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Brückenschläge und Schlagworte

Schlagwort: Eastern Europe (Seite 8 von 9)

Dubrovnik und Korčula

Ein Erlebnis in Dubrovnik habe ich vergessen zu erwähnen, und es ist es wert, erwähnt zu werden, denn es war so anders als alle meine Eindrücke von Tourismus und überfüllten Straßencafes. Ich habe mich in die kleinen Nebenstraßen der nördlichen Altstadt zurückgezogen, die schattiger sind als der Stradun, die große Prachtstraße in der Mitte der Altstadt. Es ist angenehm kühl und es gibt tatsächlich kleine schmale Treppen, auf denen kein Mensch in lautem Englisch die Stille stört. Das genieße ich, und mache mich nur unwillig wieder auf den Weg Richtung Menschenmassen. Da finde ich, und hier hatte ich sowieso noch hingehen wollen, das Museum war photo limited, in dem Kriegsphotograhie ausgestellt wird.
Im Untergeschoss ist eine temporäre Ausstellung zum arabischen Frühling mit eindrucksvollen Bildern aus Libyen, Ägypten, Bahrain und Jemen. Ich suche aber eigentlich nach den Photos aus den Kriegen auf dem Balkan seit 1991. Sie sind oben in einer digitalen Slideshow. Kinder. Weinende Kinder. Schreiende Kinder.  Schlafende Kinder. Tote Kinder. Tote Mütter. Weinende Mütter. Rennende Mütter. Rennende Soldaten. Stolze Soldaten. Lachende Soldaten. Schreiende Soldaten. Soldaten vor brennenden Häusern. Soldaten in Panzern. Soldaten kurz vorm Abfeuern. Soldaten mit Fahnen. Frauen mit Fahnen. Männer mit Fahnen. Kinder mit Fahnen. Der albanischen Fahne. Der jugoslawischen Fahne. Der Fahne des Islam. Zerfetzte Fahnen voller Blut. Menschen voller Blut. Blutige Körperteile. Arme. Gesichter. Beine. Hände.Hände die beten. Menschen die beten. Menschen die weglaufen. Menschen die schießen. Menschen die Gräber ausheben. Die weinen. Die sterben.
Da betet einer vor einem verbeulten Kreuz in einer ausgebombten Kirche.
Da liegt einer ohne Kopf vor seinem Gemüsestand.
Da hat sich einer im Wald aufgehängt.

Verstehen kann ich das alles nicht wirklich.

Es ist Zeit für Leichtigkeit. Ich fahre mit dem Shuttle nach  Korčula. Dort liegen unbeschwerte Tage vor mir. In der kleinen Gasse, die zu unserer Pension führt, sind die Granatäpfel reif, gründe Mandarinen, die innen orange, saftig und lecker sind, hängen von den Sträuchern, und über einem Tor wächst eine Frucht, die von außen aussieht wie eine längliche Aprikose, aber sich weich und hohl anfühlt wie ein Gummiball und innen aussieht wie eine Maracuja. Ulli kommt einen Tag später an, wir gehen Shrimps und Muscheln essen und Wein trinken und  kommen langsam in der heißen Sommersonne und in der reinen Urlaubsstimmung an. Am ersten ganzen Tag wollen wir den Strand suchen – daraus wird eine eher unfreiwillige zweistündige Wanderung nach Lumbarda. Umwege führen uns ins Dickicht am Rand der Schnellstraße, zu inoffiziellen Müllhalden, kleinen Steinhäuschen, kleinen Tomatenfeldern und verlassenen Ruinen mit stylischen Grafitti. Kurz nach dem Ortseingang nach Lumbarda trinken wir Cappucino in der Sonne am Ufer und breiten uns anschließend an einem Steinstrand aus. Ruhe kehrt ein.
Später in der Woche fahren wir mit dem Wassertaxi nach Lumbarda und landen jetzt am offiziellen Strand. Das Wasser scheint mir hier noch klarer und türkiser zu sein, die Sonne noch wärmer und der Sommer noch ewiger. Wir haben zwei deutsche Mädels im Gepäck, die Ulli im Zug kennengelernt hat und die zufällig in der gleichen Pension untergekommen sind. Mit ihnen erkunden wir auch abends die Stadt. Im alten Stadttor steht eine Klapa und singt so herzzerreißend schön, dass ich mich nicht trennen kann. Die Mädels laufen weiter, ich rauche in der Kühle des Tores eine Zigarette und gehe auf in den Klängen der dalmatinischen Musik.

So fließen die Tage dahin mit Sonne, Strand, Gesprächen und Lektüre weniger anspruchsvoller Bücher. Ich merke jetzt, wie wichtig das war. Als ich schließlich auf die Fähre nach Split steige, bin ich froh, dass noch sechs Stunden Sonne, Wind und Wasser auf mich warten, bis ich in Split ankomme und mich der Nachtzug wieder Richtung Norden und Richtung Alltagsrealtität bringt.

Trebinje und Dubrovnik

Am naechsten Tag fahre ich mit dem Bus nach Trebinje. Oestlich von Sarajevo beginnt fast sofort eine wunderbare Landschaft – hier sind sie, die gruenen Huegel Bosniens, die ich im Herzen getragen habe. Enge Schluchten, weite Taeler, kleine Staedtchen mit Moscheen oder orthodoxen Kirchen praegen die Landschaft, ich fahre durch die Republika Srpska, man sieht es spaetestens daran, dass die Strassenschilder zum grossen Teil nur in Kyrilliza sind.
Am spaeten Nachmittag erreiche ich Trebinje im suedlichsten Teil der Hercegovina. Meine Couchsurfing-Gastgeberin holt mich an der Bushaltestelle – vielmehr: dem Parkplatz, auf dem der Bus haelt – ab. Sie ist eine deutsche Freiwillige, die hier fuer ein Jahr in einer Einrichtung fuer Behinderte arbeitet. Nach einem kurzen Schnack breche ich gleich wieder auf in die Stadt.

Auf der schoenen Bruecke ueber die Trebisnica schaue ich ins klare Wasser und geniesse die Abendsonne. Neben mir bleibt ein Passant stehen und sagt etwas zu mir, ich verstehe ihn nicht und sage auf bosnisch, dass ich die Sprache nicht kann, und er fragt zurueck, welche Sprache ich denn kann. Deutsch, sage ich, und er antwortet, dass er aus Villingen-Schwenningen kommt. Ausgerechnet, da muss ich schon lachen. Er sei vor vielen Jahren dorthin gegangen als Gastarbeiter und besuche jetzt als Fruehrentner ueber den Sommer seinen Bruder. Ueberhaupt nicht aufdringlich, einfach nur sehr nett und lustig ist das Gespraech, und nach einigen Minuten mache ich mich dann auf den Weg weiter in die Altstadt.
Sie ist klein, schattig, gruen und wunderschoen. Ohne richtig erklaeren zu koennen, warum, erinnern mich die Gebaeude gleichermassen an kroatische Kuestenstaedte und an die anderen mir bekannten Orte in der Hercegovina. Eigentlich muesste ja hier der serbische Einfluss groesser sein. Ueberall die weissen alten kuehlen Steine, und viele viele Baeume. Ich habe den Eindruck, dass hier Palmen, Kastanien und Zypressen nebeneinander wachsen, eine lustige Kombination. Die Kastanien sind vor allem dominant auf dem huebschen Trg Slobode, der Freiheitsplatz. Ich setze mich auf eine Bank und schaue die froehliche Lebendigkeit um mich herum an. Der Platz ist groesser und offener als ich es aus Mostar oder Sarajevo kenne, dadurch hat er nicht die kuschelige Gemuetlichkeit dieser Staedte, aber die Weite, die hier herrscht, ist angenehm, und unter dem Schatten der maechtigen alten Baeume vergisst man die Hitze. Ein Vater spielt mit seinem vielleicht drei Jahre alten Sohn Fussball. Ich strahle den kleinen Jungen an. Der Vater versucht auch mit mir zu reden, immerhin kann ich ganz kurz auf bosnisch bzw. hier heisst das wohl serbisch erklaeren, wo ich herkomme und dass ich zum Urlaubmachen hier bin. Sehr offen sind die Leute hier.
Ich laufe zum Stadtpark hinueber. Ueberall stehen Denkmaeler von Jovan Ducic, dem wichtigsten Sohn der Stadt – ein serbischer Dichter und grosser serbischer Patriot. Im Stadtpark ein denkmal fuer die Opfer des Zweiten Weltkriegs mit sozrealistischer Aesthetik, mir gefaellt das ja.
Zurueck in Richtung des Flusses steht noch ein Denkmal, eine grosse Saeule mit dreieckigem Grundriss, eine Seite ist weiss, eine rot, eine blau, auf dem knubbeligen Sockel steht in kleinen goldenen kyrillischen Buchstaben: Branilacima Trebinja 1991-1996, den Verteidigern von Trebinje. Im ersten Moment frage ich mich kurz, ob die drei Seiten fuer die drei Ethnien stehen, denke dann aber gleich: wohl kaum. Viel zu aufgeklaert. Und dann sehe ich auch, dass das Denkmal so serbisch ist, dass es einen beinahe aufbringen koennte, blauweissrot und christlich. An den Ecken des Sockels laeuft Wasser aus dem Stein, als wuerde er weinen. Die Saeule steht vor einer Mauer, oben auf der Mauer steht ein kleines orthodoxes Kreuz, vor der Mauer stehen sechs schwarze Granittafeln mit den Namen der Toten, einige sind gerade 20 Jahre alt geworden. Die Sonne geht langsam ueber der selbst aus der Ferne so kitschigen orthodoxen Kirche auf dem Huegel ueber der Stadt unter, die Luft wird rosa flimmernd und es ist sehr friedlich. Ich bin sehr froh, dass ich hergekommen bin.

