naechsten Tag fahre ich nach Skopje. An der Grenze zu Mazedonien behalten sie das erste Mal meinen Pass ein. Sie winken mich raus und zeigen immer wieder auf das Deckblatt. Ja, da steht „Reisepass“ drauf… Ich verstehe gar nicht, was los ist, bis einer von den Grenzern zum anderen etwas sagt, was ich deute als: „Und in Albanien war sie auch!!“ Ich denke: Mann, so ein Mist, daran wollen sie sich doch jetzt nicht aufhaengen? Ich versuche auf serbisch meine Reiseroute zu erklaeren. Endlich winken die Grenzer ab und geben mir meinen Pass wieder. Viele Mitreisende fragen mich auf deutsch, ob alles klar ist, und regen sich fuerchterlich auf. „Keiner versteht unsere Grenzbeamten,“ sagt eine junger Mann, „das ist nicht nur die Sprachbarriere fuer dich.“ In Skopje bleibe noch einmal eine Nacht bei Mariska. Sie hat noch zwei deutsche Maedels zu besuch und wir schnacken den Abend so weg. Am Tag darauf geht es in den Kosovo.

Von Skopje nach Prishtina zu kommen ist ganz einfach. An der Grenze fragt mich der Beamte nur kurz was ich hier mache und wuenscht mir dann sehr hoeflich einen schoenen Aufenthalt.
Prishtina ist grau und hat ein fieses Verkehrschaos, aber die Stimmung in der Fussgaengerzone ist, als waere Jahrmarkt. Ueberall wird sinnloses Spielzeug verkauft und es faellt sofort ins Auge, dass der Altersdurchschnitt in diesem Land bei 25 liegt. Aeltere Menschen scheint es nicht zu geben, geschweige denn alte. Kinder dagegen – ueberall! Sie rennen und spielen und schreien, dass es eine Freude ist. Englisch ist allgegenwaertig, das Land ist voll von internationalen jungen Leuten, die fuer die NGOs taetig sind, die sich hier nach dem Krieg angesiedelt haben. Die Kosovaren in den Cafes lachen auch wie Kinder – unverschmutzt, ehrlich, offen.
Mein Eindruck ist vor allem: Das hier ist nicht Serbien. Es ist auch nicht Albanien. Es ist Kosovo. Vermutlich sagen die Serben, dass man in anderen Laendern auch regionale Unterschiede bemerkt, aber Kosovo einfach weiter als Serbien zu bezeichnen erscheint mir absurd. In Peja und Prizren, den zwei Staedten, die ich besuche, bekomme ich allerdings auch ausgebombte serbische Haeuser zu Gesicht. Da wird es leichter, auch diese Perspektive zu begreifen. Es gibt in dieser Region nie das reine Opfer und den reinen Taeter. Alle Seiten haben sich gegenseitig unendliches Leid zugefuegt.
Peja erinnert an Ulcinj in Montenegro und an Novi Pazar in Serbien. Ich trinke Cappuccino in einem Strassencafe. Es giesst in Stroemen. Vor der Terrasse ist ein Brunnen. Das Wasser zum Kaffee holt der Kellner mit dem Glas von dort, er haelt es einfach in den Strahl und stellt es mir triefend nass auf den Tisch. Dazu grinst er wie ein kleiner Junge. Dann faellt der Strom aus. Alles ist chaotisch. Keiner stoert sich daran.

Prizren ist die huebscheste Stadt, die ich in Kosovo sehe. Ich steige mit einem Amerikaner, den ich im Bus kennen lerne, hoch zur serbisch-orthodoxen Kirche. Meterhoher Stacheldraht und KFOR-Wachschutz. Wir duerfen nicht hinein.

Wieder unten in der Stadt zeigt uns der Pfarrer, den zwei Jugendliche fuer uns herbeigeholt haben, die katholische Kirche. Dort ist kein Wachschutz noetig, „aber,“ sagt der Pfarrer in exzellentem Deutsch, „meiner Meinung nach brauchen auch die serbischen Kirchen keinen Wachschutz.“ Er erzaehlt ein bisschen schuechtern, aber sehr lebendig von der Kirche und der Gemeinde. Im Kirchhof bluehen gelborangerot die Rosen.

