Es ist ein kalter Nachmittag im Februar, und ich laufe durch meinen Kiez nach Hause. Ich habe mich gegen den Bus entschieden, weil der um diese Zeit immer grauenhaft voll ist und sich unangenehm durch die Rush Hour ruckelt, so dass mir zwischen den behornbrillten Hipstern mit Jutebeuteln, den bekopftuchten Muttis mit Einkaufskörben und den bezahnspangten Schulkindern mit Primark-Tüten immer ein bisschen übel wird. Also laufe ich, und da ich heute keine Termine mehr habe, gerate ich ins Schlendern und Spazieren, mein Gang wird langsamer, gemütlicher, und obwohl mein kalter Atem an meinem Schal unangenehm kondensiert, genieße ich die frische Winterluft und die Tatsache, dass ich Zeit habe und mich nichts zur Eile antreibt.

Und in diesen Genuss hinein geschieht etwas.

Ohne es mir vorgenommen oder es bewusst herbeigeführt zu haben, ist mir, als sei in meiner Wahrnehmung ein Schalter umgelegt, und ich sehe die Straße, als sei sie mir völlig unbekannt. Plötzlich laufe ich nicht mehr hier entlang, weil ich nicht gerne Bus fahre, sondern deswegen, weil ich neugierig bin, wie diese Stadt aussieht, wie es sich anfühlt, hier zu flanieren, und welchen Eindruck die Menschen machen, die hierher gehören. Ich schaue auf alles von außen, als sei ich lediglich ein Gast, ein Fremdkörper, der nur kurze Zeit zu Besuch ist. Ich begreife, dass ich gerade auf meinen Stadtteil so schaue, wie ich auf fremde Städte schaue, wenn ich sie bereise. Plötzlich bin ich aufgeregt. Und ich beginne, zu staunen.

Die Straße brummt und surrt mit geschäftigem Leben. Sie kommt mir beinahe südeuropäisch vor. Mütter rufen ihre Kinder zu sich oder versuchen, trotz der Baustelle, die die halbe Straße aufgerissen hat, mit ihren Kinderwagen heil den Bürgersteig entlang zu balancieren. Im Gewühl kann man kaum einzelne Menschen ausmachen, sie verschwimmen zu einer amorphen Masse der Geschäftigkeit. Ich sehe eine Gleichzeitigkeit von tausend Empfindungen. Viele gehen konzentriert und mit versteinerten Gesichtern zielstrebig und eilig an mir vorbei. Diejenigen, die in Gesellschaft unterwegs sind, lächeln viel, ins Gespräch vertieft. Manche starren im Laufen auf ihre Telephone, einer läuft beinahe gegen einen Laternenpfahl. Ich wünsche ihm, dass die Informationen auf seinem Bildschirm das rechtfertigen – dass er vielleicht frisch verliebte Nachrichten von seiner neuen Freundin liest und ihn nicht etwa Stress auf der Arbeit so beschäftigt.

Es reiht sich Secondhandladen an An- und Verkauf an Dönerladen an 99-Cent-Laden. Das Gewühl um mich hallt wider von eine Unzahl fremder Sprachen. Die Hipster sprechen Deutsch oder Englisch, viele mit irgendeinem Akzent. Ich höre Kroatisch, Polnisch, Türkisch, Arabisch und viel, das ich nicht identifizieren kann. Modische lange Mäntel und dicke Daunenjacken, wunderschöne Kopftücher und bunte Bommelmützen wechseln sich ab. Ein Schmelztiegel. Ein wunderbarer, lebendiger, herrlicher Schmelztiegel. Wie oft laufe ich hindurch und bin genervt von Menschen, die mir im Weg sind, ohne auch nur einen davon wahrzunehmen.

Ich biege ab in eine ruhigere Seitenstraße mit hübschem Kopfsteinpflaster. Wunderschöne, wenn auch teils unrestaurierte Jahrhundertwendefassaden schauen auf mich herab, und ich möchte nochmal bei Tageslicht wiederkommen, denn es ist schon ziemlich dunkel. Hipstercafe um Hipstercafe strahlt warmes Licht durch die großen Fenster auf den Bürgersteig, und ich möchte am liebsten in jedem einen Tee trinken. Sonst denke ich oft bei Neuentdeckungen dieser Art, dass ich zu wenig Zeit habe, sie alle auszuprobieren, und ärgere mich. Aber nicht heute. Durch die Fensterscheiben sieht man, dass alle gut besucht sind. Da sind Freunde ins Gespräch vertieft, man sieht an ihrer Körperhaltung, dass sie sich nahestehen. In vielen Cafes sitzen vereinzelte Menschen an ihren Laptops und tippen eifrig. In einem Laden spielen welche Kicker mit viel Körpereinsatz. In einem anderen sitzen sie vor einer uralten Spielkonsole, die an einen winzigen Röhrenfernseher angeschlossen ist.

Wie oft ich mich gezwungen fühle , ein bestimmtes Lebensgefühl wie dieses zu ironisieren… „Ja, alles wahnsinnig retro und vintage, und lauter Menschen, die sich alle furchtbar wichtig nehmen,“ denke ich dann. Wahrscheinlich stimmt das auch. Aber es ist schön, sich einfach mal aus allem rauszunehmen und zu bestaunen, wie es eigentlich läuft hier. Ohne es zu verurteilen. Ohne es zynisch zu drehen. Stattdessen zu versuchen, die ganz eigene Schönheit zu entdecken, die den Ort ausmacht, den man jeden Tag achtlos kreuz und quer durchwandert. Wie wirkt er wohl auf jemanden, der hier nur zu Besuch ist? Wie euphorisch, wie begeistert steht vielleicht jemand vor einem der Secondhandläden, vor der Nintendo 64 im Cafe oder auf dem Kopfsteinpflaster im Angesicht des summenden, sirrenen Chaos, das so weit weg zu sein scheint von den kühlen preußischen Schinkelbauten in Mitte?

Ich staune über das, was meinen Alltag ausmacht. Und ich bin glücklich, dass ich das noch kann. Wir sehen uns zu oft genötigt, uns hart zu machen gegen die Welt, unempfänglich für ihre Wunder, weil wir glauben, uns schützen zu müssen. Aber ein kleines unvoreingenommenes Staunen, das kann ein großes Lächeln aufs Gesicht zaubern.