Am naechsten Tag fahre ich morgens mit dem Bus nach Dubrovnik. Ich wollte letztes Jahr so oft herfahren, ich kann gar nicht glauben, dass es dieses Mal klappen soll. Der Busfahrer kommt mir bekannt vor. Ich habe kurz den Eindruck, es koennte derjenige sein, der mich letztes Jahr von Split nach Mostar gefahren hat und mit mir was trinken gehen wollte, dieser hier ist jedenfalls auch kurz davor mir ein aehnliches Angebot zu machen, laesst mich aber dann doch in Ruhe. Im Bus sitzt ausser mir nur ein aelterer Herr. An der Grenze werden wir ewig aufgehalten, weil mein Mitpassagier Medikamente dabei hat, die angeblich in Kroatien verboten sind. Ich halte das fuer eine Massnahme der Grenzer gegen Langeweile, an diesem uebergang passiert bestimmt nie was Spannendes. Dafuer ist der Blick auf die Adria geradezu atemberaubend.

In Dubrovnik muss man vom Busbahnhof mit dem Stadtbus zur Altstadt fahren. Voellig erschoepft komme ich im Hostel an, die Stadt ist schon auf den ersten Blick wunderschoen, aber fuerchterlich ueberfuellt. Ich liege wieder einen Tag flach, irgendwie habe ich mich ein bisschen uebernommen. Am naechsten Tag gehe ich morgens auf den kleinen Markt und es riecht so gut nach Lavendel. Ueberall wird er in kleinen dekorativen Saeckchen verkauft. Ich bleibe stehen und schnuppere in die Luft. Sofort sagt ein Verkaeufer: „You want? My wife make! Good price!“ Ich schaue mir seine Ware kaum einen Bruchteil von einer Sekunde an, da hat er schon die Plastiktuete in der Hand, in die er meinen Einkauf packen will. Sofort suche ich das Weite – aus Prinzip. Ich schaele mich durch die Massen von Tourgruppen mit ihren Reiseleitern, die Regenschirme oder Schilder hochhalten, damit sich die Gruppe nicht verliert. Unter den Arkaden  vor der Orlando-Statue steht eine Musikgruppe – eine junge Frau mit Geige und zwei Maenner mit Gitarre und einer wunderschoenen Querfloete aus schwarzem Holz. Sie spielen barocke Musik, die wunderbar zu der Stadtkulisse passt. Ich setzte mich hinter die Musiker auf den kalten weissen Stein in den Schatten und finde etwas von dem Zauber, der diese Stadt auszeichnet und dessen Ruf ihr vorauseilt. Das Stueck ist zu Ende und es ist, als gaebe es ein lautes Knacken oder das Zersplittern von Glas in meinem Kopf – die Musiker spielen Memories aus Cats, kitschiger geht es kaum. Sicherlich muessen sie die Beduerfnisse der Touristen bedienen, aber mir kommt Dubrovnik in diesem Moment vor wie Disneyland. Ein Spielplatz fuer Erwachsene, und ein Klischee. Sehnsuchtsvoll denke ich an die dalmatinischen Staedte, die ich letztes Jahr ausserhalb der Saison besucht habe. Im April muss es hier wunderbar sein. Weiss die Steine, rot die Daecher, maechtige Stadtmauern und eine fluechtige Erinnerung an Bombennaechte in den Neunzigerjahren – ich schaffe es nicht, das alles aus dem Sumpf von ueberteuerten Restaurants und Unterkuenften, kitschigen Souvenirs und aufdringlichen Verkaeufern herauszuholen. Es bleibt eine vage Ahnung von der Faszination, die Dubrovnik auf viele Besucher ausuebt.
Die Tage in Dubrovnik fliegen auf diese Weise ein bisschen an mir vorbei, ich kann mich nicht ganz auf die Stadt einlassen, ob das an meiner Gesundheit liegt oder nur daran, dass es mir einfach zu touristisch ist, kann ich nicht sagen. Auf dem Weg zum Tourist Office, das mir meinen Shuttle nach Korcula stellt, freue ich mich wahnsinnig auf Ulli und auf ruhige Inseltage.