In jedem Cafe in Prishtina lerne ich jemanden kennen. Das Fussballspiel gegen Argentinien schaue ich im Irish Pub zwischen lauter Deutschen, es ist wie zuhause, alle liegen sich in den Armen und singen und jubeln und fluchen. Abends gehen wir auf Parties von den Kollegen meiner Couchsurfing-Gastgeberin Claire, essen herrliches albanisches Essen oder trinken Kaffee in einem internationalen Buchladen mit Gastronomie. Krieg? Bitte, das ist 10 Jahre her! Am eindruecklichsten erinnern die Bilder der Vermissten an einem Bretterzaun in der Innenstadt und die Denkmaeler, an denen man im Bus auf dem Weg nach Peja oder Prizren vorbeifaehrt, daran.

Das Lebensgefuehl in diesem Land trifft mich als zukunftsorientiert und froehlich. Hier muss man alle paar Jahre hinkommen und schauen, wie sich alles veraendert – das geht sicher rasend schnell!

Von Prishtina fahre ich nach vier Tagen ueber Skopje nach Niš in Serbien. Die Sonne brennt, als ich vom Busbahnhof zum Hostel laufe – ich frage drei verschiedene Leute nach dem Weg, alle auf serbisch. Keiner kann mir helfen, aber alle reden mit mir und verstehen mich gut und ich finde das Hostel dann schliesslich von ganz alleine. Ich gehe frueh schlafen, ich habe noch was aufzuholen.
Am naechsten Tag ist das Wetter wieder wunderbar. Ich liege zwei Stunden auf einer Bank in der Burganlage und werde braun. Danach trinke ich am Ufer des Flusses Kaffee. Neben mir sprechen sie in einer Gruppe von etwa 10 jungen Leuten deutsch. Dann fangen sie an zu singen! Mehrstimmig! A capella! Mit Stimmgabel und allem! Natuerlich komme ich sofort mit einem von den Jungs ins Gespraech. Wir singen gemeinsam Brahms. Sie sind von einem europaeischen Jugendchor und haben am Samstag ein Konzert hier in Niš. Abends gehe ich erst mit den anderen Leuten aus dem Hostel essen, danach mit den Chorleuten was trinken. Ich kann mich nur immer wieder fragen, wie Leute auf die Idee kommen koennen, dass ich einsam oder gelangweilt sein koennte. Absurd.

Mavrovo / Skopje / Štip / Kloster Rila / Plovdiv

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Von Ohrid aus moechte ich eigentlich ueber den Sueden Mazedoniens in Richtung Bulgarien reisen, aber ich finde keine Couchsurfer, es gibt keine Hostels und die Verbindungen mit Bus und Bahn sind fast unmoeglich herauszufinden. Kurz bin ich mal so richtig genervt. Ich habe das Hostel schon bezahlt und mein Zimmer geraeumt und weiss noch immer nicht wo ich als naechstes hin soll. Von einer Minute auf die andere entscheide ich dann, ueber das Kloster Bigorski im Mavrovo Nationalpark nach Skopje zu fahren.
Ach, der Transport hier unten… Diese Route bedeutet ein Taxi von Ohrid nach Struga, einen Furgon von Struga nach Debar und noch ein Taxi von dort zum Kloster. Der Furgonfahrer ist auch wieder ein bisschen aufdringlich und erzaehlt mir eine halbe Stunde lang wie huebsch ich bin. Langsam gewoehne ich mich ja fast an Avancen von uebergewichtigen Mittfuenfzigern und kuemmere mich schon gar nicht mehr richtig darum. Vielmehr geniesse ich den Blick auf die wunderbare Landschaft vom Mavrovo-Nationalpark. Mir war gar nicht klar, dass wir da durchfahren – und ploetzlich finde ich mich inmitten einer der schoensten Landschaften meiner Reise wieder. Gruene Huegel, tiefe Schluchten, und unter uns im Tal die Radika, ein Fluss von einer sensationell blauen Farbe. 

Das Kloster Jovan Bigorski hat zwar eine herrliche Ikonostase mit wunderschoenen Schnitzereien – da der Grossteil der Gebaeude aber vor wenigen Jahren niedergebrannt ist, ist das ganze Gelaende eine grosse Baustelle und von stiller Klosteratmosphaere ist wenig zu spueren. Umso froher bin ich um die Fahrt vom Kloster nach Skopje, die weiter durch Mavrovo fuehrt. In der Abendsonne sind die dichtbewaldeten Huegel noch gruener und die Radika noch blauer.