Mostar, Stolac, Kravice, Pocitelj und Sarajevo

In Split am Flughafen empfaengt mich die Hitze, die ich den Sommer ueber in Berlin vermisst habe. Palmen stehen vor der Ankunftshalle. Die Luft flimmert. Ich teile mit zwei Australierinnen ein Taxi in die Innenstadt und springe fast uebergangslos in den Bus nach Mostar.
Die kroatische Kueste ist mir vertraut mit ihrer sich sanft schlaengelnden Strasse, den vereinzelten Glockentuermen in den kleinen Siedlungen und dem Blick auf ueberfuellte Straende. Verkarstete Berge liegen zu meiner linken, die Adria zur rechten. Noch vor der bosnischen Grenze wird der Himmel langsam dunkler, die Nacht senkt sich auf die Landschaft herab. Nach einer Busfahrt, die mir laenger vorkommt als im letzten Jahr, scheucht mich der Busfahrer in Mostar aus dem Bus. Ich habe diesen Busbahnhof noch nie gesehen. Ich mache mir kurz Sorgen, dass ich in der falschen Stadt ausgestiegen bin. Ein Geisterbahnhof, er sieht aus als waere er noch nicht ganz fertig gebaut, als wuerde hier eigentlich niemals ein Bus halten. Lebendig ist nur die Tankstelle an der Strasse. Ich fasse mir die zwei schwedischen Maedels, mit denen ich mich im Bus unterhalten habe, laufe vor zur Tankstelle, zeige dem Tankwart meinen Mostarstadtplan im Lonely Planet und frage auf bosnisch, wo wir sind. Unbestimmt zeigt er auf eine Gegend im kroatischen Teil der Stadt. Ich frage nach der Altstadt. „Taxi…“ lautet die Antwort. Ich bitte ihn, ein Taxi fuer uns zu rufen, weil wir keine bosnischen Telephone haben, und fuenf Minuten spaeter kommt auch eins. Ich nenne die Adresse von Majdas Hostel, der Taxifahrer weiss gleich bescheid. Die Schwedinnen sagen ihre Adresse, der Taxifahrer kennt sie nicht. Viel spaeter wird mir klar, dass das Hostel der Schwedinnen auf der bosniakischen Seite der Stadt liegt, der Busbahnhof ist neu, er wird auf der kroatischen Seite gebaut, damit Busse aus Kroatien und aus der vornehmlich kroatisch bevoelkerten Umgebung nicht mehr bis in den bosniakischen Teil fahren muessen. Ich bin wieder in die politische Sphaere eingedrungen, die Mostar heisst.
Im Hostel gibt es ein grosses Hallo und herzliche Begruessungen. Wie nicht anders erwartet: Ich fuehle mich, als sei ich nie weg gewesen. Der erste ganze Tag vergeht in entspannter Traegheit. Bosanska kahfa, an den Moscheen in der Altstadt vorbeitroedeln, in kurzes Bad in der reissenden Neretva, um der Hitze zu entfliehen. Abends gehen wir ein Bier trinken auf einer der kleinen Terassen ueber dem Fluss, die den wunderschoenen Blick auf die Bruecke freigeben. Dahinter ist eine Islamschule fertig restauriert, die letztes Jahr noch nicht da war. In meinem Kopf ersetze ich die Klaenge der Balkanmusik durch Bombenlaerm und Kriegsgeraeusche. Alles an diesem Ort ist herzzerreissende Schoenheit und abgrundtiefe Traurigkeit zugleich.
Am naechsten Tag fahre ich mit Brent, Else und Nick aus dem Hostel nach Stolac. Es muss im Krieg voellig dem Erdboden gleichgemacht worden sein, und man sieht deutlich mehr Kriegsschaeden als in Mostar – Einschussloecher an den Waenden, mitunter Haeuser von denen nur noch die Waende stehen. In den Ruinen hinter der Moschee liegen, wie in Vukovar, noch die Bosenfliesen in einem rotweissen Karomuster, ein intakter Fussboden in einem vollstaendig zerschossenen Haus.
Wir klettern ueber verschlungene Pfade einen eindeutig inoffiziellen Weg hoch zur Burg. Eine Herde Ziegen versteckt sich vor der brennenden Hitze in einem der alten Wachtuerme. Sie maehen uns klaeglich an. Weiter nach oben durch das Gestruepp, immer hoeher, bis wir im obersten Burghof ankommen. Hier steht ein ueberdimensionales Steinkreuz, davor ein grosser steinerner Altar. Mich erinnert die Szene an die Chroniken von Narnia und die Szene, in der der Loewe Aslan sich auf dem steinernen Tisch opfert. Die Steine sind neu, und der Putz auch, eindeutig sind diese Dinge hier erst nach dem Krieg hingesetzt worden, um kroatische Besitzansprueche zu demonstrieren. Immerhin ist die Moschee im Tal in sehr gutem Zustand und von aussen entzueckend mit einem kleinen gepflegten Friedhof voller bluehender Rosen. Leider ist sie geschlossen.
Wir fahren durch die Umgebung, schauen uns die grossen Grabsteine der bosnischen Kirche an, die von eben dieser christlichen Bewegung des Mittelalters zeugen. In Mostar gibt es ein altes ausgebombtes Einkaufszentrum, das noch immer ruinoes in der Innenstadt steht und dessen Aussenwaende ebensolche Zeichnungen aufweisen, wie wir sie hier auf den Grabsteinen finden. Die bosnische Kirche ist durchaus Teil der genuin bosnischen Identitaet.
Die bosnische Kirche soll auch Blagaj bereits als heiligen Ort genutzt haben, wo wir ebenfalls noch Halt machen. Heute steht dort die herrliche Tekke, in der ich letztes jahr so viele ruhige friedliche Stunden zugebracht habe. Sie wird durch tuerkische Geldgeber restauriert und man kann nicht hinein, aber die Quelle der Buna ist ein Naturereignis wie eh und je. Dennoch kommt mir der Ort irgendwie entweiht vor durch den Baulaerm, und ich habe auch den Eindruck, dass mehr Restaurants dort geoeffnet haben und alles etwas touristischer geworden ist. Bata versichert mir spaeter, dass dort genauso viele Gebaeude stehen wir letztes Jahr und es schon immer genauso touristisch war wie jetzt. Aber mir wird trotzdem etwas wehmuetig, als ich dort stehe und auf die Tekke hinuebersehe.
Der Weg zurueck nach Mostar fuehrt durch eine trostlose Landschaft. Auf der einen Seite verbrannte Erde, auf der anderen karges Heideland. Ich habe Bosnien gruener in Erinnerung. Ob der lange heisse Sommer die Gegend so ausgetrocknet hat? Ich bin froh, wieder in Mostar anzukommen, die gruene Neretva im Blick. Abends gehen wir mit Hostelgaesten essen. Im Restaurant hoere ich eine Gruppe am Nebentisch aufbrechen, einer der jungen Maenner sagt: „Ajde!“ Mein Herz huepft. Ich bin tatsaechlich wieder auf dem Balkan.
Ich fahre noch einmal mit auf die wunderbare Tagestour, die Bata anbietet. Sie ist etwas anders als im letzten Jahr und umfasst nur noch zwei Orte, darunter die wunderbaren Wasserfaelle in Kravice, an denen wir viel Zeit verbringen. Bata bringt uns diesmal etwas abseits von der Fuelle der Badegaeste in abgeschiedenere Gegenden. Ich springe von einem elf Meter hohen Kliff in das gruene Wasser und schreie dabei laut. Es ist befreiend.
Die zweite Station heisst Pocitelj, und die Schoenheit des Ortes geht mir wieder ans Herz. Die anderen Reisenden erklimmen einen der Festungstuerme der mittelalterlichen Stadt, ich bleibe unten, schaue auf die Moschee hinueber und sehe zu, wie das letzte bisschen Sonnenlicht hinter den Bergen verschwindet.
Am naechsten Morgen geht der Zug in aller Fruehe nach Sarajevo. Ich fuehle mich nicht ganz gesund, habe Magenprobleme und bin sehr muede, ich habe die letzten drei Naechte sehr schlecht geschlafen, weil die Klimaanlage so kalt eingestellt war. In Sarajevo angekommen checke ich im Hostel ein und gehe in dem kleinen Innenhof hinter dem Taubenplatz eine bosanska kahfa trinken. Anschliessend beschliesse ich, mich im Hostel ein bisschen hinzulegen. Nach zwei Stunden wache ich auf, mir ist eiskalt, ich zittere, aber ich fuehle mich heiss an, ich glaube ich habe ein kleines Fieber. Ich gehe direkt schlafen – aus einem schoenen Tag in Sarajevo wird so nichts, aber ich kenne die Stadt ja und bin froh, wenigstens ein bisschen das besondere Flair der tuerkisch gepraegten Innenstadt aufgesogen zu haben. So werde ich hoffentlich wenigstens fit sein fuer die lange Busfahrt nach Trebinje am naechsten Tag.

Gdańsk – Danzig II

Auf der Schiffsfahrt hinaus zur Halbinsel Westerplatte nachmittags nieselt es und es ist ziemlich kalt. Auf polnisch und deutsch schallen Informationen aus den Lautsprechern, die erklären, an welchen geschichtsträchtigen Orten wir vorbeifahren. Am żuraw, dem Krantor, an der Werft, an zahlreichen Speichern und Kränen, die unseren Weg säumen, der Festung Weichselmündung und dem Weichseldurchbruch vorbei geht es immer weiter, bis wir schließlich anlegen. Durch den Wald hindurch spaziere ich zwischen den zahlreichen anderen Ausflüglern an die Spitze der Halbinsel, an der auf einem Hügel das große Denkmal steht, das an den Ausbruch des zweiten Weltkriegs erinnert. Als „europäischen Erinnerungsort“ feiern es die Reiseführer, und als „obligatorische Station jedes politischen Staatsbesuchs“. Ich fühle mich etwas in mich gekehrt. Der Gedanke, dass dies einmal ein Ort der Sommerfrische war, bevor Militär einzog, dass hier Menschen mit eleganten Kleidern am Ufer flanierten und Kinder in den Wellen spielten, fühlt sich fremd und unwahrscheinlich an.

Das Denkmal ist groß und pompös. Ich bin eher für die stillen Erinnerungsorte, die versuchen, Gefühl zu vermitteln. Der Steinklotz vermittelt nur Härte – aber vielleicht muss das so sein an diesem Ort? Unterhalb des Hügels stehen große weiße Lettern vor dem Wald – „Nigdy więcej wojny“, Nie wieder Krieg. Ich sitze auf dem Sockel des Denkmals mit dem Blick auf die weiten der Ostsee, von wo aus der Angriff auf Polen gekommen sein muss und singe, mal wieder, leise vor mich hin. Reinhard Mey. „Mein dunkles Land der Opfer und der Täter, ich trage einen Teil von deiner Schuld.“ Aber so richtig kann ich nicht begreifen, an was für einem Ort ich mich hier eigentlich befinde.

Die Rückfahrt in die Danziger Innenstadt ist wunderbar, die Sonne ist hervorgekommen und scheint mir ins Gesicht, der Fahrtwind und eine leichte Gischt um meine Nase geben mir das Gefühl, zuhause zu sein – wie in Hamburg. Als das Krantor wieder in Sicht kommt, freue ich mich auf das Hostel und ein bisschen Ruhe. Jedoch, der Abend wird länger als vermutet – als ich ins Bett gehe, wird es draußen schon wieder hell. Es ist phantastisch, wie viele interessante und unterschiedliche Menschen man in Hostels kennen lernt, wie der Kontakt mit diesen Menschen den eigenen Horizont immer und immer wieder erweitert und wie unkompliziert Menschen, die einander bis vor Kurzem fremd waren, anteil aneinander nehmen.

Am nächsten Tag frühstücke ich mit Lea und Vroni in der Mariacka, der Frauengasse. für mich ist es die schönste Straße in der Danziger Innenstadt. Die Häuser haben alle kleine Terassen vor den Eingängen, die Straße ist schmal und bunt von den hübschen Bürgerhäusern und führt vom Wasser direkt auf die Marienkirche zu.


Kleine Schmuckgalerien und Straßenstände mit Bernsteinschmuck säumen das schmale Gässchen mit Kopfsteinpflaster. Hier kann man mit einem Kaffee durchaus die Zeit vergessen. Gerne bliebe ich länger, aber ich habe noch Pläne. Nach einem kurzen Besuch im Günter Grass Museum fahre ich heute nach Oliwa.

Es nieselt. Die Straßenbahn hält nicht dort, wo mir mein Reiseführer empfohlen hat, auszusteigen. Die Kapuze meiner Regenjacke tief ins Gesicht gezogen versuche ich, mich zu orientieren, es klappt nicht. Ich laufe also geradewegs in die Richtung, in der ich die Ostsee vermute, obwohl die eigentlich viel zu weit weg ist, um zu Fuß dorthin zu gehen. Auf der rechten Straßenseite tut sich ein Park auf. Der gefällt mir, da will ich rein – kaum schaue ich in meinem Reiseführer nach, sehe ich, dass ich hier sowieso noch hätte landen wollen. Der Park von Oliwa ist sehr alt und sehr hübsch. Ich bedaure es sehr, dass das Wetter so schlecht ist, ich hätte mich zu gerne auf eine der Bänke gesetzt und die Blumenrabatten, die kleinen Statuen, Seen und Bächlein auf mich wirken lassen. Einer der Bäume tut es mir besonders an.


Ich streichle den weißen alten Stamm. Er fühlt sich warm und sehr lebendig an, dabei sieht er so trocken und geisterhaft aus.

Direkt an den Park anschließend finde ich den Kirchhof der Kathedrale. Oliwa hat eine lange Geschichte als Sitz eines großen Klosters – ein Hort des polnischen Katholizismus und besonders spannend und spannungsreich im Verhältnis zum preußischen, protestantischen Danzig. In seiner Geschichte hat Oliwa mehrmals zu Danzig gehört, um dann wieder eigenständig zu werden. Immer noch muss die Kathedrale wohl ein wichtiger Identifikationspunkt für die Einwohner sein.

Ich stehe noch am Eingang und schalte mein Handy aus, da sehe ich schon, wie voll es in der Kirche ist. Ich hoffe erst auf einen Gottesdienst, aber es kommt fast noch besser. Es spielt jemand Orgel – und was für eine Orgel! Sie ist wunderschön und riesenhaft, mit dunklem Holz und kitschigen Engelchen, die Instrumente halten. Es erklingt die Bach Toccata und Fuge in d-moll (BWV 565). Zu den Höhepunkten beginnen sich an der Orgel vier Zimbelsterne zu drehen, und die Engel bewegen ihre Posaunen und Trompeten auf und ab. Ich finde das ein bisschen amerikanisch, aber der Organist ist wirklich gut und die Stimmung in der unfassbar schmalen, langen, hohen Kirche ganz besonders. Nach dem Stück löst sich die Masse aus ihrer kurzfristigen relativen Verzauberung, und auch ich streife noch ein bisschen durch das Kirchenschiff mit den ungewöhnlichen Maßen. An einer Wand hängt eine Tafel, auf der das Vater Unser auf Kaschubisch steht. Es liest sich lustig, es kommt mir vor als verhielte es sich zu Polnisch in etwa so wie Platt zu Hochdeutsch.

Ich wage mich wieder in den Regen und klettere noch auf den Pachołek, den Pollerhügel. Wenn das Wetter schön ist, muss die Aussicht atemberaubend sein, aber auch so gefällt mir der Blick auf die wolkenumrahmten Hügel und Freudenthal, Dolina Radości. Schließlich laufe ich noch ein ganzes Stück durch die kleinen Oliwaer Straßen, von denen viele mit herrlichen Lindenbäumen gesäumt sind, um die Stelle zu finden, an der das Haus des Professors Hanemann aus Stefans Chwin gleichnamigem Roman (in deutscher Übersetzung: „Tod in Danzig“) stehen soll – kein besonders lohnenswerter Ausflug, dort ist ein Mischgebiet, und das Haus gibt es gar nicht. Durchgefroren und klamm fahre ich wieder in die Innenstadt, ich habe mir wohl eine kleine Erkältung geholt. Im Hostel haben Vroni und Lea schon für mich mitgekocht. Noch ein Abend in ausgelassener Reiseheiterkeit liegt vor mir.

Am nächsten Morgen reicht es nur noch für ein weiteres Frühstück in der Mariacka und schon muss ich wieder zum Bahnhof. Danzig hat sich mir viel eher als Gdańsk erschlossen, ich finde die Stadt erstaunlich wenig deutsch – aber ich bin auch Schlesien gewöhnt, das wenig polnische Geschichte hat und eigentlich fast immer deutsch war, während Danzig tatsächlich auf ein wirres Hin und Her zwischen der deutschen und der polnischen Kultur und Herrschaft in seiner Geschichte zurückblickt. Schon wieder ein Ort, an den ich zurückkehren möchte. Wie gut, dass Danzig nicht weit ist von Berlin. Wenn mich das Fernweh packt, kann ich auch kurzfristig ein paar Tage dorthin fliehen. Mir würde es gefallen, wenn ich das Zuhause-Gefühl, das ich in dieser Stadt hatte, auf diese Weise vertiefen kann. Es gibt dort zumindest noch tausend Dinge zu entdecken.

Gdańsk – Danzig I

Im Zug zwischen Szczecin (Stettin) und Gdańsk bietet sich mir ein verrücktes Schauspiel beim Blick aus dem Fenster – Regen und Sonne scheinen sich alle Viertelstunde abzuwechseln, es ist nicht abzusehen, welches Wetter mich an der polnischen Ostseeküste erwartet. Ich unterhalte mich mit zwei deutschen Mädchen, die auf einer dreiwöchigen Reise Zuflucht in Polen suchen, so muss man es wohl sagen, vor den hohen Preisen in Norwegen. Als wir zu dritt in Danzig aussteigen, scheint die Sonne und es ist warm. Schon der Bahnhof selbst gibt einen Vorgeschmacke auf die Backsteinschönheit, auf die ich mich so gefreut habe, und die ich dunkel, sehr dunkel im Gedächtnis habe. Ich war schon einmal hier, 1993. Immer wieder werden Erinnerungsfetzen zurückkommen während meines Aufenthaltes.
Nach dem Einchecken im Hostel gehe ich mit Vroni und Lea essen – Pierogi ruskie, nur damit ich wieder weiß, wo ich bin. Die Tortelloni-ähnlichen Maultaschen sind mit einem quarkartigen Weißkäse und Kartoffeln gefüllt, man isst sie mit saurer Sahne. Deftig und lecker, das richtige Essen nach einem langen Tag im Zug ohne Verpflegung. Die Mädels bestellen Lachs, den ich probieren darf – er zergeht auf der Zunge! Zum Nachtisch Szarlotka, den gedeckten Apfelkuchen, warm und mit Sahne. Vroni und Lea sind begeistert und ich freue mich, dass meine kulturelle Vorbildung jemandem zugute kommt. Wir sitzen direkt am Wasser der Motława (Mottlau), große Fähren und kitschige Segelschiffe fahren an uns vorbei, eines heißt doch tatsächlich Czarna Perła – Black Pearl, wie das Piratenschiff in „Fluch der Karibik“, wenn das keine Touristenfalle ist.
Wir schlendern am Fluss und an den verschiedenen alten Stadttoren entlang, den Blick habe ich noch im Kopf und im Herzen von damals. Überall in der Stadt ist Dominiks-Jahrmarkt, ein Mitreisender im Zug hat uns das schon erzählt. Auf dem Targ Węglowy (Kohlenmarkt) stehen Fahrgeschäfte. Auf dem Długi Targ (Langer Markt) stehen Stände mit Schmuck, Nippes und Kleidung und Fressbuden. Die Sonne scheint und taucht die Stadt mit ihren Bürgerhäusern und dem roten Backstein an Toren, Kirchen, Häusern in ein warmes Abendlicht.


Es ist bezaubernd. Eine Straßenmusikerin singt leichten, sehnsüchtigen polnischen Jazz, der die Stimmung einfängt, als wäre die Musik eigens für diesen Anlass komponiert worden. Auf dem Weg zurück Richtung Hostel sehen wir einen riesiegn Regenbogen. Ich freue mich auf die Entdeckungen der nächsten Tage.

Am nächsten Morgen laufe ich zunächst an der Polnischen Post vorbei, die einen ähnlichen Stellenwert für die Polen einnimmt wie die Westerplatte, wo am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Die dezidiert polnischen Orte wurden damals gezielt angegriffen. Ein Onkel von Günter Grass hat sich bei der Verteidigung der Post engagiert und ist deswegen später standesrechtlich erschossen worden. Ein sozrealistisches Denkmal steht auf dem Platz vor dem eher unscheinbaren und wieder weitgehend hergestellten Gebäude. Es zeigt eine Nike-Figur.
Auf dem Weg hinüber zur Danziger Werft liegen auf dem aufgerissenen Straßenpflaster kleine überreife gelbe Mirabellen und eine Menge giftig roter Vogelbeeren. Es sieht herbstlich aus mit den grellbunten Farben, und das Wetter erinnert auch eher an einen warmen Oktober: nicht zu kalt, aber grau und nieselig. Ich passiere die herrliche riesige Bibliothek, erhasche durch eine Seitenstraße schon einen Blick auf das Tor der Werft und bin ein bisschen aufgeregt. Hier haben die Menschen 1970 gegen Preiserhöhungen protestiert, hier hat die Solidarność-Bewegung ihren Anfang genommen. Rechter Hand erreiche ich den Plac Solidarności – den Solidarnośc-Platz mit seinem überdimensionalen Denkmal in Form einer hohen Säule.


Es wurde schon 1980 errichtet und ist eindrucksvoll in seinem Detailreichtum, der trotzdem der Schlichtheit keinen Abbruch tut. In seiner schmalen schlanken Höhe fügt es sich in die Stadtsilhouette mit den vielen Kränen ein. Auf der einen Seite steht ein Gedicht von Czesław Miłosz: 

Który skrzywdziłeś człowieka prostego
Śmiechem nad krzywdą jego wybuchając,
 

Nie bądź bezpieczny. Poeta pamięta.
Możesz go zabić – narodzi się nowy.
Spisane będą czyny i rozmowy.

Mein Versuch einer nicht ganz linearen deutschen Übersetzung:

Der du einem einfachen Menschen Unrecht getan hast,
ein Lachen über sein Leid auf dem Gesicht,
sei dir nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer wird geboren.
Geschrieben werden die Taten und Worte.