In Skopje couchsurfe ich wieder – das erste Mal seit Serbien. Meine Gastgeberin Mariska holt mich vom Busbahnhof ab. Sie kommt aus den Niederlanden und macht in Skopje einen Europaeischen Freiwilligendienst – sofort fuehle ich mich an meinen eigenen EFD in Polen erinnert. Mariska teilt die Wohnung mit zwei Slowaken. Ueberall an den Waenden haengen Post-its mit mazedonischen Vokabeln und grosse Flipcharts mit Projektplanungen. In Ohrid stand mir das Couchsurfen etwas bevor, ich war doch sehr ans Hosteln und die staendige Gesellschaft anderer Reisender gewoehnt. Kaum mache ich es mir aber auf Mariskas Couch bequem bin ich wieder vollkommen begeistert von der Gastfreundschaft und dem Erfahrungsreichtum, den diese Internetgemeinschaft ermoeglicht.
In Skopje ist es heiss. Ich verbringe den ersten Vormittag hauptsaechlich damit, die Fussgaengerzone auf und ab zu schlendern, Kaffee zu trinken, Eis zu essen und Leute zu beobachten. Ich sitze dazu lange auf einer Parkbank neben dem Mutter-Theresa-Haus – die ist hier geboren und allgegenwaertig mit kleinen Denkmaelern und in Informationsbroschueren. Nachmittags treffe ich Mariska und sie zeigt mir das tuerkische Viertel, die Čaršija, und wir klettern auf die verwilderte Burg Kale und schauen uns den Sonnenuntergang an. 

Skopje ist lebendig und energiegeladen. Dass es nicht besonders huebsch ist, macht ueberhaupt nichts, ich fuehle mich wohl. Zum Beispiel am Parlament – ein unglaublich haesslicher sozialistischer Bau, aber davor wehen, ich habe gezaehlt, 25 mazedonische Flaggen am Strassenrand. Die gelbe Sonne auf rotem Grund gibt dem Ort ein froehliches und stolzes Flair.
Skopje ist deswegen so gezeichnet von sozialistischer Architektur, weil es in den 1960er Jahren bei einem Erdbeben weitgehend zerstoert worden ist. Nun baut sich die Stadt ihre Geschichte neu, ueberall entstehen Gebaeude, die alt aussehen, es aber nicht sind. Am Anfang der zentralen Bruecke ueber den Vardar stehen gewaltige Statuen von Goce Delčev und Dame Gruev, zwei mazedonischen Freiheitskaempfern. Sie sind monumental und sehen aus als seien sie mindestens hundert Jahre alt – aber tataeachlich stehen sie dort erst seit zwei Monaten. Ich nehme an, dass Mazedonien als ein Land, das eigentlich keine Geschichte als selbststaendiger Staat hat, solche Dinge braucht, um sich selbst zu definieren. Es ist ja ein zutiefst zerrissenes Land, das Konflikte mit allen angrenzenden Staaten hat. Mit den sonst so schwierigen Serben sind die Beziehungen noch am besten – Albanien, Griechenland und Bulgarien haben alle ein aeusserst gespaltenes Verhaeltnis zu dem kleinen Nachbarn.
Am Abend gehen Mariska, ihre Mitbewohner und ich zum MakeDox Dokumentarfilmfestival und schauen einen Film ueber Mostar, der mich nur einmal mehr daran erinnert, wie tief sich diese Stadt in meinem Herzen verankert hat. Anschliessend uebersiedeln wir auf den Hauptmarkt, dort ist Strassenfest und herrliche Musik von einer italienischen Band mit einer E-Geige, einem Sopransaxophon, Gitarre und Bass – irgendwo zwischen Klezmer, Ethnic, Balkanfolk und Ska. Wir tanzen mit fremden Menschen bis nachts um 2.

Am naechsten Morgen fahre ich mit dem Bus nach Štip und treffe dort meinen Gastgeber Dejan. Wir versuchen meine weitere Route zu planen und es stellt sich heraus, dass der Bus nach Bulgarien, den ich nehmen will, nur nachts um 11 faehrt. Daher schlafe ich nur nachmittags 2 Stunden auf Dejans Couch und verbringe keine ganze Nacht in Štip. Die Stadt ist aber auch wirklich nicht sehr spannend – dafuer die Gespraeche mit Dejan umso mehr. Er hat nur ein Bein, faehrt aber gerade in Etappen mit dem Fahrrad um die Welt, Europa, Asien und Suedamerika hat er schon abgehakt. Wir schnacken so die Zeit davon und abends bringt er mich dann zum Bus.