Der Wind braust mir um die Ohren, es ist kalt und ich bin zweifelsohne in Ostsee-Nähe. Vor mir die Wand mit Marmortafeln zum Gedenken an diejenigen, die 1970 durch die Gewalt der Polizei umgekommen sind. Rechts von mir das Tor zur Werft, die früher Lenin-Werft hieß und heute wieder Danziger Werft, Stocznia Gdańska. Mir wird klar, wie wichtig Danzig tatsächlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen ist, wie stark die großen Ereignisse hier verwurzelt sind. In Krakau atmet man auch Geschichte, aber Mittelalter, k.u.k. Monarchie und Avantgarde sind dort präsenter als Zweiter Weltkrieg und Sozialismus. Hier, in Danzig, kommt man weder am einen noch am anderen vorbei. Ich beschließe, später zur Westerplatte zu fahren – davon werde ich später berichten. Erst zieht es mich jedoch in den „Vorort der Dichter“, so mein Reiseführer, nach Wrzeszcz, zu deutsch Langfuhr.

Mit der Straßenbahn ist Wrzeszcz leicht zu erreichen. Ich steige an der Aleja Mickiewicza aus – ach, eine Straße dieses Namens gibt es doch in jeder polnischen Stadt, ich bin froh, ich bin in einem fremden Land, in dem ich mich nicht fremd fühle, und ich bin glücklich, dass ich solche Orte habe. Durch unspektakuläre Straßen laufe ich auf der Suche nach dem einen Ort – da ist es, das Geburtshaus von Günter Grass, in dem auch der Protagonist der Blechtrommel, Oskar Matzerath wohnt.


Ein kurzes Zitat aus der Blechtrommel steht auf einer Plakette am Haus, es ist grau und hässlich verputzt, und trotzdem stehe ich kurz andächtig davor und frage mich, ob mein Großvater vielleicht in einem ähnlichen Haus in Danzig geboren und aufgewachsen ist.
Ein Stückchen die Straße hinunter gibt es einen kleinen Platz. Da sitzt er auf einer Bank, mit stummem Blick und seinem Instrument: Oskar Matzerath höchstpersönlich. Ich setze mich auf eine Zigarette neben ihn. Gesprächig ist er nicht – schade. Ich würde gerne von ihm hören, wo ich noch hinlaufen soll in Wrzeszcz.


Ich schließe meinen Ausflug in die Vorstadt mit einem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche. Leider ist sie zu, ich kann nur durch die Gitterstäbe ins innere schauen. Leise singe ich ein polnisches Kirchenlied. Roter Backstein, herrliche Rundbögen, weiße Wände und ein ganz besonderes Licht. Ich muss nicht zum ersten Mal an Lübeck und Greifswald denken. Die hanseatische Vergangenheit, sie trägt sicherlich dazu bei, dass ich Gdansk schon jetzt lieben gelernt habe.

Košice und Bratislava

Mit dem Zug geht es weiter nach Košice, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Eine erste Stadtführung reicht aus, um uns völlig für diese wunderbare Stadt einzunehmen. Sie ist gerade groß genug, um viel zu bieten und gerade klein genug, um nicht nur kommerziell zu sein. Ganz abgesehen davon ist sie traumhaft schön. Der Turm der Kathedrale leuchtet mit seinen Goldverzierungen.
Die alten Tramschienen, auf denen keine Straßenbahn fährt, gliedern die breite Hauptachse der Fußgängerzone in zwei Seiten, die sich am Theater spalten und jeweils links und rechts am Dom vorbeiführen. Wieder die geliebten Bürgerhäuser, die auf das bunte Treiben herunterschauen. Überall ist Musik. Zwar ist viel modernen Mainstream-Pop dabei, aber es hebt doch die Stimmung, wenn einen Rhythmen und Melodien auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht bleibt Košice für mich deshalb die allerschönste Stadt der Reise – sie hat für mich gesungen, nicht nur auf den Straßen.
Wir besuchen abends eine Aufführung im Theater, ein Tanztheater über Jánošík, den Robin Hood der Slowaken und Polen. Die fünf Musiker auf der Bühne sind phantastisch mit ihren vielen Instrumenten – Streichinstrumente, Zupfinstrumente und Holzblasinstrumente, und einmal sogar eine Maultrommel. Die Geschichte und die ganze Inszenierung sind zwar keine hohe Theaterkunst, aber die schmissige Musik und die Tänze, die Csárdás und Schuhplattler zusammenbringen, sind mitreißend und machen Spaß. Am Ende werden einige von uns auf die Bühne gezogen und tanzen mit in Sneakers und abgewetzten Reisejeans – nun wissen wir auch, warum sich die anwesenden Slowaken alle so schick angezogen haben.
Am nächsten Morgen haben wir einen Termin mit dem Team der NGO Košice 2013, die das Projekt Kulturhauptstadt begleitet und vorantreibt. Sie arbeiten auf dem Gelände einer alten Kaserne, für die es tolle Pläne zu Umbau und Sarnierung gibt. Das Gelände hat in seinem leicht verfallenen Zustand aber so viel Charme, dass ich mir eher Sorgen mache, ob es nicht zu Tode restauriert wird, wenn alle Vorhaben umgesetzt werden. Alte knorrige Bäume stehen zwischen barungelblichen alten Gebäuden, von denen der Putz abblättert. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies ein ausgesprochen kreativer Ort ist.
Nach einem kurzen Mittagessen laufen wir zum Romatheater, dem einzigen staatlich subventionierten Theater für Roma in der Slowakei.
Wir schauen bei der Probe zu, und wenn ich auch nicht alles verstehe, amüsiere ich mich königlich. Ich finde die Menschen auf der kleinen Bühne nicht nur schauspielerisch talentiert. Viel wichtiger ist, dass sie einen unglaublichen Spaß an ihrer Tätigkeit haben. Ein winziger Theatersaal sprüht vor Lebensfreude und Fröhlichkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand davon nicht anstecken ließe. Sie bringen uns ein Lied auf Roma bei. Duj, duj, duj, duj, dešuduj, tečumidav tečumidav parno muj… Wir möchten am liebsten noch mehr lernen. Stattdessen bringen uns der Regisseur und die Choreographin nach unten, wo das Orchester übt. Simona und Renata fangen an zu tanzen, die Musik ist so mitreißend. Die Roma beantworten geduldig unsere Fragen. Sie freuen sich über unser Interesse. Sie haben charismatische Gesichter und ein offenes, herzliches, warmes, lautes Lachen. Ja, Košice hat für mich gesungen, in verschiedenen Sprachen und Melodien, die ich mit mir nach hause trage.
Ungern verlassen wir Košice, um zu unserer letzten Station aufzubrechen – nach Bratislava. Natürlich darf die Hauptstadt im Programm der Exkursion nicht fehlen. Wir haben hier noch einige Termine am Literaturzentrum und am Filminstitut. Da die Gruppe immer enger zusammenrückt und die Mitreisenden immer mehr zu echten Freunden werden, werden auch die Nächte immer länger, und so interessant es besonders am Filmzentrum ist, fallen mir zwischendurch doch einmal die Augen zu.
Anders bei der Stadtführung mit Michal Hvorecky, einem erfolgreichen jungen Autor, der in Bratislava lebt und arbeitet. Einige seiner Bücher gibt es auch bereits auf Deutsch. Anna hat mir vorher davon erzählt – was Hvorecky schreibt, hört sich ziemlich verstörend an, geht es doch um beispielsweise um eine Geschlechtsumwandlung auf Grund einer Überdosis Antibabypille oder um den kalten Entzug von der Sucht nach Pornographie. Hvorecky entpuppt sich als ausgesprochen höflicher, fröhlicher und kluger Begleiter auf einer Stadtführung. Er spricht ausgezeichnet deutsch mit einem ganz leichten Akzent und gibt uns auf vage Fragen detaillierte Antworten, die mitunter Informationen enthalten, von denen wir gar nicht wussten, dass sie uns interessieren würden. Mit großer Zuneigung spricht er von der Donau und schafft es, trotz kritischer Bemerkungen über seine Heimat keinen Zweifel daran zu lassen, dass er Bratislava liebt und schätzt.
Ein Tag in Bratislava ist mir wieder viel zu kurz. Es ist zwar schon eine Steigerung zu den drei Stunden, die ich letztes Jahr zu Beginn meiner Reise hier verbracht habe, aber ich war immer noch nicht auf der Pressburger Burg oder auf der Burg Devin, und ich habe noch nicht ausreichend die hübsche Innenstadt erkundet, ich habe noch nicht verstanden, welche Gegensätze diese Stadt zerreißen, die eigentlich nie slowakisch war, sondern fast immer deutsch, und die es doch zur Hauptstadt gebracht und ihren ganz eigenen Charme entwickelt hat. Nachts stehe ich mit einigen von uns auf einer der Donaubrücken. Der Wind pfeift uns um die Ohren, die Donau wälzt sich grau und wogenschlagend unter uns vorbei. Man muss sich gegen den Sturm lehnen, wenn man vorankommen will, sich gegen ihn auflehnen, ihn bezwingen. Und am nächsten Morgen? Eine leichte Brise, warmer Sonnenschein und Friedlichkeit.
Das Ende der Reise ist schließlich doch viel zu schnell gekommen. Aber es ist doch so, dass jedes Erlebnis durch seine Endlichkeit umso schöner wird. Für immer hätte sicher keiner von uns so weiterreisen können, mit dem vollen Programm und der ständigen Gesellschaft von 16 Menschen. 10 Tage lang haben wir ein fremdes Land erkundet. Dabei sind Freundschaften entstanden, die bleiben werden. Als ich an der Bratislava Hlavna Stanica in den Zug steige, begleiten mich neun liebe Menschen: Tilman, Renata, Vaclav, Stefan, Martin, Anna, Zina, Katja und Michal. Auf dem Bahnsteig singen wir noch einmal Duj duj duj und natürlich unser slowakisches Quotenlied, To ta Hel’pa. Dunaj, Dunaj, Dunaj, Dunaj, aj to širé pole, len za jedným, len za jedným, počešenie moje… Wie ich in der Tür des Zuges stehe und sie alle so anschaue, die da auf dem Bahnsteig stehen und mich wegwinken wollen, weiß ich nicht, wohin mit meinem Glück und meiner Dankbarkeit für die Möglichkeit, so wunderbare Erfahrungen machen und so tolle Menschen kennen lernen zu dürfen.

Levoča, Spišský hrad und Prešov

Nach einem abend voller Lieder besuchen wir am nächsten Morgen den evangelischen Gottesdienst in Kežmarok. Da ich spät im Bett war, bin ich ein bisschen zu spät dran, die anderen sitzen schon in einer vorderen Bank in dem großen grauen Kirchenschiff. Ich leise setze ich mich in eine der hinteren Bänke. Ich versuche, das Kirchenlied mitzusummen, das gerade angestimmt worden ist. Da steht plötzlich Mikuláš Liptak, der uns am vorigen Tag die Stadt gezeigt hat, neben mir und hält mir mit einem lieben Lächeln sein Gesangbuch hin. Slowakisch ist nicht schwer zu lesen, ich kann gleich mitsingen. Von der Predigt verstehe ich aber nicht viel. Meine Gedanken schweifen ein wenig ab und mein Blick fällt auf die linke Kirchenwand. Dort ist ein Soldat abgebildet, der vor einem Engel kniet, und es steht auf Deutsch – wir befinden uns ja in der Region der Karpathendeutschen – darunter: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde.“ Es ist ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Ich finde den Spruch makaber. Für Freunde? Für ein Land, für eine abstrakte Idee! Menschen waren in den Weltkriegen auch gezwungen, Freunde zu töten, vielleicht häufiger, als für sie zu sterben.
In zwei Kleinbussen fahren wir nach Levoča, ewige Konkurrentin von Kežmarok und, wie ich finde, noch hübscher, wenn auch weniger lebendig. Es sind kaum Menschen unterwegs. Auch hier steht uns wieder ein kompetenter Stadtführer zur Verfügung: Herr Chalupecky ist Historiker und spricht wie Herr Liptak dieses reizende Zipser Deutsch mit den langgezogenen Vokalen und dem leicht gerollten R. In Kežmarok haben wir uns den ganzen Tag in ausgekühlte Gebäude angeschaut, in der Burg waren es 4 Grad. In Levoča strahlt die Sonne jetzt richtig warm und die bunten Häuser am Marktplatz leuchten. Viele sind gelb und orange. Dadurch sieht die Stadt warm und fröhlich aus. Es ist wieder zu wenig Zeit, ich würde gerne die Seitenstraßen erkunden und ein bisschen auf dem Platz vor dem Rathaus sitzen.
Anschließend bringen uns die Busse auf die Zipser Burg, Spišsky Hrad. Mitten in der weiten Landschaft steht sie grau und behäbig auf ihrem Hügel. Auf dem höchsten Turm hat man einen vollständigen Rundum-Ausblick in die weite Landschaft. Es ist windig und frisch dort oben, und herrlich in der Sonne.
Ausgehungert lassen wir uns von unseren Bussen zu einem nahegelegenen Ausflugslokal bringen. Vor dem Eingang steht ein winziger Käfig mit einem Lämmchen darin. Das arme Tier hat nicht einmal Platz um aufzustehen und mäht kläglich. Wir debattieren lange, ob wir gehen oder bleiben, zumal die Bedienung unfreundlich ist. Schließlich landen wir aber doch auf der Terasse des Restaurants. Müdigkeit und das milde Entsetzen über die Tierquälerei sind nur zu ertragen, wenn man sie nicht so schwer nimmt, und wir werden zügig unglaublich albern. Nachdem die Mägen wieder mit den gewohnt fleisch- und käselastigen Speisen gefüllt sind, geht es wieder besser und wir besteigen etwas ausgeruhter den Bus nach Prešov.
Das Hotel in Prešov ist das erste und das einzige auf der Reise, das nicht modern und schön wäre. Verwöhnt von den vorigen Unterkünften können wir uns eines leisen Erstaunens nicht erwehren, als der Bus an einem waschechten Plattenbau hält. Die Einrichtung in den Zimmern wirkt ebenfalls wie ein Relikt aus dem Sozialismus. Die meisten von uns sind sich jedoch einig, dass es nichts zu meckern gibt. Die Betten sind bequem, es ist nicht ungepflegt und überhaupt hätte man ja sonst schon fast vergessen, dass man in Ostmitteleuropa unterwegs ist. In der Tat scheint die Slowakei in vielerlei Hinsicht mitten in Europa angekommen zu sein – Schengen, Euro und Turbokapitalismus haben das ihrige dazu getan. In den nächsten Tagen werden uns jedoch noch einige Menschen und Situationen begegnen, die auch die Rückstände des Landes aufzeigen. All das ist jedoch weit weg, als ich auf dem Balkon unseres kargen Zimmers stehe und in den Sonnenuntergang schaue. In der Ferne auf einem Hügel ragt ein hübscher Kirchturm in den Himmel. Während die Sonne rot am Horizont untergeht, wird seine Silhouette immer schwärzer und schwärzer. Angesichts dieses ausgesprochen romantischen Naturschauspiels fallen die Plattenbauten in direkter Umgebung kaum mehr ins Gewicht.
Am nächsten Tag haben wir morgens Programm an der Universität und eine ausgesprochen schlechte Stadtführung. Das ist schade, lieber hätten wir uns die Stadt unter diesen Umständen unabhängig angeschaut, aber man kann ja vorher nicht wissen, wer so etwas gut macht und wer nicht.
Umso spannender wird der Nachmittag. Wir treffen uns mit Roman Čonka, dem Chefredakteur der Romazeitung Romsky Novy List. Er stößt beim Mittagessen zu uns, und als er den Raum betritt, kann ich erst gar nicht zuordnen, wer dieser indisch aussehende Mensch sein mag. Er hat ein gutes Gesicht und eine feine, höfliche, jedoch entschiedene Stimme. Martin übersetzt ins Deutsche, was uns Herr Čonka auf Slowakisch erzählt. In einer unserer Fragen geht es um die Sprache in der Zeitung. Martin übersetzt: „Die meisten Artikel sind auf Slowakisch, weil eben viele Roma nicht lesen können…“ und korrigiert sich sofort: „… nicht Romani lesen können.“ Eine Auseinandersetzung mit der Minderheit der Roma ist hier zwangsläufig politisch stark aufgeladen. Ein harmloser Versprecher kann einem sehr unangenehm sein. Dies ist umso mehr der Fall, dass wir am Morgen im Gespräch mit den slowakischen Studierenden befremdliche Reaktionen auf das Thema der Roma erfahren haben. Glaubt man einigen Aussagen, so geht es den Roma im Gefängnis sowieso am besten. Abgesehen davon werden die Roma ohnehin nie als solche bezeichnet, stattdessen ist der gute alte „Zigeuner“ gängig. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Mangel kultureller Sensibilität bei manchen meiner Bekanntschaften in Ungarn und wünschte, ich hätte ein Rezept, Vorurteile und Ressentiments einfach auszuradieren. Mir fällt jedoch nichts anderes ein als Bildungsarbeit. Die wird laut Roman Čonka auch betrieben – aber weit kann es damit noch nicht sein, wenn junge Akademiker ein so eingeschränktes Bild von dieser großen Minderheit im eigenen Land haben.
Wir gehen anschließend ins Russinentheater. Die Russinen oder Ruthenen sind eine weitere Minderheit in der Slowakei und eine ostslavische Bevölkerungsgruppe, den Ukrainern verwandt. In dem kleinen Theater werden Stücke auf Ukrainisch und Russinisch gespielt. Der Herr vom Theater spricht ebenfalls russinisch mit uns – es hört sich an wie panslavisch, ein bisschen ukrainisch, ein bisschen russisch, ein bisschen polnisch, ein bisschen slowakisch. Ich schaue mir die Requisiten am Rand der Bühne an – ein Pferdekopf, Ritterrüstungen, ein Thron. Über der Bühne hängt ein verschlissener roter Vorhang, dahinter ein transparentes schwarzes Rollo mit einem Hügelmuster darauf. Der Scheinwerfer dahinter wirft sein fahles Licht auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