Der Grenzuebergang nach Bulgarien ist definitiv ein EU-Grenzuebergang. Das erste Mal auf der Reise muss mein Gepaeck oeffnen, sie wollen viermal meinen Pass sehen und das ganze nachts um 2 mitten im Nirgendwo auf einem Bergpass. Mir ist kalt und ich bin muede. Trotzdem beschaeftigt mich am meisten, wie das Ganze die Mazedonier nerven muss. Jahrelang war der Grenzverkehr hier sicher voellig unspektakulaer, und dann brauchten die Mazedonier zwischen 2007 und Anfang des laufenden Jahres ploetzlich sogar Visa fuer Bulgarien!
Ich lande nachts um 4 in Blagoevgrad, wickele mich am Busbahnhof in meinen Schlafsack und doese zwei Stunden vor mich hin. Um 6 stehe ich auf und suche lange nach einem Geldautomaten und dem richtigen Busbahnhof. Schliesslich kriege ich um 7 einen Bus nach Rila und von dort aus einen zweiten zum Kloster Rila.
Rila ist ein friedlicher, ein zauberhafter Ort. Die Sonne scheint so schoen auf die herrliche Klosterkirche und die angrenzenden Klostergebaeude, und die bewaldeten Huegel des Rilagebirges sind voller Vogelgesang. 

Der Bergfluss donnert am Kloster vorbei ins Tal. Es ist so friedlich, dass einem die Geraeusche der Natur wie Laerm vorkommen – aber ein herrlicher Laerm! Ich beziehe fuer eine Nacht eine Zelle mit einer Pritsche, einem Waschbecken mit kaltem Wasser und einer geschnitzten und bemalten Holzdecke, die dem kargen Zimmerchen eine einfache Schoenheit verleiht, wie sie vielleicht nur einem Kloster angemessen ist. Ich wandere ein bisschen um das Kloster herum, verbringe eine lange Zeit in der Kirche und singe schliesslich eine Weile am Ufer des Flusses, in dessen eiskaltes Wasser ich natuerlich auch meine Fuesse hineinhalte. Um 7 gehe ich schlafen.

Ich erreiche Plovdiv am naechsten Nachmittag, und das erste Mal auf der Reise moechte ich am liebsten rueckwaerts wieder zurueck in den Bus fallen, der so schoen kuehl ist mit der Klimaanlage – es ist wahnsinnig heiss. Ich esse ein Eis und treffe meinen Gastgeber Ivan an der Hauptpost. Wir fahren zu ihm und seiner Freundin Nelly nach hause, gehen abends essen und haben einen sehr entspannten Abend.
Am naechsten Morgen laufe ich in die Stadt. Ivan und Nelly halten mich fuer verrueckt, weil ich ankuendige, vermutlich den ganzen Tag ausser Haus zu sein, trotz der Hitze. 

In der Tat suche ich mir zwischen antikem Amphitheater, den wunderbaren Gebaeuden in der Altstadt aus der Zeit der Bulgarischen Nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert und der Fussgaengerzone haeufig ein schattiges Plaetzchen, um ein paar Minuten auszuruhen, und nachmittags gehe ich Klamotten einkaufen und schaue in einem Irish Pub Weltmeisterschaft. Anders ist die Hitze einfach nicht zu ertragen.

Ich kann grundsaetzlich nicht bestaetigen, dass die Bulgaren alle grummelig und unfreundlich sind. In einem Internetcafe in Plovdiv lasse ich meine Wasserflasche stehen und ein Maedchen kommt mir, trotz 35 Grad, zwei Kreuzungen hinterhergelaufen um sie mir nachzutragen. Der Busfahrer zwischen dem Kloster in Rila und dem Dorf hilft mir, den schnellsten Weg nach Plovdiv herauszufinden und bewahrt mich so vor 4 Stunden Wartezeit in Blagoevgrad. Das Land kommt mir ansonsten westeuropaeischer vor, vor allem was die Standards im Transportwesen betrifft. Ich bin sehr gespannt auf die Kueste, die sicher deutlich touristischer sein wird. Vor allem freue ich mich auf das Schwarze Meer. Ich habe ja eine besondere Beziehung zur Ostsee, und das Mittelmeer ist mir auch so vertraut. Wie wohl diese neue Kueste mit ihren neuen Horizonten auf mich wirken wird?

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