Dolny Kubin / Oravska Dedina / Liptovsky Mikulas / Kezmarok

In Dolny Kubin kommen wir abends um 10 im Dunkeln an. Nach dem frühlingshaft warmen Wetter in Krakow ist die Kälte der Hohen Tatra beißend und durchdringend. Am nächsten Morgen werden wir davon geweckt, dass die Sonne unsere Nasenspitzen durchs Fenster kitzelt. Am Horizont liegen die schneebedeckten Berge.
Nachmittags besichtigen wir die Bibliothek des Stadtmuseums mit ihren alten Handschriften und Inkunabeln. Eine Lutherbibel liegt auf dem Ausstellungstisch, deren bloße Anwesenheit mich ganz nervös macht. Sie hat einen geprägten Schnitt, der in blassen Farben rot und blau ausgemalt ist. Die schweren Metallbeschläge auf dem wachsartigen Einband verleihen dem Buch eine uralte Würde. Ich kann meinen Blick darauf nur als ehrfurchtsvoll beschreiben.
Wir bekommen eine Führung auf dem Friedhof. Die Gräber der berühmten Persönlichkeiten sind hier ausgeschildert wie Sehenswürdigkeiten in einer Großstadt, dabei ist das Gelände ziemlich klein. Am Hang gelegen kann man vom Eingang aus den ganzen Friedhof überblicken. Direkt unterhalb verläuft eine große Straße. Der Lärm der vorbeibrausenden Autos ist an jedem Grab zu hören. Er stört den Frieden des Ortes. Trotzdem mag ich die Atmosphäre. Die kleinen Wege und die Gräber sind gerade so sehr verwildert, dass der Charme erhalten bleibt, der Friedhöfen eben eigen ist. Ein bisschen windschief und moosbewachsen. Es duftet nach Frühling.
Am nächsten Morgen brechen wir auf zur nächsten Station. Wir fahren zum Muzeum Oravskej Dediny. Die Straße führt durch eine neblige Landschaft, die ein bisschen trostlos ist. Im Somme, wenn die Felder grün sind, ist es sicher wunderschön. Jetzt ist alles grau und braun. Nur die Schneegipfel in der Ferne glitzern. Das letzte Stück der Straße hinter Zuberec ist von dichten schwarzen Nadelwäldern gesäumt. Beim Freilichtmuseum steigen wir aus. Die Luft ist hier ganz anders – Bergluft. Wir hören schon das Rauschen des Studeny Potok, des Gebirgsbaches, der durch das Dorf mit den vielen kleinen Holzhäusern fließt. Zwei riesenhafte Graugänse stehen stoisch auf dem kleinen Pfad. In den Häusern ist die originale Einrichtung erhalten. Dicke weiche Federbetten liegen auf den Fensterbrettern. Ein großer Webstuhl in einer Ecke des Zimmers, ein Spinnrad in der anderen. Hübsch bestickte Tischdecken auf den geschnitzten Holztischen. Gröbere Gerätschaften in der Nebenkammer. Die Ursprünglichkeit und die Ruhe des Ortes tut mir gut. Ich könnte hier viel Zeit verbringen. Ich freue mich über einen kurzen Moment der Stille am Eingang der Holzkirche aus dem 15. Jahrhundert. Die bunten Malereien an der Decke und am Geländer der Empore stimmen mich fröhlich und andächtig zugleich. Viel zu früh besteigen wir wieder den Bus nach Liptovsky Mikulas.
Hier bekommen wir eine Stadtführung mit dem Maler Jaroslav Uhel. Er zeigt uns die jüdische Synagoge, deren große Halle in einem schlechten Zustand ist, jedoch gerade durch die abblätternde Farbe die morbide Stimmung in mir hervorruft, die ich schon bei meinen ersten Polenaufenthalten so geliebt habe. Säulen aus rotem Marmor und blaue Ornamente an den Wänden werden durch goldene Verzierungen ergänzt, eine ähnliche Farbgebung wie der Schnitt der Lutherbibel in Dolny Kubin. Martin und Stefan singen zweistimmig ein Lied. Meshiach wird kummen. Mehr verstehe ich nicht, aber der Klang des Jiddischen hallt sanft in mir nach. Es hört sich so ewig an.
Anschließend dürfen wir mit in Herrn Uhels Atelier. Kaum durch die Tür getreten duftet es schon nach Ölfarben und Zigarettenrauch. Augenblicklich schlägt die Stimmung in heiter Ausgelassenheit um. Ehefrau und Tochter des Künstlers servieren Slivovica, Wein, Schafskäse und Baguetteschnittchen mit deftiger Wurst und Olive. Die Krönung: der Honigkuchen, süß und saftig. Uhel zeigt uns seine Kunstwerke und spricht über die Methoden und Konzepte seiner Kunst. Auf der Fensterbank steht ein Kakteenwald. Bananenkisten und Dutzende von Gemäden auf dem Fußboden. Tuben, Tiegel und Töpfe, Pinsel und Staffeleien auf dem riesigen Tapeziertisch, der fast das ganze Zimmer füllt. Wir dürfen alles anfassen, inmitten des kreativen Chaos sitzen wir dicht gedrängt auf mit Ölfarbe bemalten Holzstühlen, trinken und essen, rauchen und singen schließlich slavische Volkslieder aus voller Kehle. Das Leben ist bunt und leicht in diesem Moment.
Schon am nächsten Tag geht es weiter nach Kezmarok, sicherlich die schönste Stadt bis jetzt. Die kleinen bunten Bürgerhäuser in der Fußgängerzone erinnern mich an Ungarn. Die Burg steht stolz am Stadtrand. Unter den vielen Ausstellungsräumen finde ich die alte Apotheke mit ihren schweren dunklen Schränken am schönsten. Giftschränkchen und eine winzige homöopathische Hausapotheke, Waagen und viele viele kleine Glasflaschen in den Regalen. Wir besichtigen auch die beiden evangelischen Kirchen. Die neue imponiert durch ihre Größe, wirkt auf mich jedoch kühl und geradezu steril. Die kleine alte Holzkirche dagegen besticht durch ihre prachtvoll bemalten Wände. Sie wirkt fast gar nicht evangelisch, und doch fehlt der Pomp, der mich in katholischen Kirchen oft befremdet. Ich empfinde sie als einen zutiefst spirituellen Ort, der warm ist trotz der kalten Temparatur und der den Besucher sofort willkommen heißen will.
Abends stehen fast alle von uns auf der Hotelterasse und trinken miteinander Slivovica. Mit einer Gruppe von 17 Leuten ist es hier schon richtig voll. Ich spiele mit meinem Handy Musik und wir tanzen zu Goran Bregovic und Marek Grechuta. Es entwickeln sich Gespräche, die lustig und ernsthaft sind, die nachdenklich machen und zu lautem Lachen verleiten. Bis halb 1 stehen wir unter dem klaren Sternenhimmel und liegen uns zwischenzeitlich singend und tanzend alle in den Armen. Musik hat diese besondere Kraft, dass sie Menschen zusammenbringt. Es ist ein großes Glück, mit Gleichgesinnten ein neues Land zu entdecken.

Kraków

Als ich das erste Mal nach Kraków kam, war ich seit 13 Jahren nicht in Polen gewesen, lernte aber schon seit fast 2 Jahren die Sprache. Ich war aufgeregt und neugierig auf dieses Land, von dem ich nurmehr dunkle Erinnerungen an einen Kindheitsurlaub in mir trug, von dem ich mich aber doch entschieden hatte, es durch das Studium der Polonistik zu einem Teil meines Lebens zu machen. Damals stieg ich aus dem Bus vom Flughafen aus, direkt an den Planty, und lief den Kirchtuermen nach ich die Richtung, in der ich die Innenstadt vermutete. Mein Weg fuehrte mich ueber die Floriańska direkt auf den Rynek, den grossen Hauptmarkt. Meine Beine trugen mich, als kennten sie den Weg, als seien sie ihn schon hundertmal gelaufen. Maechtig ueberfiel mich ploetzlich das Gefuehl, als sei ich hier schon einmal gewesen. Ueberall war Musik. Bilder von Kaffeehaeusern mit schweren roten Samtvorhaengen zogen an meinem inneren Auge vorbei, wie ich sie spaeter im Cafe Singer in Kazimierz, dem alten juedischen Teil von Kraków, tatsaechlich erleben sollte. Es war als ob meine Seele die Stadt aus einem frueheren Leben wiedererkannte. Ich war auf eine seltsame Art und Weise nach hause gekommen.
Wenn mich heute Freunde fragen, warum ich diese Stadt so liebe, kann ich es nur mit dieser ersten Erfahrung begruenden. Ohnehin finde ich die Frage jedoch seltsam. Wie kann man Kraków nicht sofort ins Herz schliessen?
Ich komme erneut in Kraków an und die Sonne scheint, als wuerde sie dafuer bezahlt. Mit Paweł und Paulina setze ich mich auf dem Rynek in die Sonne und trinke Kaffee. Spaeter setzen Paulina und ich uns an die Wisła, die Weichsel, die unter dem Schlosshuegel ihre maechtige Kurve zieht und stolz und ruhig an uns vorbeifliesst, als koennte sie niemals grau und wild werden und ueber die Ufer treten. Ueber auf dem Wawel steht das Schloss mit der Kathedrale. Die Schoenheit greift mir ans Herz. Ich habe mich hier wirklich niemals fremd gefuehlt.
Abends gehen wir im Klezmer Hois in Kazimierz juedisch essen. Im Nebenraum beginnt ein Klezmerkonzert. Wir stellen uns in den Tuerrahmen und sehen verstohlen zu. Vor einem dunkelroten filigranen Vorhang mit goldenen Blattornamenten steht ein Kontrabassist, daneben sitzt ein Akkordeonspieler. Die dritte im Bunde ist eine junge Frau mit einer Geige. Sie spielen suess und schwungvoll, lebendig und melancholisch. Hava Nagila. Bei mir bist du scheen. Wenn die Frau ihre Geige absetzt, tut sie es, um die Harmonie der Instrumente um ihre Stimme zu bereichern. Sie ist tief und samten, wie dunkles Holz. Steinerne Saeulen, gehaekelte Spitzendeckchen. Die tiefe Stimme beginnt zu seufzen, hoch und jazzig, wie es im Klezmer sonst die Klarinette tut. Ich will auch seufzen. Kraków, du Zauberstadt.

Sofia / Prishtina / Peja / Prizren / Niš

Von Istanbul nach Sofia zu kommen ist ein Schock. Nach der menschlichen und klimatischen Waerme in der Tuerkei ist die bulgarische Hauptstadt grau und kalt. Ich habe zwar im Nachtbus gut geschlafen, bin aber einfach kaputt von der Reise – ich bin Istanbul-verkatert. Ich schlafe sogar fuer 20 Minuten am Anfang des Fussballspiels Deutschland – England einfach ein. Dafuer bin ich abends aufgedreht und feiere mit vielen Reisenden im Hostel bis spaet in die Nacht. Mein Rhytmus ist voellig durcheinander. Auch das gehoert zum Reisen dazu.
Am zweiten Tag in Sofia schaue ich mir die Stadt an. Sie ist viel huebscher als alle immer sagen, und die Sonne scheint auch wieder.

Die gelbe Kopfsteinpflasterstrasse, die an allen huebschen Gebaeuden vorbeilaeuft, zwingt zur Referenz auf den Zauberer von Oz. Mir fehlen nur Dorothys rote Schuhe. Abends gibt es wieder viele spannende Geschichten im Hostel auszutauschen. Ein Schwede radelt von Stockholm nach Jordanien. Ein Amerikaner ist gestrandet, weil er sein Visum fuer die Tuerkei ueberschritten hat und nun nicht zurueck kann. Vier Maedels aus Hamburg haben gerade Abitur gemacht und strahlen die besondere Lebensfreude aus, die einem das Bewusstsein von Freiheit nach dem Schulabschluss gibt.

Am naechsten Tag fahre ich nach Skopje. An der Grenze zu Mazedonien behalten sie das erste Mal meinen Pass ein. Sie winken mich raus und zeigen immer wieder auf das Deckblatt. Ja, da steht „Reisepass“ drauf… Ich verstehe gar nicht, was los ist, bis einer von den Grenzern zum anderen etwas sagt, was ich deute als: „Und in Albanien war sie auch!!“ Ich denke: Mann, so ein Mist, daran wollen sie sich doch jetzt nicht aufhaengen? Ich versuche auf serbisch meine Reiseroute zu erklaeren. Endlich winken die Grenzer ab und geben mir meinen Pass wieder. Viele Mitreisende fragen mich auf deutsch, ob alles klar ist, und regen sich fuerchterlich auf. „Keiner versteht unsere Grenzbeamten,“ sagt eine junger Mann, „das ist nicht nur die Sprachbarriere fuer dich.“ In Skopje bleibe noch einmal eine Nacht bei Mariska. Sie hat noch zwei deutsche Maedels zu besuch und wir schnacken den Abend so weg. Am Tag darauf geht es in den Kosovo.

Von Skopje nach Prishtina zu kommen ist ganz einfach. An der Grenze fragt mich der Beamte nur kurz was ich hier mache und wuenscht mir dann sehr hoeflich einen schoenen Aufenthalt.
Prishtina ist grau und hat ein fieses Verkehrschaos, aber die Stimmung in der Fussgaengerzone ist, als waere Jahrmarkt. Ueberall wird sinnloses Spielzeug verkauft und es faellt sofort ins Auge, dass der Altersdurchschnitt in diesem Land bei 25 liegt. Aeltere Menschen scheint es nicht zu geben, geschweige denn alte. Kinder dagegen – ueberall! Sie rennen und spielen und schreien, dass es eine Freude ist. Englisch ist allgegenwaertig, das Land ist voll von internationalen jungen Leuten, die fuer die NGOs taetig sind, die sich hier nach dem Krieg angesiedelt haben. Die Kosovaren in den Cafes lachen auch wie Kinder – unverschmutzt, ehrlich, offen.
Mein Eindruck ist vor allem: Das hier ist nicht Serbien. Es ist auch nicht Albanien. Es ist Kosovo. Vermutlich sagen die Serben, dass man in anderen Laendern auch regionale Unterschiede bemerkt, aber Kosovo einfach weiter als Serbien zu bezeichnen erscheint mir absurd. In Peja und Prizren, den zwei Staedten, die ich besuche, bekomme ich allerdings auch ausgebombte serbische Haeuser zu Gesicht. Da wird es leichter, auch diese Perspektive zu begreifen. Es gibt in dieser Region nie das reine Opfer und den reinen Taeter. Alle Seiten haben sich gegenseitig unendliches Leid zugefuegt.
Peja erinnert an Ulcinj in Montenegro und an Novi Pazar in Serbien. Ich trinke Cappuccino in einem Strassencafe. Es giesst in Stroemen. Vor der Terrasse ist ein Brunnen. Das Wasser zum Kaffee holt der Kellner mit dem Glas von dort, er haelt es einfach in den Strahl und stellt es mir triefend nass auf den Tisch. Dazu grinst er wie ein kleiner Junge. Dann faellt der Strom aus. Alles ist chaotisch. Keiner stoert sich daran.

Prizren ist die huebscheste Stadt, die ich in Kosovo sehe. Ich steige mit einem Amerikaner, den ich im Bus kennen lerne, hoch zur serbisch-orthodoxen Kirche. Meterhoher Stacheldraht und KFOR-Wachschutz. Wir duerfen nicht hinein.

Wieder unten in der Stadt zeigt uns der Pfarrer, den zwei Jugendliche fuer uns herbeigeholt haben, die katholische Kirche. Dort ist kein Wachschutz noetig, „aber,“ sagt der Pfarrer in exzellentem Deutsch, „meiner Meinung nach brauchen auch die serbischen Kirchen keinen Wachschutz.“ Er erzaehlt ein bisschen schuechtern, aber sehr lebendig von der Kirche und der Gemeinde. Im Kirchhof bluehen gelborangerot die Rosen.

In jedem Cafe in Prishtina lerne ich jemanden kennen. Das Fussballspiel gegen Argentinien schaue ich im Irish Pub zwischen lauter Deutschen, es ist wie zuhause, alle liegen sich in den Armen und singen und jubeln und fluchen. Abends gehen wir auf Parties von den Kollegen meiner Couchsurfing-Gastgeberin Claire, essen herrliches albanisches Essen oder trinken Kaffee in einem internationalen Buchladen mit Gastronomie. Krieg? Bitte, das ist 10 Jahre her! Am eindruecklichsten erinnern die Bilder der Vermissten an einem Bretterzaun in der Innenstadt und die Denkmaeler, an denen man im Bus auf dem Weg nach Peja oder Prizren vorbeifaehrt, daran.

Das Lebensgefuehl in diesem Land trifft mich als zukunftsorientiert und froehlich. Hier muss man alle paar Jahre hinkommen und schauen, wie sich alles veraendert – das geht sicher rasend schnell!

Von Prishtina fahre ich nach vier Tagen ueber Skopje nach Niš in Serbien. Die Sonne brennt, als ich vom Busbahnhof zum Hostel laufe – ich frage drei verschiedene Leute nach dem Weg, alle auf serbisch. Keiner kann mir helfen, aber alle reden mit mir und verstehen mich gut und ich finde das Hostel dann schliesslich von ganz alleine. Ich gehe frueh schlafen, ich habe noch was aufzuholen.
Am naechsten Tag ist das Wetter wieder wunderbar. Ich liege zwei Stunden auf einer Bank in der Burganlage und werde braun. Danach trinke ich am Ufer des Flusses Kaffee. Neben mir sprechen sie in einer Gruppe von etwa 10 jungen Leuten deutsch. Dann fangen sie an zu singen! Mehrstimmig! A capella! Mit Stimmgabel und allem! Natuerlich komme ich sofort mit einem von den Jungs ins Gespraech. Wir singen gemeinsam Brahms. Sie sind von einem europaeischen Jugendchor und haben am Samstag ein Konzert hier in Niš. Abends gehe ich erst mit den anderen Leuten aus dem Hostel essen, danach mit den Chorleuten was trinken. Ich kann mich nur immer wieder fragen, wie Leute auf die Idee kommen koennen, dass ich einsam oder gelangweilt sein koennte. Absurd.

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